Während er schlief, lernte er etwas Neues. Alles, was er erlebte, war neu für ihn, aber diese Erfahrung war auf eine erschreckende Art anders als die wirkliche Welt zuvor. Er träumte.
Es war kein angenehmer Traum. Und er hatte keinerlei Gestalt. Er sah Bilder, hörte Geräusche und empfand Gefühle, die ihm allesamt fremd und unbekannt waren und die doch eines gemeinsam hatten: Sie lehrten ihn eine andere Dimension des Schreckens, gegen den es keine Gegenwehr gab, bis die Furcht schließlich so groß wurde, dass er mit einem Schrei die Lider hob und sich aufsetzte.
Sein Herz raste und mehr noch hämmerten seine Gedanken. In seinen Ohren war noch immer das Brüllen des Sturmes. Er war nicht mehr da, aber seine Stimme war zurückgeblieben und er konnte spüren, wie der Boden unter ihm immer noch sacht unter der Wucht der Brandung vibrierte. Bilder, Erinnerung und Fetzen seines gestaltlosen Traumes vermengten sich hinter seiner Stirn zu einem sinnverwirrenden Wirbel, der ihn im ersten Moment schwindeln ließ.
Er hatte sich zu schnell aufgesetzt. Die ungewohnte Helligkeit schmerzte in seinen Augen, und das Echo einer Stimme die ihn aus seinem Traum heraus ins Wachsein verfolgt hatte, klang noch in seinen Ohren nach. Er konnte sich nicht erinnern, was sie gesagt hatte, aber es war die gleiche Stimme, die er schon in der Nacht gehört hatte. Die Stimme eines Gottes, die jede Faser seines Körpers durchdrang und gegen die es keinen Widerspruch gab.
Hastig schloss er die Augen, stützte sich mit den Handflächen am Boden auf und wartete, bis sich das Schwindelgefühl legte. Erst dann wagte er es, die Lider wieder zu heben, immer noch mit klopfendem Herzen und darauf gefasst, ja, für einen kurzen Moment sogar davon überzeugt, die Ungeheuer aus seinem Traum zu gewahren, die die Grenzen zur Wirklichkeit überschritten hatten: etwas Schwarzes, Chitinglänzendes, Hartes, mit dünnen Spinngliedern und starrenden, großen Augen, in denen das Wissen um alle Geheimnisse schlummerte, die ihm noch verborgen waren; und die er auch gar nicht kennen wollte. Aber da war nichts. Die Sternenbestie war nicht da.
Unendlich vorsichtig wandte er den Kopf und sah sich um. Der Traum war vorüber und die Sonne stand als glühender, orangefarbener Ball bereits einen Fingerbreit über dem Horizont im Osten, über einer dunkelblauen, geraden Linie, die ihr Spiegelbild verzerrt und silberdurchwoben zurückwarf. Im ersten Moment glaubte er aufs offene Meer hinauszublicken, doch dann wurde ihm klar, dass die Schatten dafür zu hart und die Spiegelungen zu matt waren. Es war hitzeflimmernde Luft, die über dem Land im Osten kochte und so Trugbilder und Visionen entstehen ließ. Der Tag war angebrochen und es war bereits jetzt sehr heiß. Er musste sehr lange hier gelegen und geschlafen haben.
Der Gedanke erschreckte ihn. Er war vollkommen hilflos gewesen; schutz- und wehrlos jedem Raubtier oder jedem Feind ausgeliefert, der sich angeschlichen hätte. Eine weitere Erinnerung, die plötzlich da war: Er wusste nicht, wer sie waren und warum es sie gab, aber er wusste, dass er Feinde hatte. Gefährliche Feinde.
Behutsam setzte er sich weiter auf, rieb sich in einer Bewegung, der er sich nicht einmal bewusst war, Schmutz und Sand von den Schultern und aus dem Gesicht und setzte unterdessen seine Musterung der Umgebung fort: Er war allein und er hatte sich in mehr als einer Beziehung getäuscht. Was er in der Nacht für einen Strand gehalten hatte, das war das Ufer eines großen Sees, dessen Oberfläche noch immer in schäumender weißer Gischt kochte, obwohl der Sturm endgültig erloschen und die Luft fast unbewegt war. Das dröhnende Vibrieren, das er immer noch hörte und spürte, war die Stimme eines gigantischen Wasserfalles, der zwei oder vielleicht auch drei oder noch mehr Meilen entfernt aus einer fast absurden Höhe herabstürzte: hunderte von Manneslängen, wie es ihm vorkam.
Er beschattete die Augen mit der Hand, blinzelte zu der Klippe hinauf und glaubte bizarre, dunkle Umrisse gegen den Himmel zu erkennen, fast zu regelmäßig, um von der Hand der Natur erschaffen worden zu sein, aber auch zu abstrakt, als dass sie das Werk von Menschen sein konnten. Vielleicht Ruinen. Vielleicht die Burg des zornigen Gottes, der ihn aus seinem Leben gerissen und an dieses Ufer geschleudert hatte.
Er war dort oben gestorben.
Der Gedanke stand ganz klar und jenseits jedes Zweifels hinter seiner Stirn und er dachte ihn vollkommen ohne Schrecken oder gar Angst. Wie auch? Er wusste so wenig über das Leben, wie konnte ihn da der Tod erschrecken? Es hatte hier geendet. Und hier begann es.
Er versuchte eine Weile mehr Einzelheiten zu erkennen, denn er spürte, dass die Schatten da oben wichtig waren, gab es aber schließlich auf. Die Erinnerungen würden zurückkommen, aber sie ließen sich nicht herbeizwingen. Obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war, war ihr Licht bereits sengend und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er blinzelte ein paarmal, drehte sich wieder in die entgegengesetzte Richtung und sah auf das Ufer hinab. Das Ufer, das aus in zähem Lehm eingebetteten Felsen bestand, hätte jede Spur getreulich bewahrt, doch die einzigen Fußabdrücke, die er sah, waren seine eigenen.
Seltsam. Er hatte die Stimme ganz deutlich gehört. Aber genauso deutlich war auch, dass niemand ihm auch nur nahe gekommen war, um mit ihm zu reden.
Niemand zumindest, der Spuren hinterließ.
Vielleicht war die Stimme doch nur Teil seines Traumes gewesen, so wie seine Angst und die spinnengliedrige, dunkle Kreatur. Er erinnerte sich nicht wirklich daran, ebenso wenig wie an das, was diesem Bild vorangegangen war. Da waren verschwommene Eindrücke, nebelhaft und nicht ganz real - sein Kampf gegen das Wasser, der Weg durch die Brandung, die Klippen. Aber wie war er ins Wasser gekommen? Hatte er Schiffbruch erlitten oder war er durch eine Ungeschicklichkeit ins Wasser gefallen oder ... Langsam. Beantworte eine Frage nach der anderen und versuche nicht Probleme zu lösen, bevor du sie überhaupt erkennst.
Das war nicht mehr die unheimliche Stimme aus seinem Traum. Er erinnerte sich noch immer nicht genau an das, was sie gesagt hatte, glaubte aber zu spüren, dass es eine Art Warnung gewesen war. Es war seine eigene Stimme; ein Teil von ihm, der logischer und sachlicher dachte, als er erwartet hatte.
Und so ganz nebenbei Recht hatte.
Er sollte versuchen sich zu erinnern, wer er war, bevor er darüber nachdachte, wie er hierher kam und wo dieses hier überhaupt war.
Ninga. Der Sturz von Ninga. So nannten die Menschen diesen gigantischen Wasserfall. Ein weiterer Erinnerungsfetzen, der plötzlich da war. Ihm folgte kein weiterer und er versuchte auch nicht noch einmal sie mit Gewalt herbeizuzwingen. Seine Vergangenheit war in eine Million Scherben zersprungen und vielleicht hatte es einen Sinn, dass er die einzelnen Stücke nur nacheinander fand.
