Ein heller, metallischer Laut mischte sich in das Winseln des Sturms, ein Geräusch, als schlage eine Klinge auf harten Stein. Skar war mit einem Schlag hellwach. Es war ihm nur zu bewusst, dass er die Nacht wie in fiebrigen Visionen verbracht hatte und noch immer fühlte sich seine Kehle wie mit Sand gefüllt an; aber er konnte wenigstens schlucken und damit den brennenden Schmerz etwas mildern.
Es war das metallische Geräusch, das ihn gewarnt hatte und automatisch an Esanna und das Messer hatte denken lassen, aber es war seine Umgebung, die ihn fluchend zurückweichen ließ in den Höhleneingang, zurück aus dem Nebel, der mit gierigen Fingern nach ihm griff und der kalten Feuchtigkeit, die sich wie ein erstickendes Tuch auf ihn legte. Während sein Kopf fast explodiert war von dem Schrecken, der sich darin abgespielt hatte und der mehr gewesen war als nur das ferne Echo von ein paar Alpträumen, sondern etwas entsetzlich Anderes, musste er sich selber in der Höhle und schließlich aus ihr herausbewegt haben. Seine Finger fuhren zu seinem Mund und entfernten irgendwelche Dreckreste, die ihm in den Mundwinkeln hingen. Das Knirschen zwischen seinen Zähnen war immer noch da, aber es hatte sich verändert. Es fühlte sich nicht mehr wie feiner Wüstensand an, sondern eher wie ein ekelhaftes Gemisch von Dreck, Erdklumpen und etwas Anderem, Undefinierbarem, dessen Beschaffenheit er lieber nicht hinterfragte. Er spukte im hohen Bogen aus und dann nochmals und immer wieder, bis er den größten Teil des Dreckszeugs aus seinem Mund entfernt hatte. Anschließend fuhr er sich mehrfach mit dem Handrücken über die Lippen, bis er die verräterischen Spuren - wieso verräterisch? - zum größten Teil beseitigt hatte. Es wäre ihm peinlich gewesen, wenn ihn Esanna so überrascht hätte und gleichzeitig war er sich bewusst, dass er sich schwachsinnig verhielt, aber es war eine Art innerer Logik in seinen Handlungen und Empfindungen, die er nicht leugnen konnte und denen er nachgeben musste, weil der dumpfe Druck in seinem Kopf ihn dazu zwang.
Schließlich wischte er sich mit dem Zipfel seines Umhangs noch einmal über die Mundwinkel, drehte sich aus der Eiseskälte der feuchten Nacht heraus, um wieder in die Höhle zurückzukehren. Obwohl er sich auf der einen Seite noch immer benommen fühlte und ihm ein Gefühl von Realitätsverlust und Unwirklichkeit zu schaffen machte, war er auf der anderen Seite doch hellwach und geradezu euphorisch. Es war wie ein Fieber, als würde die Zeit selbst brennen. Alles in ihm war aufgewühlt, aber auf eine unglaublich faszinierende Art. Das Grauen der Nacht erschien ihm plötzlich meilenweit entfernt zu sein und statt unglaublichem Schrecken war es jetzt ein wahnsinniges Gefühl der Erleichterung und des Triumphs, das ihn durchströmte, als hätte er eine Quelle neuer Kraft angezapft, die alle Gefahren und Herausforderungen der nächsten Zeit zur harmlosen Spielerei werden ließ.
Doch die Wirklichkeit schien nur darauf zu warten, ihn mit grausiger Wucht wieder einzuholen ...
Er hatte kaum die Hälfte des Weges zur mittlerweile nur noch schwach glimmenden Feuerstelle zurückgelegt, als das passierte, was er die ganze Zeit über insgeheim erwartet hatte. Ein fast unhörbares Scharren warnte ihn, eine kaum wahrnehmbare Bewegung zu seiner Linken. Er reagierte darauf mit einer erstaunlichen Ruhe und Heiterkeit, die den Ereignissen der letzten Nacht geradezu Hohn sprachen. Als Esanna aus ihrem Versteck hervorstürmte, einem kleinen Felsvorsprung, hinter dem sie nur mit Mühe Schutz gefunden haben konnte, erwartete er sie bereits, sicher, dass sie die Klinge in seine Richtung vorschnellen lassen würde, und genauso sicher, dass er ihr Handgelenk im ersten Ansatz packen konnte, um sie so zu zwingen die Waffe fallen zu lassen.
Doch es kam anders. Esanna wollte sich nicht auf einen Nahkampf mit ihm einlassen und sie war gut beraten, es auch gar nicht erst zu versuchen. Stattdessen verriet ihre schwungvolle Armbewegung, dass sie das Messer werfen wollte, und es lag so viel Kraft und Geschicklichkeit in dieser Bewegung, dass Skar verwundert den Kopf geschüttelt hätte, wenn er die Zeit dazu gehabt hätte.
Die Klinge sauste mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf ihn zu. Und doch erschien sie ihm langsam, fast träge - ein Phänomen, dass er schon öfters an sich beobachtet hatte im Anblick größter Gefahr, inmitten eines Kampfes gegen überlegene Gegner, wenn sein Zeitgefühl sich auf einer anderen Ebene zu befinden schien als das seiner Umgebung.
Diesmal jedoch war es noch viel krasser. Er wusste, dass das Messer so schnell auf ihn zuflog, dass kaum jemand noch die Chance gehabt hätte ihm auszuweichen. Aber er wusste auch genauso, dass es für ihn keine Gefahr darstellte. Mit einer geradezu spielerischen Bewegung fischte er es aus der Luft.
Esanna stürzte sich mit einem Aufschrei auf ihn, hämmerte mit ihren Fäusten gegen seine Brust. »Du Schwein«, schrie sie mit überschnappender Stimme. »Lass mich endlich in Ruhe.«
Skar stieß sie auf Armlänge zurück. »Nun übertreib mal nicht. Ich habe nicht vor, dir irgendetwas zu tun. Und außerdem habe ich es dir freigestellt zu gehen.«
Die Sätze schienen nicht bis zu Esanna vorzudringen. Mit verzerrtem Gesicht stürzte sie sich erneut auf Skar, ihre Hände Quorrl-Klauen ähnlich, mit Fingernägeln, die sie ihm ins Gesicht krallen würde, wenn er es zuließ. Ihr Gesichtsausdruck war Furcht erregend, auf eine schreckliche Art selbstvergessen wie bei einem Tier im Todeskampf, das noch einmal alle Kraftreserven mobilisiert.
