3.4

Sie kamen nicht gut voran. Der einsetzende Tau hatte den Boden aufgeweicht und ließ jeden Schritt zur Qual werden. Die Bäume standen hier so dicht, dass ihnen immer wieder tief hängende Äste ins Gesicht peitschten, so sehr sie sich auch Mühe gaben ihnen auszuweichen. Auf den Wipfeln lag noch ein Rest von Schnee, der wie weißer Staub auf sie herabrieselte. Eine bedrückende Stille hatte von dem Waldstück Besitz ergriffen, und wo Schlamm und Morast ihr Vorwärtskommen nicht behinderten, mussten sie sich durch dorniges Gestrüpp oder über umgestürzte Bäume kämpfen.

Plötzlich blieb Skar stehen und legte den Kopf schief, als lausche er.

»Was ist?«, fragte Esanna.

»Wir sind jetzt nahe an dem Fluss, von dem Kama gesprochen hat«, sagte Skar. »Wir sollten jetzt doppelt vorsichtig sein.«

»Woher weißt du, dass der Pojoaque vor uns ist?«, fragte Esanna erstaunt.

»Ich höre ein leichtes Grummeln«, sagte Skar. »Wenn du genau hinhörst, wirst auch du es vernehmen - es klingt beinahe so, als verdichte sich der Wind, als würde das Vogelzwitschern und das Blätterrauschen eingebunden in eine Art Stofflichkeit.«

Esanna schloss die Augen und ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie angestrengt lauschte. »Nein«, sagte sie nach einer Weile und schüttelte den Kopf. »Ich höre nichts. Außerdem könnte es auch eine Quelle sein, ein kleiner Bach wie der, an dem wir uns heute Morgen gewaschen haben ...«

»Das würde anders klingen«, sagte Skar nervös, während er weiter dem Wildpfad folgte, der eine relativ breite Schneise ins Unterholz geschlagen hatte - aber nicht breit genug, um nebeneinander zu gehen. »Wir sollten jetzt besonders vorsichtig sein. Achte auf alles, was dir merkwürdig vorkommt.«

»Du rechnest mit einem Hinterhalt?«, fragte Esanna hinter ihm.

»Nicht unbedingt.« Skar dachte an das unterirdische Meer im Inneren der Höhle, den Strudel, der sich in wahnsinniger Geschwindigkeit drehte, Gischt schlagend am Rand und vom Sog im Zentrum in die Tiefe drückend; und er fragte sich, ob nicht der Fluss, den Kama mit dem ihm unbekannten Namen Pojoaque bezeichnet hatte, geradewegs mit diesem Meer in Verbindung stand - und damit auch mit dem Khtaám.

»Was fürchtest du dann?«, fragte Esanna mit einem leisen Beben in der Stimme. »Hat es etwas mit dem Khtaám zu tun?«

Skar wischte ein paar tief hängende Zweige zur Seite und achtete darauf, dass sie der hinter ihm gehenden Esanna nicht ins Gesicht schlugen. »Vielleicht«, räumte er ein. »Vielleicht ist es auch nur ein Gefühl, dass am Fluss Unheil lauert. In jedem Fall sollten wir jedes Risiko vermeiden.«

»Was für ein Risiko?«, fragte Esanna.

»Es ist immer ein Risiko, einen Fluss zu überqueren«, sagte Skar leise. »Kama hat uns eine Furt genannt und so wie er werden auch andere diese Stelle kennen. Wenn wir diese Furt durchschreiten, werden wir eine Zeit lang ohne Deckung sein. Schon ein einziger guter Bogen- oder Armbrustschütze könnte uns beide in aller Gemütsruhe abknallen, ohne dass wir die geringste Chance zu Gegenwehr hätten.«

Esanna fuhr sich unruhig mit der Zunge über die Lippen. »Wenn das so ist - warum suchen wir uns nicht einen anderen Übergang?«

»Weil ich glaube, dass es eher der Fluss selbst ist, der einen ... sagen wir mal, unvorhersehbaren Einfluss auf alles in seiner Umgebung hat«, murmelte Skar.