Er schloss wieder die Augen, stützte das Kinn auf die angezogenen Knie und atmete tief und sehr bewusst ein und wieder aus. Die Luft, die vom Wasser heraufstieg, schmeckte bitter, aber sie war auch sehr kalt, und nachdem er seinen Körper einmal gezwungen hatte sie zu inhalieren, spürte er, wie die Kälte das Durcheinander hinter seiner Stirn zu lichten begann. Was sich einstellte, war auch jetzt nur Leere, kein Wissen, aber er war nicht enttäuscht. Seine Erinnerungen kehrten zurück. Langsam, aber sie kehrten zurück.
Er wandte wieder den Kopf und sah zum Wasserfall hin, der ihm nun noch größer und Furcht einflößender erschien als zuvor.
Langsam richtete er sich auf. Er begann zumindest zu ahnen, was mit ihm geschehen war. Die Erklärung war ebenso simpel wie beruhigend: Er hatte sein Gedächtnis verloren und damit seine Vergangenheit und auch alles, was er einmal gewesen war. Aber immerhin war er am Leben und er war nicht so schwer verletzt, dass er sich nicht bewegen konnte oder auch nur in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war.
Er drehte sich einmal im Kreis, überzeugte sich erneut - und diesmal sehr viel gründlicher - davon, dass das Ufer außer seinen eigenen auch wirklich keine Spuren aufwies, und tat schließlich das, was er eigentlich als Erstes nach seinem Erwachen hätte tun sollen: Er unterzog seinen Körper einer gründlichen Inspektion.
Seine Haut war überall zerschunden. Er war mit blauen Flecken und Quetschungen übersät, hatte Schürfwunden an Armen und Beinen davongetragen und außerdem war er nackt. Das Wasser musste ihm wohl die Kleider vom Leib gerissen haben.
Vorsichtig, mit spitzen Fingern, betastete er die größeren Verletzungen. Es tat weh, aber mehr auch nicht. Ihm war nichts Ernsthaftes zugestoßen. Keine Brüche oder Verstauchungen, die ihn in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätten. Er hatte Glück gehabt. Die Schrammen und kleinen Schnitte würden schon in wenigen Tagen verschwunden sein und auch die größeren Verletzungen bald verheilen. Bei allem war nichts, worüber er sich Sorgen machen musste.
Der Gedanke beruhigte ihn und er war ein weiteres Teil, das er dem zerbrochenen Bild in seinem Inneren hinzufügte. Offensichtlich kannte er sich mit Wunden und Verletzungen in einem gewissen Maß aus. Ganz intuitiv war er davon überzeugt, dass er das Ergebnis seiner Untersuchung nicht anzweifeln musste.
Aber wieso war er sich eigentlich so sicher?
War er vielleicht ein Heiler gewesen?
Kaum.
Er betrachtete sich erneut und war zugleich überrascht und beruhigt von dem, was er sah. Er war nicht außergewöhnlich groß, aber von kräftiger Statur. Seine Muskeln waren gut trainiert; die Muskeln eines Mannes, der stets darauf geachtet hatte, in körperlich guter Verfassung zu bleiben, und seine Hände waren nicht die eines Heilers. Heiler hatten feingliedrige, geschickte Finger. Seine waren groß und grob. Hände, die zuzupacken wussten und die Hände eines Arbeiters oder Bauern sein mochten. Nur, dass sie nicht die Zeichen schwerer Arbeit trugen. Er hatte keine Schwielen, dafür jedoch die eine oder andere Narbe, die Spuren älterer und tieferer Verletzungen waren als die, die er gestern Nacht davongetragen hatte.
Die Hände eines Kriegers?
Die Stimme, die er während seines Erwachens zu hören geglaubt hatte, hatte ihn Satai genannt.
Ja.
Satai.
Er erinnerte sich jetzt daran. Er wusste nicht wirklich, was dieses Wort bedeutete, aber es rührte etwas in ihm an, etwas Vertrautes und Altbekanntes. Er schüttelte den Kopf, lächelte dabei flüchtig und hob die Hand an die Wange; in einer Bewegung, die unbewusst und so vertraut war, als hätte er sie das ganze Leben lang, an das er sich nicht erinnerte, immer und immer wieder gemacht. Seine Fingerspitzen tasteten über eine dünne Narbe, die sich von seinem linken Mundwinkel in einer gezackten Linie über die Wange bis zum Auge hinaufzog.
Es war ein sehr vertrautes Gefühl. Beinahe musste er lächeln, während er die Hand wieder senkte. Nein, er musste sich keine Sorgen machen. Seine Erinnerungen kamen bereits wieder zurück, auf Umwegen und nicht so, wie er es gerne gehabt hätte, aber sie kamen zurück.
Langsam drehte er sich herum und begann in nördlicher Richtung loszumarschieren, auf den Wasserfall und die gewaltige Klippe zu, über die er stürzte. Die Sonne stieg allmählich höher, es wurde immer wärmer. Im Moment empfand er diese Wärme noch als sehr angenehm; sein Körper sog die Wärme fast gierig in sich auf, und es war, als könnte er die Kraft der Sonnenstrahlen sofort und ohne Umwege in die so dringend benötigte Energie umwandeln. Seine Bewegungen wurden allmählich geschmeidiger und seine Schritte waren jetzt leicht, schnell und sehr zielgerichtet. Aber er wusste auch, dass der Tag bald unerträglich heiß und die Sonne, die ihm jetzt noch wie ein Verbündeter erschien, zu seinem Feind werden würde. Obwohl er in der vergangenen Nacht nicht nur durch den See geschwommen war, sondern auch einen gut Teil davon getrunken hatte, war er schon jetzt wieder durstig. Sein Gaumen fühlte sich geschwollen und pelzig an und er hatte einen bitteren, ungewöhnlichen Geschmack auf der Zunge, der auf eine unmöglich in Worte zu fassende Weise mit dem verblassenden Gefühl von Müdigkeit und Schwäche in seinen Gliedern korrespondierte. Durst war jedoch nicht sein Problem. Es gab Wasser im Überfluss, aber er brauchte Nahrung und viel dringender noch Schatten oder wenigstens etwas, womit er seine Haut bedecken konnte, um nicht zu verbrennen. Weit und breit gab es jedoch nur Felsen, zwischen denen nichts weiter als dürres Gestrüpp wucherte; drahtige Ranken mit Dornen und Spitzen, an denen man sich üble Verletzungen einhandeln konnte. Die Natur in diesem Teil der Welt war feindselig und wusste sich zu wehren. Aber sie war nicht überall so.
Er hob den Kopf. Auf der Klippe über ihm schimmerte ein dünner, dunkelgrüner Streifen, der Schatten und Sicherheit zu versprechen schien, aber ihm war klar, dass seine Kräfte niemals ausreichten, dort hinaufzusteigen. Nicht in seinem jetzigen Zustand.
Ein Vogel schrie.
Er suchte aus zusammengekniffenen Augen den Himmel ab und entdeckte einen winzigen Punkt, der weit über ihm seine Kreise zog, dann einen zweiten. Als er ihrer Bahn folgte, gewahrte er nicht einmal weit entfernt einen vielleicht mannshohen Felsen, auf dem einige Möwenpaare nisteten. Er marschierte darauf zu, kletterte mit einiger Mühe und einem Gefühl des Ärgers über seine eigene Unzulänglichkeit hinauf und fand mehr als ein Dutzend Eier in den Nestern. Beinahe gierig nahm er eines nach dem anderen heraus, drückte mit dem Fingernagel die gefleckte Schale ein und schluckte den Dotter herunter. Die Möwen umtanzten ihn kreischend, und ein besonders mutiges Tier stürzte sich auf ihn und versuchte ihn von seinem Gelege zu verjagen.