Skar schlug ihr ins Gesicht.
Es war kein sehr harter Schlag, aber kräftig genug, um sie zur Vernunft zu bringen und in ihrer Vorwärtsbewegung zu stoppen. Jedenfalls hätte er es sein müssen. Doch Esannas Kopf flog nur einen kurzen Augenblick zurück und ihre Hände wurden lediglich so weit abgelenkt, dass sie nicht mehr sein Gesicht erreichten, sondern sich in seinen Umhang und in den Lederschnallen seines Brustharnischs verkrallten. Mit geradezu unglaublicher Kraft riss sie an ihm und es blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder zuzuschlagen, etwas härter diesmal und entschlossen genug, um sie zurücktaumeln zu lassen.
Das Feuer der Wut schien in ihr dennoch nicht bereit zu sein, so schnell zu erlöschen; sie riss ihn förmlich mit und zwang ihn so zu einem Ausfallschritt. Dabei zerrte sie so energisch an den Schnallen seines Harnischs, dass sie ausglitten und er plötzlich mit halb nackter Brust in der zugigen Kälte der Höhle stand.
»Hör endlich auf!«, schrie Skar, während er versuchte sie mit der einen Hand, in der er noch immer Esannas Messer hielt, zurückzuhalten und mit der anderen seinen Harnisch zu schließen.
Das Mädchen reagierte ganz so, wie er es hätte erwarten können: Es versuchte seine das Messer umklammernde Hand zu öffnen, um wieder an die Waffe zu kommen. Das war lächerlich; genauso gut hätte sie versuchen können den zugeschnappten Kiefer eines Alligators aufzubiegen. Trotzdem spürte Skar jetzt eine Welle kalten Ärgers in sich aufsteigen. Es machte wahrlich keinen Spaß, mit diesem durchgeknallten Etwas von Digger-Mädchen im Halbdunkeln herumzubalgen und gleichzeitig die beißende Kälte auf seiner Haut zu spüren, nur weil ihr einziger Kampferfolg darin bestanden hatte, ihm seinen Harnisch aufzureißen.
»Wenn du nicht gleich aufhörst, setzt's was«, knurrte er, während er plötzlich das Gefühl hatte einen Piranha bändigen zu müssen: bissig, klein, aber höchst aggressiv und gefährlich; denn mit einer Heftigkeit, die Skar nur diesem kleinen Raubfisch zugebilligt hätte, biss sie in die Hand, deren Finger sie nicht hatte aufbiegen können. Skar schrie auf und hätte tatsächlich fast das Messer losgelassen. Bevor sie zu einem zweiten Biss kam, schlug er sie wieder ins Gesicht, diesmal mit dem Handrücken und so heftig, dass sie nicht anders konnte, als endlich von ihm abzulassen und zurückzutaumeln.
»Du Biest hast mir fast die Finger abgebissen«, keuchte Skar. »Verdammt noch mal! Was willst du eigentlich damit erreichen? Dass ich dich umbringe?«
»Ich...«, stammelte Esanna, während sie sich ihre schmerzende Wange hielt und ihn hasserfüllt anstarrte. »Ja, bitte?«, fragte Skar. »Ich höre.«
Etwas veränderte sich in ihrem Blick; es war ein Flackern in ihm, das eine Sekunde zuvor noch nicht da gewesen war, ein Nichtbegreifen, wo vorher nur Hass und bitterste Ablehnung vorhanden gewesen waren.
So merkwürdig es auch war: Es war genau dieser Anblick, der Skar in die Wirklichkeit zurückbrachte und sowohl das überheblich-abgehobene Gefühl in ihm zerstäuben ließ als auch jegliche Form verzerrter Wahrnehmung. Von einem Moment auf den anderen war er sich wieder völlig bewusst, dass sie sich an einem der unwirtlichsten und auch wohl tödlichsten Flecken der Welt befanden, einem Ort, der im Grunde aus nichts anderem als menschenfeindlicher Natur bestand, an dem sie die Nacht nur überstanden hatten, weil sie diese Höhle gefunden hatten, dem vielleicht einzig sicheren Unterschlupf im Umkreis vieler Meilen. Aber was das Schlimmste, weil für ihn selbst Unbegreifliche, dabei war: Er hatte das Mädchen verschleppt, gegen ihren Willen hierher gebracht, ohne jegliche Spur von Feingefühl und ohne auch nur einen Hauch von Rücksicht darauf zu nehmen, dass kurz zuvor all ihre Angehörigen und Freunde niedergemacht worden waren.
Kein Wunder, dass sie nahe dran war, vollkommen durchzudrehen.
»Wenn du dich beruhigt hast, können wir wieder zum Feuer gehen«, sagte er deshalb fast behutsam. »Ich muss ein paar neue Scheite auflegen. Sonst frieren uns gleich die Gedärme weg.«
Sie ließ nicht erkennen, ob sie ihn verstanden hatte. Sie ließ überhaupt nichts anderes erkennen als Verwirrung und eine Art abgrundtiefes Entsetzen, das er überhaupt nicht zuordnen konnte - doch immerhin machte sie keine Anstalten, ihn erneut anzugreifen.
»Ich sagte, wir sollten zum Feuer zurückkehren«, wiederholte Skar, während er die kunstvoll verzierten Lederschnallen des Harnischs wieder schließen wollte.
»Nicht!«
»Bitte? Was nicht?« Als Esanna mit nichts weiter darauf antwortete als mit einem entsetzten Kopfschütteln - und er sich langsam Sorgen um ihren Geisteszustand zu machen begann -, fuhr er fort: »Gefällt dir der Platz am Feuer nicht, oder was ist los?«
»Zieh das nicht wieder an!«, sagte Esanna, als wäre er im Begriff etwas Entsetzliches zu tun.