»Was?«

»Sei einfach vorsichtig, ja?«

Minutenlang hörte er nichts weiter als ihren Atem in seinem Nacken, die Geräusche des Waldes und das Knacken und Knistern, mit dem sie sich selbst durch das Dickicht quälten. Irgendetwas hatte sich verändert seit letzter Nacht. Sie waren beide sehr schnell eingeschlafen und hatten vom Nachmittag bis in den nächsten frühen Morgen bis auf wenige Unterbrechungen durchgeschlafen; sie waren so erschöpft gewesen, dass Skar nicht einmal pro forma darauf bestanden hatte, abwechselnd zu wachen. Unter normalen Bedingungen hätte er ein solches Verhalten als bodenlosen Leichtsinn verdammt - aber die Bedingungen waren nicht normal.

Das, was zwischen ihnen in dieser Nacht passiert war, auch nicht. Sie hatten eng aneinander geklammert geschlafen wie zwei verängstigte Kinder, die sich vor den Schatten der Nacht fürchteten. Skar hatte das als sinnvoll angesehen; schließlich war es trotz des zusätzlichen Laubs, das er zusammengeklaubt hatte, um sich darin regelrecht einzurollen, so empfindlich kalt gewesen, dass die Gefahr einer Unterkühlung bestand. Es gab aber nichts, was besser wärmte, als ein menschlicher Körper.

Sie hatten sich nicht nur gewärmt. Sie waren immer enger zusammengerückt. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, was passiert war; es war ein Gefühl, als wären sie ohne jegliche körperliche Aktivität ineinander verschmolzen - und sich doch gleichzeitig so fremd und so entfernt geblieben, wie es zwei Menschen nur sein konnten. »Heute Nacht...«, begann er übergangslos, während er sich unter einem tief hängenden Zweig bückte, dessen Ausläufer wie eine liebkosende Frauenhand über sein Gesicht strichen.

»Ja?«

»Ich ... ich meine ...«

Er konnte sie nicht sehen, aber er spürte, dass sich ihr Atem beschleunigte. »Du meinst... ob mir heute Nacht etwas aufgefallen ist?«, fragte Esanna. »Etwas, was auf die Khtaám schließen lässt?«

»Ja«, sagte er erstickt. »Es könnte sein ... dass sie versucht haben ...«

»Sich in unsere Gedanken und Gefühle einzuschleichen«, beendete Esanna seinen Satz.

Es war ihm geradezu unheimlich, wie präzise sie seine Gedanken erriet. »Es hat uns in der Höhle nicht nur äußerlich angriffen«, sagte er. »Es hat... auch etwas anderes gemacht.«

Esanna schwieg so lange, bis sich ihr Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte. »Vielleicht haben wir uns das nur eingebildet«, sagte sie schließlich.

Skar hätte sich fast umgedreht, um ihren Gesichtsausdruck zu sehen; doch stattdessen beschleunigte er seine Schritte. Seine Stiefel streiften einen kümmerlichen, aber blühenden Busch - das erste Anzeichen dafür, dass sie nun wieder in wärmere Gefilde kamen - und zerquetsche mit unnötig roher Gewalt ein paar der kleinen, rotweißen Blüten. »Ich weiß nicht, was mit dir los ist«, sagte er in den Wald vor sich hinein, und vielleicht waren die Worte tatsächlich gar nicht an das Mädchen gerichtet, das offensichtlich Mühe hatte mit ihm Schritt zu halten, sondern an das, was ihn gerufen hatte, um Enwor vor der drohenden Vernichtung zu bewahren.