Er schlug nach ihm. Nicht einmal wirklich mit der Absicht es zu treffen, doch der Hieb war so schnell und so unerwartet kraftvoll, dass sein Handrücken die Möwe im Flug traf und auf den Fels herabschmetterte. Das Tier kreischte erschrocken und versuchte ungeschickt und mit schlagenden Flügeln sich aufzurichten, doch auch seine nächste Bewegung war von einer Schnelligkeit, die ihn selbst am meisten überraschte. Blitzartig packte er zu, brach dem Tier das Genick und begann schnell und ohne wirklich darüber nachzudenken den Kadaver zu rupfen.
Die Möwe war nicht besonders groß und er hatte kein Werkzeug, um sie auszunehmen, sodass er auf Finger und Zähne angewiesen blieb und nur einen kleinen Teil des Fleisches roh herunterschlingen konnte. Der Geschmack war ekelhaft, aber er brachte auch Leben und frische Energie, die ihn seinen Widerwillen vergessen ließen. Außerdem hatte sein Hunger mittlerweile die Grenze zwischen Unbehagen und Schmerz überschritten und er ahnte auch, dass noch viel größere Anstrengungen vor ihm lagen, sodass er sich zwang weiterzuessen, bis das wütende Rumoren in seinem Magen nachließ. Danach schleuderte er die Reste des toten Vogels so weit von sich, wie er nur konnte.
Mit einer Mischung aus Überraschung und Ekel betrachtete er seine blutigen Hände, ein wenig erschrocken über seine eigene Schnelligkeit, viel mehr aber noch über die Art, auf die er reagiert hatte. Blitzartig und richtig und ohne auch nur über das nachzudenken, was er tat. Vielleicht hatte ja der Hunger seine Reaktion diktiert, aber er wusste nun, was er war: Sein Hieb war die kompromisslose Reaktion eines Kriegers gewesen. Ein weiteres wertvolles Stück in dem Mosaik in seinem Kopf, das er zusammensetzen musste.
Sein Hunger war halbwegs gestillt, aber er nahm trotzdem auch noch die letzten Eier aus dem Nest - wenn auch mehr, um den widerwärtigen Geschmack nach rohem Fleisch zu vertreiben - und leerte sie auf die gleiche Weise wie die zuvor. Der schlechte Geschmack blieb jedoch in seinem Mund. Obwohl ihm die Erinnerung an sein Essen ein mittlerweile fast körperliches Gefühl von Ekel bescherte, wusste er doch zugleich, dass er schon Schlimmeres gegessen hatte. Was zählte, war Überleben, sonst nichts.
Möglicherweise würde ihm das, woran er sich so verzweifelt zu erinnern versuchte, nicht sehr gefallen. Vielleicht war der Grund, aus dem er sich nicht mehr an sein bisheriges Leben erinnern konnte, ganz einfach der, dass er es nicht wollte.
Er sprang mit einer kraftvollen Bewegung vom Felsen herunter, drehte sich einmal im Kreis und marschierte in der einzigen Richtung los, die sinnvoll, war: weiter am See entlang und auf die Klippe zu. Er wusste nicht, ob es eine Möglichkeit gab, sie zu ersteigen, aber irgendwie musste er dort hinauf.
Während er mit schnellen, aber Kräfte sparenden Schritten am Ufer entlangging, sah er wieder zu der gezackten Schattenlinie empor, die zwischen den sprühenden Gischtwolken am oberen Rand des Wasserfalles aufragte. Es erschien ihm fast unmöglich - die Strömung dort oben musste unvorstellbar sein -, aber die Gebäude schienen direkt in den Wasserfall hineingebaut zu sein. Ganz davon abgesehen, dass dies kaum möglich war, fragte er sich, welchen Sinn ein solches Bauwerk gehabt hätte. Wozu den Urgewalten der Natur trotzen, wenn es keinerlei Nutzen dabei gab?
Er war der Klippe kaum näher als vorhin, aber er konnte sie nun trotzdem deutlicher erkennen. Es waren Ruinen, ganz ohne Zweifel: zerborstende Mauern, die einst zinnengekrönt gewesen waren, höhere Bögen gemauerter Brücken, die nun im Nichts endeten, eingestürzte Kuppeln, die sich wie versteinerte Fäuste in den Himmel reckten. Obwohl er sie im Gegenlicht kaum deutlicher denn als Schatten erkennen konnte und ihm die Helligkeit immer wieder die Tränen in die Augen trieb, konnte er doch sehen, dass sie aus einem schwarzen, sonderbaren Stein bestanden, der irgendwie das Licht zu schlucken schien. Er wusste, dass er härter war als Stahl, härter als jedes andere Material, das es auf dieser Welt gab, selbst härter als Diamant. Wenn die Linie aus dunklem Grün, die den Wasserfall säumte, aus Bäumen oder auch nur aus mannshohem Gebüsch bestand, dann mussten ihre Dimensionen wahrhaft gewaltig sein. Dann fiel ihm der logische Fehler in diesem Gedanken auf: Wenn schon nicht ihre Form, so konnte zumindest die Beschaffenheit dieser Ruinen über die große Entfernung unmöglich zu erkennen sein. Was er sah, war nicht wirklich das, was er sah, sondern das, woran er sich erinnerte. Er war schon einmal dort gewesen. In diesen zyklopischen Ruinen war etwas geschehen, etwas, das für sein bisheriges Leben von ebenso großer Bedeutung gewesen war, wie es jetzt keine Rolle mehr spielte. Nichts, was immer er gewesen war oder getan hatte, spielte noch irgendeine Rolle. Ein weiteres Bruchstück gesellte sich zu dem Bild, das in seinem Kopf allmählich Gestalt anzunehmen begann: Er war nicht aus freien Stücken hier, sondern geschickt worden. Um etwas zu tun. Er wusste nicht, was, geschweige denn, von wem, aber er wusste plötzlich, dass es nicht wirklich etwas mit ihm zu tun hatte. Er war nur ein Werkzeug, willkürlich ausgewählt und ohne seine Zustimmung einzuholen.
Wenn er seine eigene Reaktion aus der vergangenen Nacht bedachte, dann hätte ihn diese Erkenntnis eigentlich zornig machen sollen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er hatte einen Teil des Schleiers, der vor seinen Erinnerungen lag, gelüftet. Nicht viel. Nicht einmal einen Zipfel, der ausreichte, um hindurchzublicken, oder auch nur zu erahnen, was auf der anderen Seite lag. Aber er hatte begonnen zu einem ganz kleinen Stückchen wieder der Mann zu sein, der er einmal gewesen war. Ein Mann, der niemals aufgab und der an seinen Gegnern wuchs, statt daran zu zerbrechen. Der kämpfen und siegen, aber auch verlieren gewohnt war, und der mit einer Niederlage ebenso umzugehen wusste wie mit einem Sieg.
Er verschob die Lösung dieses Problems auf später. Er konnte nicht gegen jemanden kämpfen, den er nicht einmal kannte.
Ganz allmählich begann er sich der Klippe zu nähern. Er marschierte eine gute Stunde, dann eine zweite, in der die Sonne langsam weiter am Himmel emporstieg, und mit jedem Stück, dass sie zurücklegte, mehr an Kraft zu gewinnen schien. Obwohl das Ufer auch hier von scharfkantigen Felsen gesäumt war und die Oberfläche des Sees unter der Wucht des niederstürzenden Wassers schäumte und brodelte, kletterte er in dieser Zeit zwei- oder dreimal zum Wasser hinab, um seinen Durst zu löschen. Die Linderung, die er dabei verspürte, war eine gefährliche Täuschung, das war ihm klar; er hatte bereits jetzt einen Sonnenbrand auf Schultern und Nacken, der sich im Moment nur als lästiges Kribbeln bemerkbar machte, spätestens in der kommenden Nacht aber wirklich unangenehm werden musste. Dazu kam, dass das grelle Licht seine Sehfähigkeit beeinträchtigte. Er beschleunigte seine Schritte, obwohl ihm klar war, dass das bisschen an Schnelligkeit, das er dabei gewann, das Mehr an Kraft nicht aufwog, das ihn die schnelle Gangart kostete.