»Entschuldige mal«, sagte Skar, »ich friere. Mal ganz abgesehen davon, was du mit meinen Fingern angestellt hast: Du hättest mich nicht auch noch halb auszuziehen brauchen.«
»Aber das Zeichen!« In Esannas Stimme mischte sich so etwas wie Panik und Ehrfurcht. »Du trägst das Zeichen!«
»Quatsch«, entgegnete Skar schroff. »Was für ein Zeichen? Es ist nichts mehr als das Gewand eines Toten, das ich trage.«
»Nicht doch.« Esanna schüttelte den Kopf. »Nicht deine Kleidung. Das Zeichen über deinem Herzen.«
Skar seufzte und sah an sich hinab. Tatsächlich. Eigentlich hätte es ihm schon früher auffallen müssen. Etwas leuchtend Schillerndes hatte sich in seine Brust eingegraben, etwas, dass seine ganze Umgebung mit einem milden, schwach golddurchwirkten roten Licht erfüllte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein riesiger Diamant, der in tausend kunstvoll geschliffenen Facetten leuchtete, als würde er von geheimnisvollen Lichtquellen angestrahlt. Es war ein gleichzeitig so schöner wie bizarrer Anblick, dass Skar automatisch ein kalter Schauer über den Rücken jagte.
»Was ist das?«, keuchte er.
»Das Zeichen«, sagte Esanna leise. »Das Zeichen, das nur der tragen kann, den das Elfte Buch als den Retter bezeichnet - Skar.«
»Das Elfte Buch?«, fragte Skar verständnislos.
»Ja«, nickte Esanna, »das Elfte Buch, das erst dann fertig gestellt werden kann, wenn sich seine Prophezeiung erfüllt und Skar die Welt rettet vor der unsichtbaren Gefahr...« Skar hob vorsichtig die Hand und führte sie zu dem Gebilde, das in seine Brust eingewachsen zu sein schien. Seine Oberfläche fühlte sich glatt und gleichermaßen angenehm kühl und gut temperiert an, tatsächlich ähnlich wie ein Edelstein, aber auch anders - lebendig. Das Gebilde erschien ihm gleichermaßen vollkommen fremd wie auch vertraut, gar nicht so, als ob er es zum ersten Mal sähe. Gleichwohl - als er vor ein paar Tagen nackt dem Wasser unterhalb des Sturzes von Ninga entstiegen war, war es noch nicht an ihm gewesen. Oder war es ihm nur nicht aufgefallen?
»Was ist das für ein Ding?«, fragte er misstrauisch.
»Kein Ding.« Esanna schüttelte schnell den Kopf. »Es ist das Zeichen. Und haltet Ausschau nach ihm, auf dass ihr ihn erkennt, wenn er vor euch steht«, zitierte sie. »Denn sein ist die Macht, das Unmögliche zu vollbringen und die Welt vor der Vernichtung zu erretten wider die Verblendung, die sich wie ein dunkler Schatten über das Land legt.«
»Das steht im Elften Buch?«, fragte Skar irritiert. »Was verrät diese Schrift denn sonst noch so?«
Esanna zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Es ist der einzige Teil des Buches, der unter der Bevölkerung ganz Enwors verbreitet werden sollte. Natürlich zusammen mit der genauen Beschreibung des Zeichens und der Aufforderung, das Auftauchen des großen Skars kundzutun ...« Ein kurzer Schatten lief über ihr Gesicht, ein Hauch bitterer Enttäuschung und tiefen Zweifels.
»Aber das kann natürlich nicht sein«, fuhr sie fort und trat auf Skar zu, rasch, aber nicht ganz so schnell wie zuvor. Trotzdem wäre er fast automatisch einen Schritt zurückgewichen, wohl auch deshalb, weil er intuitiv wusste, was sie vorhatte. Ihre Hand kam fast zögernd nach oben und ihre Finger tasteten nach dem Zeichen, wie sie es bezeichnet hatte, oder nach dem Gebilde, wie Skar es für sich nannte.
»Es fühlt sich... merkwürdig an«, sagte sie stockend.
»So ... glatt. Und... gleichermaßen kühl und warm. Fast wie eine kühle Hand.«
Ihre Zungenspitze fuhr nervös über ihre Lippen. Skar konnte direkt sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Es vergingen endlose Sekunden, in denen sie noch mehrfach über das Gebilde fuhr, als wollte sie sich von seiner Echtheit überzeugen, und es waren Augenblicke, in denen die Gesetze der Zeit außer Kraft gesetzt zu sein schienen.
»Du bist Skar«, sagte Esanna schließlich und obwohl auch eine Frage in ihren Worten mitklang, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen, während sie gleichzeitig die Hand sinken ließ und einen Schritt zurückwich. »Du bist dieser... Mann, diese Legende, das Versprechen der Rettung?«
»Ich weiß nichts von einer Legende«, sagte Skar überrascht. »Und ich weiß auch nicht, wie dieses ... dieses Ding da in meine Brust gekommen ist.«
»Aber wer bist du dann?«, fragte Esanna. »Wenn du nicht Skar bist... verdammt noch mal, dann sag mir, wer du bist! ?!«
»Das ist eine gute Frage«, sagte er unsicher, »aber ich bin sicherlich nicht der Skar eurer Legenden. Es ist... es ist viel Zeit vergangen, seitdem ich das letzte Mal...« Lebte, hätte er fast den Satz beendet. Aber das verbiss er sich lieber; es hätte nicht nur makaber, sondern auch vollkommen unverständlich geklungen.
»Woher kommst du?«, fragte Esanna hartnäckig. »Dann sag mir wenigstens das!«
»Ich sagte doch schon, dass ich von weit her komme ...« Das war, wurde ihm in diesem Moment schmerzhaft bewusst, stark untertrieben. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass er wirklich noch vor wenigen Tagen tot gewesen sein sollte und mit einem Mal rastete wieder ein Stück Erinnerung ein: WIR WERDEN DIE WELT BEHERRSCHEN, SKAR. UND SPÄTER DAS UNIVERSUM. KOMM ZU MIR UND ICH MACHE DICH ZU EINEM GOTT.
Aber das hatte er nicht gewollt. Oh ja, er wollte es - alles in ihm schrie danach, den letzten Schritt zu tun und zum Herrn der Ewigkeit zu werden, er wollte die Macht über Welten, vielleicht Galaxien.
Es war wie eine getreuliche Fortsetzung des Alptraums, der in der Nacht begonnen hatte und gleichzeitig so intensiv wie die Halluzination, die ihm kurz nach seinem Erwachen die letzten Momente seines Lebens vorgegaukelt hatte, den schmählichen Verrat Dels und sein Ende durch die Hand Kiinas ICH WEISS, DASS DU DIE MACHT HAST ZU TUN, WAS DU SAGST. ABER WER BIST DU?