»Was soll mit mir los sein?«, fragte Esanna. »Verdammt, Skar ... kannst du nicht etwas langsamer gehen? Was soll diese plötzliche Hetze?«

»Vielleicht hat dich ja jemand geschickt«, flüsterte er. »Vielleicht hat dich jemand auf mich angesetzt.«

Er hatte so leise gesprochen, dass ihn das Mädchen gar nicht verstehen konnte. Er wusste nicht, was ihn am Fluss erwarten würde, dessen Nähe er jetzt bereits zu riechen glaubte, aber vielleicht war jetzt die letzte Möglichkeit für sie beide Dinge zu erklären, die unausgesprochen zwischen ihnen standen - und sie dennoch miteinander vereinten. Ob sie das ähnlich sah, konnte er nicht beurteilen. Falls das so war, änderte es jedenfalls nichts an ihrem Verhalten. Die Unruhe, die sie erfasst hatte, mochte aber auch noch teilweise eine Nachwirkung der Nacht sein, die sie und Skar an den Rand von etwas getrieben hatten, auf was er sich - zumindest im Moment - auf keinen Fall einlassen wollte. »Wir sollten miteinander reden, Skar«, sagte Esanna hinter ihm. »Wir können doch nicht einfach so weiterziehen ...«

»Still«, zischte Skar. Er war abrupt stehen geblieben; erschreckt nicht durch ein Geräusch, sondern durch einen ihm nur allzu bekannten Geruch: den Geruch des Todes. Wie von selbst schmiegte sich seine Hand um den Griff des Tschekals. Aber er zog die Klinge noch nicht, nicht, bevor er eine ungefähre Ahnung hatte, was ihn erwartete.

»Was ist los?«, flüsterte Esanna.

Sie trat dicht an ihn heran, beunruhigt und auf eine seltsame Weise erregt. Ihre Hand schob ihr Gewand hoch und kam mit ihrem Messer wieder hervor. »Hast du etwas gehört?« Skar schüttelte den Kopf. »Nein«, gab er ebenso leise zurück. »Ich habe nichts gehört. Noch nicht. Aber ich rieche etwas.«

»Du tust... was?« Esannas große Augen starrten ihn überrascht an.

»Es muss ein Kampf stattgefunden haben«, sagte Skar. »Es liegen mehrere Tote vor uns. Gar nicht weit entfernt. Vielleicht zwei-, dreihundert Schritte.«

»Und das riechst du alles?«

»Sicher.« Skar schob ein paar eng stehende, zwergenhafte Kalypso-Bäume auseinander, die den Pfad vor ihnen verengten. »Den Tod mit der Nase zu orten, ist nicht schwer. Viel schwerer ist es dagegen, Lebende auf diese Weise ausfindig zu machen.«

»Du meinst, wir stolpern geradewegs in einen Hinterhalt, wenn wir weitergehen?«, fragte Esanna.

Sie stand jetzt so nah neben ihm, dass es Skar mehr als irritierte. Der Geruch ihres heute Morgen an der Quelle frisch gewaschenen Körpers überlagerte den süßlichen Leichengeruch; es war so viel Lebendigkeit in ihr, dass ihm der Gedanke an den Tod - und an die Toten, die irgendwo vor ihnen lagen - mehr als abwegig erschien.

»Wir gehen jetzt weiter«, sagte Skar leise. »Aber vorsichtig.«

»Wäre es nicht besser, einen anderen Weg zu suchen?« Ihr Schenkel streifte sein immer noch nacktes Bein und Skar zuckte zusammen, als ob man ihn geschlagen hätte. »Es kann sein«, sagte er heiser. »Vielleicht. Aber ich muss wissen, was dort vorne ist.«

»Warum?«

»Ich muss es einfach wissen«, knurrte Skar, nicht bereit noch länger auf Esanna einzugehen. »Komm jetzt.«

Schweigend und angespannt gingen sie weiter. In Skar war gleichzeitig eine unglaubliche Leere und das Gefühl, tausend Stimmen würden auf ihn einreden. Esanna hielt sich jetzt so dicht bei ihm, dass ihr Geruch noch immer den des Todes auslöschte und er nahm ihre Anwesenheit in einer Intensität wahr, die ihn gleichermaßen anzog wie abstieß. Es war nicht gut, die gespannten und in gewisser Weise übersteigerten Sinne des Kriegers durch jemanden, durch etwas ablenken zu lassen, das vielleicht zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort seine Berechtigung haben mochte ... Er krampfte die Finger um den Schwertgriff und öffnete die Augen so weit er konnte, versuchte seine Wahrnehmung auf das zu konzentrieren, was vor ihm war, versuchte seine Sinne vorauszuschicken und sie prüfen zu lassen, ob sich hier irgendwo Krieger versteckt hielten, die ihn - oder überhaupt alle Reisenden - in eine Falle locken wollten. Schließlich schaffte er es, Esannas Nähe aus seinem Bewusstsein auszublenden. Die Vegetation begann sich merklich zu verändern; sie würde üppiger. Neben frischen Grüntönen mischten sich auch rote, weiße und gelbe Farbtupfer ins sprießende Unterholz und Buschwerk, dazu Farne aller Art und sogar ein paar wild sprießende Blumen.