Er war sehr hungrig. Die barbarische Mahlzeit vom Morgen hatte nur seinen Magen beruhigt, nicht aber seinen Hunger gestillt. Er musste die Klippe oder wenigstens irgendeinen Schatten erreichen, bevor die Sonne noch höher stieg. Ein Sonnenbrand konnte durchaus tödlich sein.
Er blickte nach links auf die brodelnde Oberfläche des Sees hinab. Der Gedanke, in unmittelbarer Nähe dieser gewaltigen Menge Wassers einen Hitzschlag zu erleiden oder sich lebensgefährliche Verbrennungen zuzuziehen, war geradezu lächerlich, zugleich aber auch bitter ernst. Schwert und Faust waren nicht die einzigen Waffen, die einen Krieger töten konnten. Viel gefährlicher war es, seine eigenen Grenzen nicht zu kennen oder die teilnahmslosen Gewalten der Natur zu unterschätzen.
Er balancierte ein weiteres Mal zum See hinunter, löschte ausgiebig seinen Durst und schöpfte eine Hand voll Wasser, um sein Gesicht zu kühlen. Er widerstand bewusst der Versuchung, sich Wasser über Kopf und Schultern zu gießen, um seinen Sonnenbrand zu kühlen. Die Tropfen, die unweigerlich auf seiner Haut zurückbleiben mussten, würden wie kleine Brenngläser wirken und ihm nur eine Illusion von Linderung verschaffen, für die er teuer bezahlen musste.
Nach einer weiteren Stunde erreichte er die Felswand. Schon von weitem konnte er sehen, dass seine Hoffnungen enttäuscht wurden. Dort, wo sie nicht von Gischt und niederstürzendem Wasser verborgen wurde, ragte die natürlich gewachsene Mauer so glatt und fugenlos in die Höhe, als wäre sie von einem Riesen poliert worden. Nirgendwo gab es einen Spalt, nicht die kleinste Unebenheit, die auch nur genug Schatten gespendet hätte, um sich vor der Sonnenglut zu verkriechen. Ein geschickter Kletterer hätte sie sicherlich ersteigen können, wäre sie nur ein Zehntel so hoch gewesen, wie sie es nun einmal war, und der Stein nicht ganz so schlüpfrig und nass. Es auch nur zu versuchen, war der reine Selbstmord.
Die Felswand erstreckte sich zur Rechten, so weit sein Blick reichte und vermutlich noch ein gutes Stück darüber hinaus. Links, über dem See, verschwand sie hinter einem glitzernden Vorhang aus Wasser, der brüllend aus der Höhe herabstürzte und dessen Wucht den Boden unter seinen Füßen ununterbrochen erzittern ließ. Das Dröhnen des Wasserfalls war so gewaltig geworden, dass es seine Ohren fast betäubte, und er bewegte sich nun durch einen Nebel aus unendlich feiner Gischt, der sich wie ein dünner glitzernder Film auf seine Haut legte.
Je näher er dem Wasserfall kam, desto schwieriger wurde es, von der Stelle zu kommen. Der Boden bestand hier nur noch aus nacktem Fels, auf dem nicht einmal die kleinste Spur von Leben Fuß gefasst hatte. Das Wasser machte ihn schlüpfrig wie Glas und die scharfen Kanten taten seinen nackten Füßen weh. Er war dem Wasserfall jetzt so nahe, dass er die Ruinen an seinem Rand kaum noch erkennen konnte. Trotzdem konnte er sehen, dass er sich in ihrer Größe getäuscht hatte.
Sie waren noch weitaus titanischer, als es von weitem ausgesehen hatte. Und auch die Zerstörungen waren schlimmer, als es bisher den Anschein gehabt hatte.
Er blieb stehen, unschlüssig, was er tun sollte, aber auch beunruhigt. Die stiebende Gischt, die ihn einhüllte, gab ihm ein wenig Schutz vor der Sonne, aber er konnte nicht ewig hier bleiben. Sollte sich die Wand als wirklich unbesteigbar erweisen, dann hatte er ein Problem - vorsichtig ausgedrückt. Der tiefer gelegene Teil des Landes, in dem der See und die felsige Ebene lagen, schien vollkommen unfruchtbar zu sein. So weit sein Blick reichte, konnte er nichts als schwarzen Fels und von der Sonne zu steinerner Härte zusammengebackenes Erdreich erkennen. Irgendwo, tief in ihm, war zwar das Wissen, dass diese Ebene nicht endlos war. Der Fluss führte fast in gerader Linie nach Süden und in fruchtbare Gebiete. Aber das war nicht die Richtung, in der sein Ziel lag - ganz davon abgesehen, dass er vermutlich den Abend nicht erleben würde, wenn er versuchte nackt durch diese Sonnenglut zu marschieren.
Nein - er musste dort hinauf, irgendwie.
Er wich wieder um einige Dutzend Schritte zurück, legte den Kopf in den Nacken und beschattete die Augen mit der Hand, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Er war nicht ganz sicher, ob es ihm gelang. Dort oben schien sich etwas zu bewegen, aber es mochte ebenso gut eine Täuschung sein, hervorgerufen durch das grelle Licht und die wehenden Gischtschleier, die die Sonnenstrahlen brachen und alle Konturen zu verwischen schienen, als hätte sich die Welt dort oben aufgelöst, sodass die Dinge ineinander zu fließen begannen.
Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, blinzelte ein paarmal und sah abermals nach oben. Diesmal war er fast sicher eine Bewegung am oberen Rand der Klippe wahrzunehmen. Aber die Entfernung war einfach zu groß, um Einzelheiten zu erkennen. Er schüttelte resignierend den Kopf, wandte sich wieder um und sah noch in der Drehung eine Bewegung aus den Augenwinkeln.
Ein winziger Punkt hatte sich vom oberen Rand der Klippe gelöst. Er stürzte rasch in die Tiefe - nicht direkt auf ihn zu, aber doch in seine Richtung -, verschwand für die Dauer eines Herzschlages hinter einem Vorhang aus nebeliger weißer Gischt und zerfiel in zwei Teile, als er wieder auftauchte.
Es waren zwei Körper. Sie bewegten sich rasch auseinander und schienen immer schneller zu werden, während sie sich dem Boden näherten. Trotzdem schien der Sturz endlos zu dauern. Er fragte sich, wie es sein musste, mit dem absurden Wissen um den eigenen Tod dem Boden entgegenzurasen und nichts, absolut nichts dagegen tun zu können.
Wenigstens ging es schnell. Der Sturz der beiden Körper kam ihm endlos vor, aber in Wahrheit dauerte er nur wenige Sekunden. Eine der beiden Gestalten kam dem stürzenden Wasser zu nahe und wurde von der glitzernden Wand einfach verschlungen, die andere stürzte fünfzig oder sechzig Meter entfernt in den See und wurde von einem Berg aus weißem Schaum verschlungen. Zweifellos hatte ihn schon der Aufschlag getötet. Bei einem Sturz aus dieser Höhe war selbst Wasser nur wenig weicher als Stahl.
Trotzdem lief er mit schnellen Schritten zum Ufer hinab und überlegte für einen Moment ganz ernsthaft dem Mann nachzuspringen.