»Ich bin dein Schöpfer«, sagte Skar. »Und ich befehle dir: Geh. Geh und lass den Menschen und Quorrl ihre Welt, so wie sie dir die deine lassen werden.«
War das tatsächlich ein Erinnerungsfetzen oder eine Vision, eine Verhöhnung von jenseits der Wirklichkeit? Er wusste es nicht, aber etwas in ihm, ein gleichzeitig unbekannter und nur allzu bekannter Teil von ihm wisperte von purer Wahrheit, von der Verheißung nach Unsterblichkeit und unglaublicher Macht. Wie schon unzählige Male zuvor versuchte Skar den Gedanken weiterzuverfolgen, zu ergründen, wer diese geheimnisvolle Macht war, und ob vielleicht die Sternenbestie dahinter steckte, der Daij-Djan, aber bei diesem Versuch steigerte sich der latent vorhandene Druck in seinem Kopf und wurde zu einem unerträglich bohrenden Schmerz.
»Also, woher kommst du nun?«
Skar zuckte zusammen und bemerkte erst jetzt, dass er eine ganze Zeit lang mit leerem Gesicht vor sich hin gestarrt hatte. Geh und lass den Menschen und Quorrl ihre Welt, so wie sie dir die deine lassen werden. War es das, was in Gefahr geraten war, das Gleichgewicht zwischen der Sternenkreatur und den Menschen und Quorrl? Hatte eine Seite ihre Abmachung nicht eingehalten, war sein Verzicht auf die Macht und Unsterblichkeit letztlich sinnlos geblieben? In diesen wenigen Sekunden schien sich ihm die Vergangenheit wie ein offenes Buch vor ihm zu eröffnen, doch schon im nächsten Moment entglitt ihm der Zipfel des Wissens wieder und entließ ihn mit einem Gefühl unendlichen Verlustes.
Esanna besaß offensichtlich genug Gespür, um ihre Frage kein weiteres Mal zu stellen. Sie blickte ihn einfach wortlos an, aber etwas in ihrem Gesicht sagte ihm, dass sie sich nicht lange mit den wenigen Brocken zufrieden geben würde, die er ihr aufgetischt hatte. Ganz im Gegenteil: Das Funkeln in ihren Augen verriet, dass ihr noch tausend Fragen auf der Seele brannten - und offensichtlich war nur eine davon die nach seiner wahren Existenz, die Frage, ob er wirklich der einzige und wahre Skar war.
»Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich in der Nähe des Sturzes von Ninga an Land gespült worden bin ...« - genau dort, wo ihn vor Jahrhunderten Kiina und sein Quorrl-Freund Titch der gläsernen Wand aus Wasser übergeben hatten, dieser letzten Ruhestätte in elementarer Gewalt...
»So, wie es die Legende sagt«, unterbrach ihn Esanna schaudernd.
Die Legende! - Das klang wie Hohn in Skars Ohren. Er hatte die Verlockung der Macht gespürt, damals, und er spürte sie auch heute noch. Irgendetwas war geschehen, in diesen letzten Tagen seines Lebens, das unter Dels Schwert sein Ende gefunden hatte. Er hatte die schimmernde Wand aus Wasser gesehen, die mit ungeheurer Wucht über den Rand des Sturzes von Ninga schoss, an ihm vorbei in eine unglaubliche Tiefe, um Meilen unter ihm mit explosiver Wucht auf hartem Gestein aufzuschlagen - aber er hatte sie von hinten gesehen! Irgendwie war er in den riesigen unterirdischen Komplex hinter den gewaltigen Wasserfall gelangt, der das unglaubliche Geheimnis Enwors barg und gleichzeitig den Schlüssel zu seinem Untergang ...
Dann verlosch das Bild wieder. Er hätte in diesem Moment seine rechte Hand dafür gegeben, wieder tiefer in seine Vergangenheit einsteigen zu können. Aber der Zugang zu seinen gerade noch so lebhaften Erinnerungen glitt weiter zu, kaum dass er sich einen Spalt weit geöffnet hatte. Mit einer missmutigen Kopfbewegung schüttelte er die Erinnerung ab. »Jetzt weißt du plötzlich doch Einzelheiten?«, fragte er so ärgerlich, als sei Esanna am Versagen seines Gedächtnisses Schuld. »Wie kommt das? Gerade noch hast du mir gesagt, dass du das Elfte Buch nicht weiter kennen würdest.«
»Das stimmt ja auch«, antwortete Esanna rasch. »Es sind nur... nur ein paar Brocken der Überlieferung. Wenn du mehr wissen willst, musst du dich an die Satai wenden, die ... die seine Lebensgeschichte aufschreiben.«
»Vielleicht habe ich dazu bald Gelegenheit«, murmelte Skar. Er war sich nicht sicher, ob Esanna wirklich die Wahrheit sagte und nur ein paar Brocken der alten Überlieferung kannte, die sie das Elfte Buch nannte - in logischer Reihenfolge, da die ihm bekannte Geschichtsschreibung Enwors in den Heiligen Zehn Büchern zusammengefasst worden war, geführt von den Ehrwürdigen Frauen, den Errish, und gehütet von ihrem Oberhaupt, der Margoi. »Wobei ich allerdings nicht ganz verstehe, was die Satai mit dem Verfassen heiliger Bücher zu tun haben. Ihr Handwerkszeugs war bislang eher das Schwert als Schreibzeug.«
»Heilige Bücher ...«, wiederholte Esanna verstört. »Vielleicht sind es ja doch nur lauter alte Legenden. Genauso wie ihre Drachen...«
»Die Daktylen«, half ihr Skar aus und von einem Moment auf den anderen kehrte die Erinnerung zurück: In der Höhle befanden sich die Kadaver von mehr als einem Dutzend Drachen. Die meisten waren zu Boden gestürzt, aber einige standen auch aufrecht da, in absurden Stellungen eingewoben in die Fäden des schwarzen Netzes, das die Höhle in ein Labyrinth sich überschneidender Fäden und dunkler Klumpen verwandelte. Kiina hob die Hand und deutete auf eine titanische Echse, die halb zusammengebrochen, halb auf den Hinterläufen stehend, in einem Gewirr schwarzer, schenkelartiger Netzfäden hing: Die Augen des gewaltigen Staubdrachens der Margoi, der mächtigen Herrscherin der Errish, strahlten noch im Tode Wildheit aus ...