Es war nirgends ein verräterisches Aufblitzen zu sehen. Dennoch konnte er geradezu spüren, dass hier etwas nicht stimmte. Hinter einem wild sprießenden Kalypso-Hain stieß er schließlich auf den Beweis für seine Vermutung.

»Oh, mein Gott«, stieß Esanna hervor, als sie neben ihn trat und auf den Weg starrte, der sich vor ihnen auftat und der aussah, als wäre ihn der Frarr ein paarmal entlangspaziert. »Hier muss ja eine ganze Kompanie Soldaten vorbeigekommen sein.«

Skar schob das Buschwerk auseinander, das den Weg von dem Wildpfad trennte. Er trat auf das breit getretene, matschige Stück Erde hinaus, das irgendwo seitwärts aus dem Wald kam und nach einer Kurve in einem üppigen Waldstück verschwand - fast in gradliniger Verlängerung des von ihnen begangenen Pfades und damit in Richtung Pojoaque. »Es waren nicht nur Menschen«, sagte er, während er in die Hocke ging, um die Spuren zu untersuchen. »Das sieht mir eher nach Quorrl aus.«

»Verdammt.« Esanna packte unwillkürlich ihr Messer fester, als wäre sie sich nicht bewusst, wie lächerlich diese Waffe auf einen angreifenden Reptilienkrieger wirken musste. »Ich habe doch gewusst, das sich diese Tiere hier irgendwo in der Gegend herumtreiben.«

Skar unterdrückte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag. »Ich glaube nicht, dass sie noch hier sind«, sagte er stattdessen. »Die Quorrl-Spuren sind relativ alt... aber hier, siehst du ... das sind Pferdehufe, die sich nicht so tief eingegraben haben; es müssen menschliche Reiter gewesen sein. Und hier sind sogar die Abdrücke von ein paar Stiefeln - nach den Quorrl müssen hier noch Menschen langgekommen sein.«

»Auf der Flucht vor den Quorrl«, sagte Esanna voller Hass, »weil diese Monster von Digger-Dorf zu Digger-Dorf ziehen und eines nach dem anderen auslöschen.«

»Wenn ich die Spuren richtig deute, waren die Quorrl in voller Kampfmontur«, bestätigte Skar und richtete sich wieder auf, »aber niemand sagt uns, dass sie gegen die Digger gezogen sind.«

»Natürlich nicht«, sagte Esanna scharf. »Ich hatte ja ganz vergessen, dass du ein Quorrl-Freund bist!«

Skar zuckte mit den Achseln. »Wenn du meinst. Ich sehe das zwar etwas anders: Aber lass uns das nicht hier und jetzt besprechen. Ich fürchte, wir werden am Fluss noch eine böse Überraschung erleben. Und nun komm.«

Esanna starrte ihn sprachlos an. »Du willst in dein Verderben rennen?«, fragte sie scharf. »Obwohl du weißt, dass am Pojoaque eine Horde Quorrl auf uns lauert?«

»Ich glaube kaum, dass sie auf uns lauern«, sagte Skar. »Es passt nicht zu den Quorrl, sich tagelang irgendwo festzusetzen in der vagen Hoffnung, es käme jemand vorbei, den sie niedermachen könnten.«

»Was passt denn dann zu ihnen?«

»Das eben will ich herausfinden«, sagte Skar. Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und begann den Weg in Richtung Fluss hinabzugehen; Esanna blieb gar nichts anders übrig, als ihm zu folgen, wollte sie nicht alleine in dieser Einöde stehen bleiben.