Natürlich tat er es nicht. Es wäre Selbstmord gewesen und noch dazu sinnlos. Der Mann konnte nicht mehr leben. Es war absurd, aber er fühlte sich in diesem Moment schuldig - weil er einfach dagestanden und zugesehen hatte, wie die beiden Männer in den Tod stürzten. Natürlich hätte er nichts tun können. Die beiden Männer waren im gleichen Moment tot gewesen, in dem sie der Klippe zu nahe gekommen und abgestürzt waren. Nicht einmal ein Gott hätte sie danach noch retten können, und er war kein Gott.
Er blieb lange dicht am Ufer stehen und blickte auf das schäumende Wasser hinaus, aber der Leichnam des Fremden tauchte nicht auf. Vielleicht würde es Tage dauern, bis das Wasser ihn freigab; vielleicht auch nie. Er wusste, dass dieser See sehr tief war. Das Wasser hatte Millionen Jahre Zeit gehabt sich in den Boden zu graben und es hatte diese Zeit weidlich genutzt. Die Strömung war selbst hier, fast eine halbe Meile von dem Punkt entfernt, an dem das Wasser in den See stürzte, noch so stark, dass der See zu kochen schien. Es gab Unterströmungen und Wirbel, die den Toten meilenweit davontragen konnten, bevor er wieder an die Oberfläche kam. Es war sinnlos, weiter hier am Ufer zu stehen. Vielleicht gelang es ihm ja, den zweiten Leichnam zu finden. Der Wasserfall hatte ihn ergriffen, aber er war nicht ins Zentrum der reißenden Flut gezogen worden. Möglicherweise war er auf dem Ufer aufgeschlagen oder wenigstens nahe genug am Ufer, um nicht von der Strömung ergriffen und fortgetragen zu werden. Die Wahrscheinlichkeit war so gering, dass der Gedanke allein ihm schon fast lächerlich vorkam - aber was hatte er zu verlieren? Wenn er den Toten fand, würde ihm vielleicht allein seine Kleidung Aufschluss darüber geben, wo er war. Er spürte, dass seine Erinnerungen jetzt mit immer größerer Macht zurückkommen wollten. Vielleicht bedurfte es nur noch eines kleinen Stoßes, um die Mauer in seinem Bewusstsein endgültig einzureißen.
Vorsichtig kletterte er über die scharfkantigen Felsen wieder nach oben und näherte sich der Wand. Der Wasserfall fächerte in seinem unteren Drittel ein wenig auseinander, was dem Wasser zwar ein gut Teil seiner Wucht nahm, aber auch dafür sorgte, dass er das Ufer nicht ganz einsehen konnte. Auf den letzten Metern würde er sich fast blind durch die Gischt tasten müssen, was mit einem gewissen Risiko verbunden war. Trotzdem zögerte er keinen Sekundenbruchteil. Seine Schritte wurden ganz im Gegenteil sogar schneller. Er hatte eine Aufgabe, auch wenn sie nur daraus bestand, einen vermutlich bis zur Unkenntlichkeit zerschmetterten Leichnam zu bergen. Es war ein Anfang. Ein sehr mühevoller Anfang, wie sich herausstellte. Seine Vermutung, dass es unmittelbar am Fuß der Klippe eine Zone gab, in der das Wasser relativ ruhig war, gehörte wohl eher in die Kategorie Erinnerung als Annahme, aber auch der Weg war so schwierig, wie er befürchtet hatte. Obwohl er sehr vorsichtig ging, glitt er auf den nassen Felsen ein paarmal aus und einmal wäre er um ein Haar ins Wasser gestürzt. Als er die Felswand erreichte, blutete er aus zwei oder drei neuen Wunden und war vollkommen außer Atem. Die Gischt, die ihn umgab, war so dicht, dass er das Gefühl hatte Wasser zu atmen und immer öfter hustete. Und der Weg war nach wie vor lebensgefährlich. Hier und da stürzten glitzernde Wassersäulen vom Himmel, die schäumend im See verschwanden oder auf den Felsen vor ihm auseinander barsten. Selbst die Spritzer, die ihn trafen, waren spitz und schmerzhaft wie Nadelstiche.
Dann trat er jäh aus dem Wasservorhang heraus und fand sich in einem schmalen, lang gestreckten Bereich fast vollkommener Ruhe wieder; wie im Auge des Orkans, nur dass die entfesselten Elemente rings um ihn herum flüssig waren. Er fand den Toten nicht, aber der Anblick, der sich ihm bot, war so grandios, dass er ihn für den mühevollen Weg entschädigt hätte, wäre er in der Stimmung dazu gewesen.
Über ihm erhob sich ein gewaltiger, schmaler Dom, dessen eine Wand von glitzernden Felsen gebildet wurde, in die Millionen winziger Kristalleinschlüsse eingebettet waren. Die Wand zur Linken erschien kaum weniger massiv, obwohl sie nicht aus fester Materie, sondern aus Wasser bestand, das brüllend und mit ebenso unvorstellbarer Geschwindigkeit wie Wucht direkt aus dem Himmel herabzustürzen schien. Er befand sich hinter dem Wasserfall. Und er war offensichtlich nicht der erste Mensch, der hierher kam. Möglicherweise war dieser ganze Ort gar nicht durch eine Laune der Natur entstanden, sondern künstlich erschaffen worden, denn es gab einen schmalen, ohne Unterbrechung eine knappe Handbreit über dem Wasser entlangführenden Pfad, der dem Fuß der Felswand folgte und in schwer zu schätzender Entfernung in dunstiger Gischt verschwand. Er war zu gleichmäßig und zu gerade, um auf natürliche Weise entstanden zu sein. Jemand hatte ihn gemacht.
Trotzdem zögerte er ihn zu betreten. Der Stein war schlüpfrig und nass und der Pfad an manchen Stellen kaum breiter als zwei nebeneinander gelegte Hände. Ihn entlangzugehen war mit Sicherheit nicht ungefährlich und möglicherweise führte er nur zum anderen Rand des Wasserfalls. Den Toten würde er nicht mehr finden, und auch, wenn er immer noch nicht wusste, warum er eigentlich hier war, so ganz bestimmt nicht aus dem Grund, die Schönheiten der Natur zu bestaunen oder sich einen möglicherweise seit Jahrtausenden vergessenen Zeremonienplatz anzusehen, den die Priester eines längst untergegangenen Ordens hier hinter dem Wasserfall versteckt hatten. Er trat zwei Schritte weit auf das schmale Steinband hinaus und blieb dann wieder stehen, unschlüssig, was er tun sollte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen und es ging viel zu schnell, als dass er noch hätte reagieren können. Er hatte einen flüchtigen Eindruck von etwas Großem, Dunklem, das sich unter der Wasseroberfläche auf ihn zubewegte, dann barst das Wasser direkt neben ihm auseinander und eine gewaltige Hand schoss empor und klammerte sich um seinen Knöchel. Er warf sich instinktiv nach hinten, drehte sich noch in der Bewegung herum und stieß die Hände nach vorne, um sich irgendwo festzuklammern. Seine Linke stieß ins Leere, Finger und Nägel scharrten hilflos über spiegelglatten, nassen Fels, an dem nicht einmal eine Fliege Halt gefunden hätte, aber seine andere Hand bekam einen vorspringenden Stein zu fassen und klammerte sich mit aller Gewalt daran fest.