»Ja, genau. All das ist doch längst vergangen - wenn es denn überhaupt wirklich existiert hat.«
... Das Gesicht der Margoi war ein Totenschädel, kahl, bedeckt mit rissiger Pergamenthaut und von eiternden Wunden entstellt. Eines der Augen der Margoi war blind, überzogen von einem milchigen Netz, und der Mund hinter den entzündeten Lippen hatte keine Zähne mehr.
»Großer Gott!«, wimmerte Kiina. »Was ist mit Euch geschehen?«
Der Totenschädel der Margoi verzerrte sich zu einer Grimasse, die wohl der Versuch eines Lächelns sein sollte. »Wir haben bekommen, was wir... verdient haben.«
Fast gegen seinen Willen riss sich Skar aus der Erinnerung zurück. »Das ist mir neu«, sagte er schließlich leise. Dass die heilige Geschichtsschreibung von den Ehrwürdigen Frauen auf die Satai übergegangen sein sollte, verwirrte ihn fast noch mehr als der Umstand, dass die Errish in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sein sollten. Den Niedergang der Errish hatte er schließlich zum größten Teil noch selber miterlebt... Ein Teil des Netzes stürzte brennend im hinteren Drittel der Höhle zusammen und Skar spürte das Beben, das durch den Körper des toten Staubdrachens ging, an dem die Margoi lehnte. »Ich war feige«, sagte die sterbende Herrscherin. »Ich ließ mein Volk im Stich, statt mit ihm zu sterben, wie es meine Pflicht gewesen wäre. Zwei Tage und Nächte blieb ich hier unten und als ich zurückkam, da ... da gab es kein Elay mehr.«
Das Bild, das Skar so greifbar deutlich vor sich sah, verschwamm und machte etwas anderem Platz und... Der Flammenschein wurde heller und die Luft merklich wärmer. Die zyklopische Mauer, in deren Schatten Kiina und er immer noch standen, war unversehrt geblieben, aber das, was sich vor ihnen erstreckte, war ein Schlachtfeld, die Reste einer Stadt, die ihren Bewohnern zum Grab geworden war. Die von Gewalten zermalmt worden war, die sich Skar weder vorstellen konnte noch vorstellen wollte. Was von den Häusern und Palästen noch stand, das waren ausgebrannte Ruinen, den geschwärzten Skeletten großer gepanzerter Tiere gleich, zwischen denen es hier und da noch immer brannte, ungeachtet des unablässig strömenden Regens. Die Straßen waren voller Schutt und verkohlter Trümmer und über allem lag Staub, den der Regen zu einer schwarzen, schmierigen Schicht gemacht hatte. Und überall lagen Tote - verkrümmte Gestalten in den schmucklosen grauen Mänteln der Errish, Dienstboten, Krieger, Männer, Frauen, Kinder... der Tod hatte keinen Unterschied gemacht, wo und bei wem er zuschlug.
Es war ein erschreckender Gedanke, der ihn aus seiner Verwirrung riss: Du stirbst, Satai. In einer Woche, längstens in einem Monat.
Er blickte überrascht hoch, als hätte jemand laut mit ihm gesprochen. Doch es war die Vergangenheit, die sich mit einem anderen Erinnerungsfetzen gemeldet hatte, wie schon so oft zuvor vollkommen unerwartet. Er wusste nicht, wer diese Drohung vor unendlich langer Zeit ausgesprochen hatte, aber er war sicher, dass er kurz darauf tatsächlich den Tod gefunden hatte... Das Sternenfeuer ist keine Legende, Skar. Es existiert und es liegt in unserer Macht, es zu entfesseln. Willst du das? Willst du, dass ganz Enwor verbrennt?
»Ich will wissen, ich muss wissen, wer du wirklich bist«, sagte Esanna verzweifelt. »Du tauchst wie ein Gespenst aus der Vergangenheit auf und bringst Leid über mich und die meinen ... Was soll das alles nur für einen Sinn haben?« Skar schwieg. Es gab auch nichts, was er im Moment hätte sagen können. Zwischen ihm und Esanna bestand ein Graben, eine Mauer, die er niemals würde ganz einreißen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Es waren zwei verschiedene Welten, seine und die ihre, getrennt nicht nur von den Jahrhunderten, die seit seinem Tod verstrichen waren, sondern auch von einem vollkommen unterschiedlichen Erfahrungshorizont, wie er verschiedener nicht hätte sein können: Während sie auf die dreihundertjährige Geschichte ihres Volks zurückblickte, aber auf nur wenige Jahre eigenen, bewussten Lebens, hatte er weit mehr Erfahrungen, Leid und Schmerzen aufgehäuft, als einem Menschenleben gut tat. Seine einzige ruhige Zeit waren die friedvollen Jahre in den unendlichen Prärien Malabs gewesen, eine Zeit, die ihm damals langweilig und verschwendet vorgekommen war, während sie ihm mittlerweile als unendlich kostbar erschien. »Es tut mir Leid, dass ich dich da mit hineingezogen habe«, sagte er. »Morgen kannst du selbstverständlich deiner Wege ziehen.«
»Mit hineingezogen«, ächzte Esanna. »Scherzt du? Wer weiß, vielleicht machst du ja mit den Quorrl gemeinsame Sache, ohne dich könnten vielleicht mein Vater und alle anderen noch leben.«
»Glaubst du das wirklich? Wahrscheinlich haben die Quorrl schon seit Tagen den Angriff auf euer Dorf geplant. Es spricht vieles dafür. Wenn die Quorrl nicht blindwütig über irgendjemanden oder irgendetwas herfallen, dann planen sie ihre Aktionen sorgsam ...«
»Was soll dieses Geschwafel, großer Skar?«, fragte Esanna. »Willst du dich damit rein waschen von der Schuld, die du auf dich geladen hast?«
»Nein«, sagte Skar, obwohl ihm schmerzlich bewusst war, dass sie, wenn auch vielleicht auf eine verdrehte Art, Recht hatte. »Ich will dir damit nur deutlich machen, dass jede Münze zwei Seiten hat. Und ich will dir klarmachen, dass ich euer Dorf nicht verraten habe, sondern dass seine Vernichtung in einem größeren Zusammenhang stand.«
»Das ist keine Antwort«, fauchte Esanna.