Auf dem Weg kamen sie wesentlich schneller voran als auf dem Wildpfad. Skars Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt. Der Wald war hier nicht so dicht, dass sich Quorrl in ihm hätten verbergen können, ohne dass er sie bemerkt hätte. Trotzdem fühlte er sich alles andere als wohl. Es war still hier, fast unnatürlich still angesichts des wuchernden Grüns; selbst die Vögel hielten sich zurück mit ihrem Gesang, so als spürten auch sie den nahen Tod, dessen jetzt geradezu beißender Gestank Skar in die Nase stieg.

Sie brauchten nicht weit zu gehen, bis sie das Ende des Waldes erreicht hatten: Er hörte einfach von einem Moment auf den anderen auf, ohne in Buschwerk auszulaufen, fast, als wäre er einst künstlich so angelegt worden. Sie verlangsamten automatisch ihre Schritte und bei dem Gedanken, dass sie in eine Falle laufen konnten, aus der es kein Entrinnen mehr gäbe und in der Esanna den Tod finden könnte, krampfte sich in Skar etwas so sehr zusammen, dass ihm die Knie weich wurden.

»Hinter den letzten Bäumen liegt der Pojoaque«, flüsterte Esanna, während sie wie Skar jetzt vollends stehen blieb. Skar nickte. Das Rauschen gleichmäßig gleitenden Wassers war laut und deutlich zu hören, ein fremdartiger und doch vertrauter Laut, der so eintönig wirkte, als würde er nicht den Gesetzen der Zeit unterliegen. Er wurde sich plötzlich bewusst, dass er diesen Fluss zumindest vom Hörensagen kennen musste; wenn auch wahrscheinlich unter einem vollständig anderen Namen. Den Ausdruck Pojoaque hatte er jedenfalls in noch keinem Zusammenhang gehört - und schon gar nicht in Bezug auf einen großen Strom.

»Vorsichtig jetzt«, sagte Skar. Er zog sein Schwert, doch das vertraute Gewicht des Sternenstahls vermochte ihn diesmal nicht zu beruhigen. Es war nicht so sehr die Sorge vor einem Kampf, den er vielleicht nicht zu bestehen vermochte, als vielmehr die Sorge um das Mädchen, das ihn nervös machte.

»Was tun wir?«, fragte Esanna und in diesem Moment wirkte sie fürchterlich jung und verletzlich.

»Du wartest hier«, sagte Skar. »Und ich sehe mich um.« Esanna schüttelte den Kopf. »Wir sehen uns um.«

Skar wollte zu einer scharfen Entgegnung ansetzen; aber als er ihrem Blick begegnete, unterdrückte er seine Bemerkung. Esanna war blass, verletzlich und sowohl körperlich als auch seelisch überfordert - aber sie hatte auch einen Dickkopf, der seinem in nichts nachstand. Außerdem war es fraglich, ob sie hier alleine sicherer sein würde als mit ihm zusammen am Fluss.

»Also gut«, sagte Skar. »Dann komm.«

Mit wenigen Schritten hatten sie den Waldrand erreicht. Der Anblick des Flusses traf ihn wie ein Schlag; er war ganz ähnlich, wie er ihn erwartet hatte und doch ganz anders. Der Strom lief hier breit und mächtig über ein Kiesbett, in das sich größere und kleinere Felsen eingegraben hatten wie Wachposten einer vergessenen Welt. An einigen Stellen gischtete das Wasser gegen den harten Widerstand größerer und kleinerer Felsbrocken an; ansonsten lief es eher träge und gelassen abwärts, als verfüge es über das sichere Bewusstsein, dass nichts es aufhalten konnte.

Aber das war nicht alles.