Im nächsten Moment schrie er vor Schmerz auf. Sein Bein wurde mit einem brutalen Ruck von dem Felsband herunter und ins Wasser gezerrt. Ein grauenhafter Schmerz explodierte in seiner Hüfte und fast im gleichen Moment auch in seinem Schultergelenk, als sein Körper auf eine fast unmögliche Weise verdreht und gleichzeitig weiter zum Wasser hinuntergezerrt wurde. Die Muskeln in seinem rechten Arm schienen zu zerreißen. Verzweifelt warf er sich herum, ignorierte mit zusammengebissenen Zähnen den neuen, vielleicht noch schlimmeren Schmerz, der von seinem Rückgrat ausstrahlte und binnen weniger Augenblicke seinen gesamten Körper ergriff und versuchte, sich auch mit der anderen Hand festzuklammern. Seine Rechte pulsierte vor Schmerz; Muskeln und Sehnen waren längst überdehnt und selbst seine Knochen schienen unter der Belastung zu ächzen. Nur noch wenige Augenblicke und seine Kräfte würden versagen und er würde einfach ins Wasser hinabgezerrt werden und ertrinken.
Mit dem dritten Anlauf erst gelang es ihm, den vorspringenden Stein auch mit der anderen Hand zu ergreifen, sodass er den rechten Arm ein wenig entlasten konnte. Nicht einmal sehr, aber immerhin weit genug, dass er nicht mehr vor Schmerz wimmerte und jeden Moment damit rechnete, dass seine Muskeln und Sehnen einfach zerrissen. Er versuchte seinen Körper so weit zu drehen, dass der mörderische Druck auf sein Rückgrat ein wenig gemildert wurde, doch es gelang ihm nicht. Sein rechtes Bein war bis über das Knie im Wasser verschwunden und der andere Fuß scharrte hilflos über den Fels. In der unglücklichen Haltung, in der er mehr kniete als stand, gelang es ihm einfach nicht, sich hinlänglich abzustützen, um die benötigte Hebelwirkung aufzubringen.
Aber er musste es. Er konnte die Hand, die ihn gepackt hatte, nicht mehr sehen, aber dafür spürte er sie umso deutlicher. Ihr Griff war wie Stahl. Allein die Vorstellung, sich daraus befreien zu wollen, erschien ihm lächerlich.
Trotzdem versuchte er es. Die Kraft, die seinen Muskeln innewohnte, war gewaltig, aber sie war längst nicht alles. Tief in ihm war das Wissen verborgen, wie er sich das noch viel größere, schier unerschöpfliche Reservoir an Energie nutzbar machen konnte, das in jedem Menschen war, ohne dass die meisten von ihnen Zeit ihres Lebens auch nur etwas davon ahnten. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und spürte, wie ihn eine sonderbare Ruhe und Gelassenheit überkamen, gepaart mit einer Woge neuer Stärke und dem unbändigen Willen zu überleben. Der Schmerz in seinem Rücken und seinen Oberarmen war immer noch da, aber er schien irgendwie seine Macht über ihn verloren zu haben. Statt ihn Kraft zu kosten, gab er ihm neue Energie. Auch das war ein Teil seines alten Lebens, an den er sich plötzlich und fast zusammenhangslos wieder erinnerte: Er hatte gelernt aus Schmerz Zorn und aus diesem Zorn Kraft zu machen.
Fast zu seinem eigenen Erstaunen funktionierte es. Der Schmerz war noch da, aber plötzlich irrelevant. Seine Muskeln kreischten protestierend, gehorchten seinem Willen aber trotzdem und zwangen ihn Zoll für Zoll in die Höhe. Der Druck auf seine verdrehte Wirbelsäule wurde dadurch noch größer, aber er ignorierte auch diese neuerliche Qual und fand ganz im Gegenteil mit dem freien Fuß plötzlich eine stabile Position, aus der heraus er sich weiter nach oben drücken konnte. Der mörderische Griff um seinen rechten Knöchel lockerte sich nicht, aber plötzlich war er es, der den unbekannten Angreifer weiter nach oben zerrte, statt umgekehrt. Sein Bein tauchte allmählich wieder aus dem Wasser auf, und als er den Blick senkte, konnte er die Hand, die ihn gepackt hielt, auch wieder sehen; vielleicht zum ersten Mal wirklich deutlich.
Sie war noch riesiger, als er im ersten Moment geglaubt hatte - bald doppelt so groß wie seine eigene - und er war gewiss nicht zart gebaut -, und mit dunkelgrünen, harten Schuppen bedeckt. Die Nägel waren kurz und rund, aber scharf wie Messer und hatten bereits eine Anzahl kleiner tiefer Wunden in seine Haut gegraben. Es war nicht die Hand eines Menschen, so wenig wie der Arm und die Schulter, die kurz darauf aus dem Wasser auftauchten, einem Menschen gehörten ...
Der Anblick des Geschöpfes erfüllte ihn mit einem solchen Entsetzen, dass er für einen Moment in seiner Konzentration nachließ; vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber trotzdem zu lang. Er fiel schmerzhaft wieder auf ein Knie herab. Sein rechtes Bein versank erneut und noch tiefer im Wasser, dann glitten seine Finger hilflos von dem Stein ab, an den er sich geklammert hatte. Er kippte nach hinten und schrie auf, hörte aber nicht einmal seinen eigenen Schrei, denn der Laut wurde einfach von seinen Lippen gerissen und vom Dröhnen des Wasserfalls übertönt, und im nächsten Moment wurde er von dem Ungeheuer, das ihn gepackt hielt, weiter unter Wasser und in die Tiefe gezerrt.
Er schluckte Wasser, würgte krampfhaft und widerstand im letzten Moment dem Impuls aufzuschreien und auf diese Weise auch noch das letzte bisschen kostbare Atemluft zu verlieren. Verzweifelt schlug und trat er um sich und er spürte auch, dass er traf. Sein linker, freier Fuß hämmerte zwei- oder dreimal mit furchtbarer Gewalt in das Gesicht des geschuppten Kolosses, aber die erhoffte Wirkung blieb aus; das Wasser nahm seinen Tritten den Großteil ihrer Kraft, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätte der Gigant seinen Angriff vermutlich kaum gespürt. Dafür wurde er immer tiefer und tiefer unter Wasser gezerrt. Auf seinen Ohren lag mittlerweile ein spürbarer Druck und er konnte die Wasseroberfläche über sich kaum noch sehen. In seinen Lungen war kaum noch Atemluft. Wenn es ihm nicht gelang, sich in den nächsten Augenblicken zu befreien, würde er ertrinken, selbst wenn das Ungeheuer ihn losließ. Etwas berührte seinen Rücken und seine Seite, strich über sein Gesicht und schien sich um seine Arme wickeln zu wollen, und er hatte einen flüchtigen Eindruck von etwas Dunklem, Wehendem, das mit einem Male rings um ihn herum im Wasser war. Tang oder Schlingpflanzen; er war schon zu tief unter Wasser, um Einzelheiten zu erkennen, und er hatte auch keine Zeit sich darum zu kümmern. Seine Lungen kreischten vor Schmerz und seine Kräfte begannen bereits zu erlahmen. Er krümmte sich, griff nach unten und versuchte, die geschuppten Finger zurückzubiegen, die sich um sein Fußgelenk gekrallt hatten. Ebenso gut hätte er versuchen können Stahl mit bloßen Händen zu zerbrechen. Der Griff des Ungeheuers war unerbittlich und er wurde immer weiter und weiter in die Tiefe gezerrt. Der schwarze Tang machte alles noch schlimmer. Er wickelte sich um seine Arme und Beine, schien ihn in seinen Würgegriff ziehen zu wollen und peitschte in sein Gesicht. Es war, als hätte er seinen eigenen, bewussten Willen, einen gelenkten, boshaften Intellekt, der darauf zugerichtet war, sein Opfer zu packen und unbarmherzig weiter in die Tiefe zu zerren. Dann geschah etwas, was schlagartig klar machte, dass genau das der Fall war: Ein Dutzend oder mehr der schwarzen Fangarme schossen blitzartig aus der Dunkelheit unter ihm herauf, wickelten sich wie Peitschenschnüre um Arme, Hals und Kopf der geschuppten Kreatur und rissen sie mit brutaler Kraft weiter in die Tiefe. Was seinen verzweifelten Anstrengungen nicht gelungen war, geschah nun im Bruchteil einer Sekunde: Die Klaue löste sich mit einem letzten, brutalen Ruck von seinem Bein und er war frei.