»Vielleicht habe ich auch keine Antwort für dich«, sagte Skar ärgerlich. »Vielleicht gibt es überhaupt keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum jemand gewaltsam aus dem Leben scheiden musste. Vielleicht ist es immer eine Verkettung unglücklicher Umstände, die dazu führt.«
»Alles nur faule, stinkende Ausreden«, sagte Esanna verächtlich. »Nichts, was meinem Vater und den anderen das Leben wiedergibt. Nichts, was rechtfertigt, dass du uns nicht beschützt hast und damit unsere Vernichtung in Kauf genommen hast!«
Während sie ihre bittere Anklage vorbrachte, hatte sich ihr Gesicht zunehmend verfinstert. Doch es war wohl nicht Wut, die sie so hatte sprechen lassen, sondern Trauer und je mehr sie sie übermannte, umso mehr brach ihre Selbstbeherrschung zusammen. Die damit einhergehende Veränderung erschreckte ihn: Die soeben noch tapfere junge Frau wurde zum kleinen Mädchen, das vielleicht zum ersten Mal die ganze Tragweite des Geschehens begriff.
Sie schluchzte laut auf und in ihren Augen glitzerte es verdächtig. Ehe sie es verhindern konnte, rannen ihr Tränen die Wangen hinab; zwei feuchte Spuren des Entsetzens, gegen das sie sich jetzt nicht mehr zu wehren vermochte. Skar hatte Männer und Frauen weinen sehen und das aus den verschiedensten Gründen. Vor allem Frauen setzten ihre Tränen manchmal als Waffe ein, aber genauso hätten sie versuchen können, ihn mit einem während eines Handstands ausgeführten Grimassenschneiden zu beeindrucken. Andere weinten vor tiefem Entsetzen und vor Trauer, was er zu gegebenem Anlass durchaus akzeptierte. Kinder aber, egal welchen Alters, die gerade unglaubliches Leid erlebt hatten: Deren Tränen hatte Skar kaum etwas entgegenzusetzen.
»Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Ob ich mitschuldig bin an der Vernichtung deines Dorfes oder nicht: Es tut mir Leid.«
»Was ... was nutzt das jetzt noch?« Esanna wandte sich ab und wischte sich mit dem Ärmel ihres Gewands über die Augen. Das machte es beinahe noch schlimmer. Hätte sie ihren Tränen freien Lauf gelassen ... aber so, dieser Versuch Gefühle unter Kontrolle zu bringen, die nicht dafür da waren, kontrolliert zu werden - das schmerzte Skar mehr, als er im Augenblick ertrug.
»Es ist vorbei«, sagte er. »Du hast nichts zu befürchten. Im Gegenteil.«
Doch während er es aussprach, wusste er, dass es eine Lüge war. Es war beinahe so, als wäre durch ihre Tränen ein Schleier ganz besonderer Art von seinen Augen gerissen worden. Glaubst du wirklich, dass dich nur ein Zufall dazu gebracht hat, dieses Mädchen mitzunehmen, sie ihrem Vater und den Quorrl zu entreißen?, fragte eine Stimme in ihm. Er glaubte es natürlich nicht. Er hatte sich während des Gemetzels in Esannas Heimatdorf beinahe so verhalten, als sei sie seine Tochter und nicht die eines zweifelhaften Diggers, die er einer Todesgefahr entreißen musste.
Sie wollte antworten, aber Skar trat rasch auf sie zu, von einem Impuls getrieben, der ihn wohl selbst mehr überraschte als sie, schloss sie in die Arme und presste sie an sich wie ein Ertrinkender, der Halt sucht. Seine Umarmung war fest, viel fester als nötig gewesen wäre. Er spürte es, lockerte den Griff ein wenig und strich ihr übers Haar, sanft und doch voller Selbstverständlichkeit, wie man den Kopf eines Kindes streichelt, das Schutz vor einem Erwachsenen sucht.
»Deswegen dieses Wortspiel mit Ska statt Skar«, stammelte Esanna. »Du wolltest nicht erkannt werden ... aber wie kann es sein, dass du hier bist?«
»Dreihundert Jahre nach meinem Tod, meinst du?«, fragte Skar ohne jede Bitterkeit. »Ich weiß es nicht. Aber es hat auch etwas mit... mit dir zu tun.« Er versuchte die Worte aufzuhalten, die aus ihm herausdrängten, aber es gelang ihm nicht. Die ganze Zeit über war etwas in seinem Kopf blockiert gewesen, hatte er noch nicht einmal ernsthaft über die Frage nachgedacht, warum er Esanna erst gerettet und dann mit in diese Einöde geschleppt hatte. Dabei gab es nur eine Antwort: »Es gibt eine Aufgabe, die ich zu lösen habe, und bei der ich auf deine Hilfe zählen muss.«
»Ein Aufgabe, bei der ich dir helfen soll?«, echote Esanna entsetzt und schob ihn automatisch ein kleines Stück von sich, ohne sich aber aus seiner Umarmung zu lösen. »Was soll das heißen? Ich bin doch nur ein einfaches Digger-Mädchen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte Skar.
Esanna reagierte ganz anders auf seine Worte, als er erwartet hatte: Sie begann am ganzen Körper zu zittern. »Das ist nicht wahr«, stammelte sie.
»Was ist nicht wahr?«, fragte er, während seine Hand tröstend und doch gleichzeitig fast spielerisch durch ihr glattes, schwarzes Haar fuhr. »Ist es nicht wahr, dass es eine Verbindung zwischen uns beiden gibt, die wir im gleichen Moment gespürt haben, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben? Ist es nicht wahr, dass du es genauso gespürt hast wie ich?«
»Ich weiß nicht...« Durch Esannas Körper ging ein leichtes, kaum spürbares Zittern. »Es macht mir Angst.«
»Das sollte es nicht«, murmelte Skar wider besseres Wissen. »Du hast nichts zu befürchten.« Seine Hand löste sich von ihrem Haar und drückte ihr Kinn mit sanfter Gewalt nach oben. Sein Blick bohrte sich in den ihren und einen Herzschlag lang verlor er sich in ihren Augen: zwei geheimnisvollen Seen gleich, unendlich warm und tief und auf unbeschreibliche Weise schön. Es war ein Moment tiefer Ruhe, ein Versprechen einander Kraft zu schenken, eine Ahnung lang vermisster Vertrautheit und doch auch die Angst alles zu verlieren, was das Leben lebenswert machte. Er beugte sich vor und küsste sie.