Ein beißender Geruch, ein süßlicher Leichengestank trieb von der Wasseroberfläche herauf und verpestete die frische, klare Bergluft; hier und da brach sich Licht, von dem er nicht wusste, woher es kam, auf den Wellen und das Geräusch des Wassers war zu einem machtvollen, dumpfen Rauschen angestiegen. Dunkle Körper lagen im Uferschlamm, silbrig glänzende Waffen und zerborstene Schilde, doch erst beim Näherkommen erkannte Skar, wer sich da im erbitterten Kampf begegnet war: Es waren einige von Armbrustbolzen oder Lanzen durchbohrte geschuppte Giganten darunter, gut ausgestattete Quorrl-Krieger, aber die meisten waren armselig gekleidete Menschen, Digger höchstwahrscheinlich, und ein paar junge Männer, die die gleiche Kleidung trugen wie er selbst: Satai.

Es war nicht neu, dass Quorrl und Satai gegeneinander kämpften. Aber das hier war etwas anderes, das spürte Skar sofort. Es sah so aus, als würden sich Digger und Satai gemeinsam sammeln, um die Quorrl so lange zu hetzen, bis auch der Letzte von ihnen tot war.

»Diese verfluchten Quorrl«, sagte Esanna. Sie hielt den Arm unter die Nase gepresst, wohl um den üblen Gestank von Tod und Verwesung so gut wie möglich abzumildern. »Sie haben sie einfach niedergemetzelt.«

Skar schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick über den Fluss und das gegenüberliegende Ufer wandern. Er suchte nach einem Hinweis, einem Zeichen, das ihm die Anwesenheit lebender Menschen oder Quorrl verriet. Vor allem aber hielt er nach allem Ausschau, was sich als Anzeichen für einen Hinterhalt deuten ließ; nach umgestürzten Bäumen, die so ausgerichtet waren, dass sie einen perfekten Sichtschutz bildeten, nach der Reflexion von Metall oder glatt poliertem Lederzeug im Dickicht des Ufers, nach kaum wahrnehmbaren Bewegungen am Waldrand oder hinter größeren Felsen inmitten des Flusses.

»Ich sehe mir das mal etwas näher an«, sagte er leise. Esanna widersprach ihm nicht, als er alleine die wenigen Schritte bis zum Schlick zurücklegte und sich in die Hocke hinabließ, um einen der Satai, der mit dem Gesicht im Schlamm lag, herumzudrehen. Das bereits von Würmern durchzogene Gesicht schien ihn höhnisch anzugrinsen, so als wolle es Skar noch im Tod verspotten. Die Hand des Toten hielt eine Armbrust umklammert, die keinen einzigen Bolzen mehr enthielt.

»Diese feigen Mörder«, sagte Esanna. Sie trat an den Toten heran und starrte wie benommen auf ihn herab. »Die Quorrl haben ihn einfach abgeschlachtet.«

Skar sah zu ihr hoch und richtete sich dann langsam wieder auf; er ließ seinen Blick wachsam über die nähere und weitere Umgebung schweifen, jederzeit darauf gefasst, bei dem geringsten Anzeichen einer Gefahr konsequent zu reagieren. »Ich glaube nicht, dass die Quorrl ihn und die anderen abgeschlachtet haben«, sagte er dann. »Es sieht eher so aus, als ob die Quorrl in einen Hinterhalt geraten wären.«

»Immer wieder nimmst du die Quorrl in Schutz«, sagte Esanna voller Wut und frischem Schmerz. »Aber selbst, wenn du in diesem Fall Recht hättest: Diese Monster haben den Tod tausendfach verdient!«

Skar wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit ihr auf einen Streit darüber einzulassen. Die Fakten sprachen auch so für sich: Wären es wirklich die Quorrl gewesen, die hier einer Gruppe Menschen einen Hinterhalt gelegt hätten, dann wäre dieser Satai wohl kaum dazu gekommen, seine Armbrust leer zu schießen. Ganz abgesehen davon, dass ihn eine solche Waffe in den Händen eines Satais mehr als befremdete, ja, sie kam ihm regelrecht obszön vor.