Aber vielleicht war es bereits zu spät. Die Wasseroberfläche hatte sich in einen kochenden weißen Himmel aus Schaum und wütender Bewegung verwandelt, der unendlich weit über ihm zu sein schien. Unsichtbare Hände von unvorstellbarer Kraft zerrten ihn herum, wirbelten ihn um seine eigene Achse und drückten ihn immer noch weiter nach unten. Sein verzweifelter Kampf hatte ihn genau unter den Wasserfall gebracht. Was dem Ungeheuer nicht gelungen war, das würden die Naturkräfte nun zu Ende bringen: Er würde ertrinken. Die Atemnot war jetzt schon unerträglich. Aus dem Brennen in seinen Lungen war ein brüllender Schmerz geworden und seine Gedanken begannen sich zu verwirren.
Immerhin sah er noch, dass seine Vermutung richtig gewesen war: Bei dem schwarzen Geflecht handelte es sich keineswegs um Tang oder irgendeine andere Wasserpflanze, sondern um Tentakel. Einige von ihnen waren so dick wie sein Arm, andere so dünn wie sein kleiner Finger oder peitschend wie Haar, das sich im Wind bewegte: die Fangarme eines bizarren Ungeheuers, das am Grunde des Sees lauerte und nach der geschuppten Kreatur auch ihn verschlingen würde, sobald er ertrunken war.
Stattdessen geschah das Gegenteil. Erneut schossen Dutzende von Fangarmen aus der Tiefe empor, wickelten sich um seine Arme und Beine und rissen ihn mit unvorstellbarer Kraft in die Höhe, direkt hinein in die brodelnde Hölle aus tobendem Schaum und reiner Bewegung. Er wurde emporgerissen, war für den Bruchteil eines Augenblickes über Wasser und tauchte wieder in die schäumende Gischt ein, noch bevor es ihm gelang, Atem zu holen. Er wehrte sich, kämpfte gegen jede Logik und mit der schieren Kraft der Verzweiflung gegen die beiden seelenlosen Gewalten an, die ihn zu vernichten suchten - das tobende Wasser und den Würgegriff der Tentakel -, und wusste doch, dass es vollkommen sinnlos war. Er würde noch eine Sekunde durchhalten, vielleicht zwei. Seine Lungen schienen mit brodelnder Lava gefüllt zu sein, Feuer floss durch seine Adern, und ein weiß glühender Schmerz aus reiner Pein hatte sich um seine Brust gelegt und zog sich enger und enger zusammen.
Dann ergriff ihn die Hand eines Riesen, riss ihn mit unvorstellbarer Gewalt aus dem Wasser und schleuderte ihn im hohen Bogen auf das Ufer hinauf. Er war zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, um den Sturz irgendwie abzufangen oder auch nur schützend die Hände vor das Gesicht zu reißen. Er schlug mit solcher Wucht zwischen den Felsen auf, dass er für einige Sekunden tatsächlich das Bewusstsein verlor.
Als er erwachte, lag er mit dem Gesicht nach unten zwischen den Felsen. Er bekam wieder Luft, aber jeder Atemzug brannte wie Feuer in seinen Lungen und allein die Vorstellung sich zu bewegen, bereitete ihm schon fast Übelkeit. In seinem Körper schien kein einziger Muskel zu sein, der nicht gequetscht, und nicht eine einzige Sehne, die nicht überdehnt oder gezerrt war. Stöhnend wälzte er sich auf den Rücken, stemmte sich auf die Ellbogen hoch und sah an sich herab.
Im ersten Moment erschrak er. Er sah aus, als wäre er gehäutet worden. Was auf den ersten Blick jedoch wie eine Unzahl blutiger Wundmale aussah, erwies sich bei näherem Hinsehen als ein Durcheinander sich überschneidender Striemen und roter Druckstellen.
Erst jetzt erinnerte er sich wieder an die Fangarme, die ihn gepackt und die geschuppte Kreatur in die Tiefe gezerrt hatten. Ein kurzer, aber eisiger Schauer rann seinen Rücken hinab. Er hatte mehr als nur Glück gehabt. Hätte das Ungeheuer nicht die Schuppenkreatur als Erstes ergriffen, dann läge er jetzt vermutlich auf dem Grund des Sees, um als willkommene Zwischenmahlzeit verdaut zu werden ...
Wahrscheinlich war es unnötig. Trotzdem kroch er ein kleines Stück weiter das Ufer hinauf, sodass seine Beine nicht mehr im Wasser hingen, ehe er es wagte, sich weiter aufzurichten und sich umzusehen. Er war nicht allzu weit von der Stelle entfernt, an der er ins Wasser gefallen war, aber auf der anderen Seite des Wasserfalls. Die Strömung und das blinde Wüten des Ungeheuers hatten ihn unter dem tödlichen Wasservorhang hindurchgezogen.
Erneut wurde ihm klar, welch unglaubliches Glück er gehabt hatte. Er befand sich weit am Rande des Wasserfalls. Selbst hier hatte das Wasser, das aus der Höhe herabstürzte, schon ungeheure Kraft. Weiter zur Mitte der Felswand und des Sees hin musste sie hundertmal so stark sein. Wäre er in diese Hölle hineingezogen worden ...
Er zog es vor, diesen Gedanken nicht zu Ende zu verfolgen, sondern richtete sich weiter auf, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Felswand hoch. Er war seinem eigentlichen Ziel keinen Schritt näher gekommen, aber wenigstens hatte er eine Spur. Er war mittlerweile gar nicht mehr sicher nur durch einen reinen Zufall auf den Felsenweg hinter dem Wasserfall gestoßen zu sein. Nichts hier war ihm wirklich fremd. Dass die Erinnerungen noch immer nicht greifbar waren, bedeutete nicht, dass es sie nicht gab. Vermutlich war er gut beraten, wenn er weiter einfach auf seine Gefühle hörte - die vermutlich gar keine Ahnungen waren, sondern tatsächlich Erinnerungen, die sich auf Umwegen zurückmeldeten. Er musste irgendwie dort hinauf. Es gab dort oben Menschen. Aber wie er gerade auf ziemlich drastische Weise erfahren hatte, auch Ungeheuer - er war inzwischen fast sicher, dass es sich bei dem Wesen, das ihn ins Wasser gezerrt hatte, um eine der beiden Gestalten handelte, die von der Klippe gestürzt waren. Wahrscheinlich hatte es ihn gar nicht angegriffen, sondern in seinem Todeskampf einfach die Hand nach der ersten Bewegung ausgestreckt, die es sah. Dort oben aber gab es Menschen. Er wusste es einfach.
Als er sich herumdrehte, sah er, dass es auch hier unten Menschen gab, zumindest einen.
Er trieb nur ein kleines Stück vom Ufer entfernt mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Seine Arme und Beine bewegten sich leicht in der Strömung, sodass es im allerersten Moment aussah, als winke er mit letzter Kraft um Hilfe, aber das war natürlich unmöglich. Er war tot. Das Wasser in seiner unmittelbaren Nähe hatte sich rosa gefärbt, und seine linke Hand war zerschmettert; vielleicht vom Sturz auf einen Felsen, der unter der Wasseroberfläche gelauert hatte, vielleicht auch durch die pure Kraft des Wasserfalls zermalmt.