Es kam so überraschend, dass sich Esanna im ersten Moment versteifte und ihn von sich schieben wollte, aber Skar hielt sie fest, presste sie beinahe mit Gewalt an sich. Ihr Widerstand brach und nach einer Sekunde wurden ihre Lippen weich. Sie wehrte sich nicht mehr, sondern erwiderte seinen Kuss, stürmisch und mit gieriger Kraft und schließlich war er es, der sich von ihr löste und sie sanft von sich schob.
Esannas Blick flackerte. Ihr Atem hatte sich beschleunigt und instinktiv wollte sie ihn wieder an sich ziehen, doch Skar ergriff ihre Handgelenke und hielt sie fest. Er wirkte betroffen, verwirrt und schuldbewusst, als wäre ihm plötzlich klar geworden, dass er etwas getan hatte, was ihm nicht zustand.
»Ich ... es tut mir Leid«, murmelte er verstört. »Ich hätte das nicht tun sollen.«
Esanna reagierte nicht auf seine Worte, befreite sich stattdessen aus seinem nicht allzu festen Griff, um ihn mit einer erstaunlich kraftvollen Bewegung erneut an sich zu ziehen. »Nicht«, sagte Skar, während er das fordernde Hämmern seines Herzschlags zu überhören versuchte. Schließlich schüttelte er energisch den Kopf und schob das Mädchen von sich. »Es darf nicht sein.«
Esanna sah ihn verstört an, so, als habe er sie geschlagen. »Warum darf es nicht sein?«, fragte sie verständnislos. »Und was darf nicht sein?«
Es darf nicht sein, dass wir uns gegenseitig Trost spenden, hätte Skar beinahe herausgeschrien, aber das war so nah an der Wahrheit, dass es wehgetan hätte. Im Laufe seines Lebens hatte Skar viele Frauen kennen gelernt und sich der unterschiedlichsten Vergnügen mit ihnen hingegeben, ohne jedes Mal Einwände oder Gegenargumente zu suchen, aber er hatte beileibe auch nicht jede Gelegenheit genutzt, die sich ihm geboten hatte. Und dennoch: Bei Esanna war das etwas gänzlich anderes. Ihre Jugend war dabei noch nicht einmal das ausschlaggebende Argument - für jemanden, der bereits vor dreihundert Jahren gestorben war, waren eigentlich alle Frauen zu jung oder, besser gesagt, das Alter spielte keine Rolle mehr und außerdem waren Mädchen in Esannas Alter oft schon verheiratet und hatten bereits ein oder zwei Kinder zur Welt gebracht.
Nein. Sich mit Esanna einzulassen wäre ihm einfach - verkehrt erschienen. Der Pakt mit Unbekannt mit dem Ziel seiner Wiedergeburt, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen, beinhaltete nicht so etwas wie Zuneigung oder gar Liebe und hatte auch nichts mit einem naiven kleinen Digger-Mädchen zu tun, das er aus einer plötzlichen Laune heraus etwas zu stürmisch geküsst hatte.
Skar blickte sie sehr lange und sehr nachdenklich an. »Es ist besser so«, sagte er deshalb. »Wir sollten uns nicht zu sehr aufeinander einlassen.«
»Warum stößt du mich von dir?«, fragte Esanna leise und offensichtlich tief verletzt. »Bin ich dir etwa nicht gut genug?«
»Das hat damit überhaupt nichts zu tun«, behauptete Skar. »Es ist doch eher andersherum. Ich bin nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Jedenfalls niemand, an den sich ein junges Mädchen hängen sollte.«
»Das ist mir egal. Ich will doch nur ...«
Skar unterbrach sie mit einem raschen Kopfschütteln; schnell und abgehackt und so befehlend, dass sie mitten im Satz verstummte. »Unsere Aufgabe ist... zu wichtig. Alles andere zählt nicht.«
Esanna sah ihn an, als hätte er komplett den Verstand verloren. »Was hat denn das mit irgendeiner Aufgabe zu tun? Habt ihr früher wirklich so gedacht und gehandelt?« Sie schürzte verächtlich die Lippen. »Wenn das so ist, dann tust du mir Leid. Dann frage ich mich, wozu du überhaupt wieder auf die Welt gekommen bist.«
Der Hieb saß. Der Funke, den der leidenschaftliche K USS in Skar entbrannte hatte, war noch lange nicht erloschen; möglich, dass er eine Glut erweckt hatte, die noch ein paar Tage vor sich hin glimmen würde, bis sie gänzlich erstickt war.
Aber wenn Skar an andere Frauen in seinem Leben zurückdachte, die ihm einst eine Menge bedeutet hatten - etwa an Coar, die Stadtkommandantin von Cearn, oder an Gowenna, die Mutter Kiinas -, dann war das aus seiner jetzigen Sicht doch nicht viel mehr als die Erinnerung an einen fernen schönen Frühlingstag. Und Esanna wollte damit konkurrieren?
Unsinn. Das Mädchen bedeutete ihm nichts und würde ihm auch nie etwas bedeuten. Er hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wie lang das ihm geschenkte neue Leben sein würde und überhaupt sein konnte; möglicherweise würde er schon in ein paar Wochen in eine sabbernde, alte Hülle zusammensacken, selbst wenn ihn nicht vorher ein Pfeil durchbohren oder ein Schwert tödlich verletzen würde. Ganz schwach nur streifte ihn der Gedanke, dass gerade deshalb dieser eine Moment so kostbar war, dass ihm vielleicht nur diese eine Chance blieb, das Leben zu fassen. Aber er schwieg. Seine Brust schien unter dem Druck der nicht gesprochenen Worte zerbersten zu wollen und ein, zwei Herzschläge lang war er versucht Esanna einfach wieder in den Arm zu nehmen und einer Leidenschaftlichkeit freien Lauf zu lassen, die sich im Hier und Jetzt ausleben wollte.