»Die Quorrl wollten an dieser Furt den Fluss überschreiten«, sagte er und die Sicherheit, mit der er seine Worte wählte, zeigte deutlich, dass er von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugt war. »Die Digger haben sich dort hinter den Steinen versteckt«, er deutete auf eine Reihe moosbewachsener Felsen hinter ihnen, »sie schossen ihre Bogen und Armbrüste leer, als die Quorrl in der Mitte der Furt waren, und stürmten ihnen dann entgegen. Im gleichen Moment griffen die Satai im Rücken der Quorrl an: So lange müssen sie gewartet haben, um die Quorrl in der Sicherheit zu wiegen, ihr Heil im Angriff und nicht erst einmal im Rückzug zu suchen.« Er schüttelte den Kopf, als könne er es selbst nicht glauben. »Es war ein geplantes Gemetzel. Aber warum hier? Warum so weit in den Bergen?«

Die Worte trafen Esanna wie eine schallende Ohrfeige. »Was für einen unglaublichen Schwachsinn redest du da?« Ihre Augen glitzerten vor Wut, aber da war auch noch etwas anderes in ihnen, ein verräterisches Glitzern wie von mühsam unterdrückten Tränen. »Die Tiere haben die Digger abgeschlachtet, bevor die Satai ihnen in letzter Sekunde zur Hilfe gekommen sind, um sie zu retten.«

»Wohl kaum«, sagte Skar leise. »Es war ein Hinterhalt, glaube mir.«

»Woher willst du das überhaupt wissen? Du warst doch nicht dabei.«

»Ich war nicht dabei, aber ich sehe die Spuren des Kampfes«, antwortete Skar. »Dort, von den Felsen nahe am Waldrand bis zum Wasser, liegen mehrere tote Digger, auf der anderen Seite des Flusses sind es tote Satai...«

»Also könnte es doch genauso gewesen sein, wie ich gesagt habe: Die Quorrl haben die Digger angegriffen und wurden dann später von den Satai gerettet.«

Skar drehte sich einmal auf seinem Absatz um die eigene Achse, darauf gefasst, irgendein Anzeichen eines bevorstehenden Angriffs zu sehen. Aber da war einfach nichts - nichts bis auf die Toten, die nun schon tagelang schutzlos der Witterung ausgesetzt waren. »Nein«, widersprach er dann. »Nicht so, wie die Quorrl von Bolzen, Pfeilen und Lanzen geradezu zerstückelt wurden. Wären sie die Angreifer gewesen, wären die Digger kaum noch zu einem Schuss gekommen...«

»Und wenn schon! Was macht es für einen Unterschied, Skar, was für einen? Erklär mir das mal bitte!« Bevor sie Skar daran hindern konnte, rannte Esanna ein paar Schritte auf einen toten Digger zu und zog den Mann, der halb im Wasser gelegen hatte, ein Stück hoch und drehte ihn vom Rücken auf die Seite. Es war kein schöner Anblick: Der Hieb eines Zackenschwertes hatte ihn zwischen Schulter und Hals erwischt und war mit schier unglaublicher Gewalt bis übers Brustbein eingedrungen. Hätte der Quorrl, der den tödlichen Hieb geführt hatte, noch etwas weiter ausgeholt, hätte er den Digger wahrscheinlich regelrecht gespalten. »Da!«, schrie sie vollkommen außer sich. »Siehst du es nicht? Es war eines dieser Monster und es hat diesen Mann umgebracht! Es hat ihn einfach in zwei Stücke gehauen! Und da kommst du und willst mir irgendetwas erzählen von ...« Der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter. Skar wandte betroffen den Kopf ab. Wie er diese Gewaltspirale hasste, das Töten, die Rachsucht, die auf allen beteiligten Seiten immer mehr Angst, Schrecken und Grauen verursachte, aber auch den brennenden Wunsch jedem eigenen Toten mindestens einen, wenn nicht mehrere Gegner folgen zu lassen, den Willen zur Vergeltung, der schon in kleine Kinder versenkt wurde mit dem Ziel, aus ihnen perfekte Tötungsmaschinen zu machen, wenn die Zeit gekommen war: Und wieder einmal war diese Zeit gekommen.