Behutsam näherte er sich dem Ufer, watete bis zu den Knien ins Wasser und ließ seinen Blick für eine geraume Weile über die Wellen schweifen, bevor er es wagte weiterzugehen. Dass der Tote scheinbar reglos im Wasser trieb, schien zu beweisen, dass es an dieser Stelle keine gefährlichen Unterströmungen und Wirbel gab, aber er hatte schließlich am eigenen Leib erlebt, wie tückisch das Wasser war - und da war auch noch das Ungeheuer, das am Grunde des Sees lebte. Dass es den Toten verschmäht hatte, bedeutete nicht, dass es nicht da war. Vielleicht fraß es ja nur lebende Beute.
Etwas berührte sanft seine Hüfte, als er weiterging und sich der Gestalt näherte, die leblos im Wasser trieb, zog sich aber zu schnell zurück, als dass er auch nur richtig Zeit gefunden hätte zu erschrecken. Trotzdem beeilte er sich den Toten an Land zu zerren. Es fiel ihm erstaunlich leicht. Der Mann war ungefähr so groß wie er und von kräftigem Wuchs, musste also relativ schwer sein, doch er spürte sein Gewicht kaum.
Ohne spürbare Anstrengung zog er den Leichnam ans Ufer und ein Stück weit die Felsen hinauf. Als er fast aus dem Wasser heraus war, spürte er Widerstand. Er zog noch einmal und kräftiger - und ebenso vergebens - drehte den Kopf und sah etwas, was ihn im Nachhinein erschrecken ließ: Ein daumendicker, schwarz glänzender Strang hatte sich um den Knöchel des Toten gewickelt und hielt ihn mit eiserner Kraft fest.
Er ließ den Toten los, ging wieder zum Wasser und versuchte den Tentakel zu lösen, aber der Fangarm saß so fest, als wäre er mit dem Bein des Toten verwachsen. Er brauchte ein Werkzeug; vielleicht einen scharfen Stein. Er ließ los, ließ seinen Blick suchend über die Felsen streifen und entdeckte etwas weit Besseres: Der Tote trug einen schmalen Dolch im Gürtel. Er nahm ihn an sich, setzte die rasiermesserscharfe Klinge an dem schwarzen Strang an und hatte es kaum getan, als sich der Tentakel auch schon mit einem schmatzenden Laut vom Bein des Toten löste und im Wasser verschwand. Eine Erfahrung, die sich später als nützlich erweisen konnte: Das Ungeheuer war in der Lage Schmerzen zu empfinden.
Da er nicht besonders versessen darauf war herauszufinden, ob die Kreatur auch Rachedurst verspürte, schob er den Dolch rasch wieder unter den Gürtel des Toten zurück und beeilte sich dann den Leichnam ein gutes Stück weit das Ufer hinaufzuzerren. Er wusste nicht, wie groß die Reichweite des Ungeheuers war, hatte aber keine Lust eine böse Überraschung zu erleben. Er war dem Tod zu knapp entronnen, um jetzt ein Risiko einzugehen. Vorsichtshalber schleifte er den Toten noch ein gutes Stück weiter den Strand hinauf, ehe er ihn zu Boden sinken ließ und sich daranmachte, ihn zu untersuchen.
Sein erster Eindruck schien sich zu bestätigen: Der Mann war ihm sowohl an Größe als auch an Wuchs ähnlich, schien aber wesentlich jünger gewesen zu sein. Nicht nur seine Glieder, sondern auch ein Teil seines Gesichts war zerschmettert, sodass man sein Alter - oder gar sein Aussehen - nur schätzen konnte, aber er war wohl noch ein halbes Kind gewesen; ein Leben, das geendet hatte, noch bevor es richtig begann. Trotzdem wies sein Körper unter den frischen Verletzungen eine Anzahl alter Narben auf. Er musste ein Krieger gewesen sein. Ein Satai.
So wie er selbst.
Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als er die Kleider des Toten genauer in Augenschein nahm. Er hatte den Leichnam aus dem einzigen Grund aus dem Wasser gezogen, um sich seiner Kleider zu bemächtigen und nicht länger schutzlos und nackt der Sonne ausgeliefert zu sein, aber plötzlich wagte er es fast nicht mehr, sie zu berühren. Es war ein Gefühl zwischen Ehrfurcht, Wiedererkennen und dem Empfinden, etwas ... Falsches zu tun. Ein Teil seiner Erinnerung war wieder da, ausgelöst durch den Anblick der vertrauten Kleider: Der Tote trug eng anliegende, wadenhohe Stiefel aus fein gegerbtem Leder, die sich weich und anschmiegsam wie Seide anfühlten. Ein knielanger, schwarzer Umhang wurde von einer silbernen Fibel über seiner rechten Schulter zusammengehalten. Sein einziger Schmuck war ein dünnes ledernes Stirnband, an dem ein daumennagelgroßer, fünfzackiger Stern aus Silber befestigt war.
Die Kleidung eines Satai.
Er war ein Satai gewesen, Anhänger einer Kaste, die Krieger waren, zugleich aber auch weit mehr, Verteidiger uralter Werte und Bewahrer eines Glaubens, der vielleicht mehr Wissen als Glauben war und nichts mit Religion zu tun hatte. Satai.
Es war seltsam: Er sollte das Gefühl haben einen Teil seines alten Lebens zurückzuerhalten, während er in die grob gewebten schwarzen Hosen des Toten schlüpfte und anschließend seine Stiefel anzog, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er fühlte sich unwohl. Wenn er wirklich ein Satai gewesen war - woran er mittlerweile kaum noch zweifelte -, so gehörte dies zu einem Teil seiner Vergangenheit, der abgeschlossen war. Er hatte eine Aufgabe gehabt und sie erfüllt. Er sollte diese Kleider nicht mehr tragen.
Trotzdem legte er auch den Brustharnisch und den Umhang an, schloss den komplizierten Mechanismus der Fibel über seiner rechten Schulter, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, und bückte sich als Letztes, um den Waffengurt anzulegen. Er war sehr schmal, hatte eine schmucklose Schließe aus mattem Silber und schien aus einer Art gegerbter Reptilienhaut zu bestehen. Neben dem Dolch, den er schon einmal benutzt hatte, befand sich eine viel längere Scheide aus der gleichen Drachenhaut, in der ein prachtvolles Schwert steckte. Als er den reich ziselierten Griff herauszog, stellte er fest, dass die Klinge zwar länger als sein Arm, aber kaum so breit wie zwei nebeneinander gelegte Finger war. Dann wusste er, was er in der Hand hielt: Ein Tschekal, die heilige Waffe eines Satai. Sie zu berühren, bedeutete den Tod für jeden Nicht-Satai. Die Klinge aus geschmiedetem Sternenstahl war härter als jedes andere Material auf dieser Welt und konnte ebenso mühelos einen Diamanten zerschmettern, wie sie ein Haar zu spalten vermochte.
Aber etwas stimmte mit dem Tschekal nicht. Es war nicht so gut ausbalanciert, wie es hätte sein müssen, und der Griff sollte ebenso schmucklos wie massiv sein, eine einfache Parierstange und ein mit festem Leder umwickeltes Griffstück, kein fein ziseliertes Kunstwerk aus Silber und Gold. Trotzdem schob er die Waffe nach kurzem Zögern in ihre Umhüllung zurück, band sich den Waffengurt um die Hüften und wandte sich wieder der Felswand zu. Mit den Kleidern hatte sich nicht nur sein Aussehen verändert. Seine Bewegungen waren geschmeidiger und schneller geworden und seinen Schritten war nicht das geringste Zögern anzumerken. Es war ihm nicht einmal selbst bewusst, aber hätte es jemanden gegeben, der ihn beobachtete, so wäre der Unterschied nicht zu übersehen gewesen: Der Mann, der in der vergangenen Nacht aus dem See aufgetaucht war und sich mit letzter Kraft ans Ufer geschleppt hatte, war ein Verlorener gewesen, namen- und erinnerungslos und voller Furcht vor der Welt, die ihn erwartete.
Der, der sich nun der Klippe näherte, war ein Krieger.