Das Mädchen schien zu spüren, was in ihm vorging, wandte sich wortlos um und ging mit langsamen, kraftlosen Schritten zum Feuer. Ohne ihm noch einen Blick zu schenken, warf sie zwei, drei der Holzscheite nach, die Skar am Abend vorausschauenderweise neben dem Feuerplatz aufgeschichtet hatte, und stocherte in der Glut herum, um sie wieder in Gang zu setzen.
Skar ließ sich neben Esanna am Feuer nieder und trank einen Schluck kristallklar schmeckenden Wassers aus seinem Wasserschlauch, den er vor ihrem Aufstieg zur Höhle noch an einem kleinen Bach gefüllt hatte. Die kalte Flüssigkeit tat ihm gut und brachte seine Lebensgeister einigermaßen zurück. Trotzdem war er sich fast schmerzhaft bewusst, dass nichts war, wie es sein sollte.
»Was ist mit den Ehrwürdigen Frauen, mit den Errish geschehen?«, fragte er schließlich.
»Ich... ich weiß es nicht.« Esanna wirkte noch immer aufs Äußerste verwirrt. »Ich bin weder Satai noch Schriftgelehrter, aber soviel ich weiß - es soll unter den Satai noch einige wenige Errish geben, erzählt man sich. Ob da etwas dran ist, weiß ich natürlich nicht.«
Und so, wie sie es sagte, war es ihr auch egal. Sie starrte die ganze Zeit über ins Feuer und vermied es, auch nur einen einzigen Blick in seine Richtung zu werfen.
»Was hast du morgen vor?«, fragte sie in das Prasseln der Flammen hinein.
»Ich werde mich auf den Weg zu Marna machen«, sagte er.
»Und du erwartest, dass ich dich begleite?«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht.« Skar fingerte in seinem Waffengurt aus gegerbter Reptilienhaut herum, in den er Esannas Messer hatte verschwinden lassen und legte es neben ihr auf den Boden. »Hier«, sagte er. »Du wirst es brauchen, fürchte ich. So oder so.«
Sie warf ihm einen raschen Seitenblick zu. »Du vertraust mir?«
»Ja.« Diesmal blieb er bei der einfachen Antwort.
»Warum? Nur weil du mich geküsst hast?«
»Nein.« Skar legte den Kopf in den Nacken und starrte in die verrußte Höhlendecke hinauf. Mit einem Mal merkte er, wie müde er war. Müde und zerschlagen, als hätte er eine fürchterliche Anstrengung hinter sich. Aber das war es ja auch gewesen: Der Kampf gegen die Quorrl, der Aufstieg bei Nacht und Nebel, der ihn mit instinktiver Zielsicherheit hierher geführt hatte und schließlich diese quälenden Visionen (oder was sonst immer es gewesen war) und die Auseinandersetzung mit Esanna.
»Warum dann?«, hakte sie nach, nachdem sie das Messer wieder unter ihrem Gewand hatte verschwinden lassen. »Weil es jetzt keinen Sinn mehr haben würde, wenn du mich als deinen Feind betrachten würdest«, sagte Skar. »Nicht, nachdem du begriffen hast, dass unsere Begegnung kein Zufall war und dass wir eine gemeinsame Aufgabe zu erfüllen haben.«
Esanna stocherte weiter in der mittlerweile bereits entfachten Glut herum, bis Funken stoben. In dem flackernden Licht wirkte ihr bleiches Gesicht fast so durchscheinend wie das einer der teuren bemalten Glaspuppen, wie sie vor einer Ewigkeit von reisenden Händlern auf dem Markt von Besh an die Töchter reicher Häuser verkauft worden waren. Es war etwas Unnatürliches an ihr, fand Skar in diesen Sekunden, etwas, dass so gar nicht zu einem ungehobelten Haufen verrückter Digger passte.
»Ich glaube, du siehst irgendjemanden in mir, der ich nicht bin«, stellte Esanna nach einer Weile fest. Ihre Stimme verlor sich fast im Prasseln der letzten Holzscheite, die sie jetzt nachgelegt hatte. Wenn das Feuer heruntergebrannt war, würde es schon Minuten später empfindlich kalt werden.
»Kann sein«, gab Skar zu. »Aber es könnte natürlich auch anders herum sein.«
»Anders herum?«, fragte sie misstrauisch. »Was meinst du damit?«
»Dass du eine Bestimmung hast, derer du dir selbst noch nicht bewusst bist. Etwas, das die ganzen Jahre in dir geschlummert hat und das jetzt zum Ausbruch kommt.«
»Wie kommst du nur auf einen solchen Unsinn?«, fragte sie.
»Vielleicht deshalb, weil es mir vor einer Ewigkeit ganz ähnlich ging...«, sagte Skar und erinnerte sich an sein Widerstreben, als er Stück für Stück hatte begreifen müssen, was der Dunkle Bruder in ihm gewesen war: mehr als nur eine innere Stimme, der Wächter, etwas unglaublich Fremdes und dennoch nur allzu bald sehr Vertrautes, das ihm die Verantwortung für ganz Enwor auf die Schultern gelegt hatte. »Das Schicksal sucht sich manchmal in bestimmten Menschen ein Werkzeug zur Erledigung großer Aufgaben«, murmelte er nach einer Weile. »Und es fragt nicht, ob dieser Mensch sein Schicksal nun annehmen will oder nicht.«
»Na, vielen Dank. Und wenn ich nun kein Werkzeug sein will?«
Skar schloss für einen Moment die Augen. Der Boden glänzte unter einer feuchten, schlierig-klaren Schicht. Die Luft stank so durchdringend, dass das Atmen zur Qual wurde. Die skelettierten Reste von sieben, acht Quorrl lagen auf dem Boden oder zerbrochen über Stühlen und dem breiten Bett, dessen Seidenbezug schwer und dunkel vom Blut der Sternenbestie geworden war.
Er hatte Tod und Vernichtung unter die Quorrl gebracht wie auch unter die Menschen, er hatte zu lange gezögert, weil er sich dem Schicksal hatte entgegenstemmen wollen. Es durfte nie wieder geschehen. Was auch immer da in seinem Inneren aufgeflackert war, diese ferne Erinnerung einer grauenvollen Katastrophe: Er durfte nie die mir ihr verbundene Warnung vergessen.
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, drängte ihn Esanna.
Aber das hatte Skar auch gar nicht vor. Er konnte es nicht.