Wahrscheinlich war das der Grund, warum Kama - und das, was hinter ihm stand - ihn für fähig hielt dem sinnlosen Sterben ein Ende zu bereiten. Er, der selber hunderten von Menschen und dutzenden von Quorrl das Leben genommen hatte, der als Befehlshaber tausender Krieger für mannigfaltigen Tod verantwortlich war, war auch einer der erbittertsten, weil erfahrensten Gegner von Vernichtungsfeldzügen. Er wusste wie kaum einer anderer Mensch, dass neun von zehn Kämpfen vermeidbar und im höchsten Maße überflüssig waren, dass es nur wenige Gründe gab einander zu hassen und zu töten.

Aber das war noch nicht alles. Hier, im Angesicht des sinnlosen Todes viel zu vieler Krieger und Digger, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er alles daransetzen musste, um diesem fürchterlichen Kampf zwischen Menschen und Quorrl ein Ende zu bereiten. Er musste, falls ihm das Schicksal wirklich dazu die Macht in die Hände gespielt hatte, Menschen wie Esanna vor dem Schrecken weiterer sinnloser Massaker bewahren.

Doch er zweifelte stark daran, dass er wirklich den Schicksalsfaden Enwors in eine andere Richtung spinnen konnte. Er war ja schon kaum in der Lage, dieses Kind zu bändigen, das jetzt mit rot geweinten Augen auf ihn zukam und ihm trotz seiner Trauer mit einer Mischung aus Trotz und Hass entgegenstarrte. »Und was jetzt, großer Skar?«, fragte Esanna herausfordernd. »Willst du jetzt immer noch behaupten, alles sei nur ein großes Missverständnis?«

»Kein Missverständnis«, sagte Skar hilflos, »jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Sondern ein Irrtum. Ein verdammter Irrtum, weil nicht die Quorrl...« Er brach seinen Satz abrupt ab. Es waren die Erlebnisse der letzten Nacht und das Gespräch mit Kama, die ihn fast hätten sagen lassen: »Weil nicht die Quorrl eure Gegner sind.« Aber doch, das waren sie. Die Quorrl waren die Gegner der Digger, aber sie waren, so hatte es zumindest Kama behauptet, nicht die Gegner der Menschen und übrigen Bewohner Enwors, sondern, ganz im Gegenteil, ihre wertvollsten Verbündeten. »Dir gehen die Argumente aus, Satai«, sagte Esanna schroff. »Du weißt nicht mehr, was du sagen sollst angesichts dessen, was du hier siehst.«

»Das mag sein«, gab Skar zu, »weil ich deinen Schmerz verstehen kann und das Gefühl Rache nehmen zu müssen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass du im Recht bist.«

»Du verdammter, eingebildeter Narr!«, schrie Esanna. »Bist du nur in die Welt zurückgekommen, um mich mit diesen Sprüchen zu quälen? Bist du nur wieder geboren worden, um das Unglück der Menschen zu verspotten?«

Es hätte vieles gegeben, was Skar darauf hätte erwidern können, aber nichts, was wirklich bis zu dem Mädchen durchgedrungen wäre. Einen Moment lang sah er es noch an, dann wandte er sich wortlos um und machte sich daran, die Furt zu durchschreiten, diesen einzigen Übergang weit und breit, der sie zurückbringen würde in das, was die meisten Menschen Zivilisation nannten. Die Strömung war schnell und tückisch, aber das Flussbett an dieser Stelle so breit, dass sich das Wasser ausladend über viele Felsen und Kieselansammlungen ergießen konnte und deshalb auch an der tiefsten Stelle höchstens hüfthoch war.

In der Mitte des Flusses lagen zwei Quorrl, die von mehreren Pfeilen regelrecht aufgespießt worden waren; einer von ihnen war noch nicht einmal dazu gekommen, sein Schwert zu ziehen. Das und die Lage der anderen Toten bestätigten seine Annahme über den Ablauf des Kampfs. Aber Esanna hatte zumindest in diesem einen Punkt Recht: Es machte keinen Unterschied, wer hier wem aufgelauert hatte. Jetzt nicht mehr und vielleicht sogar schon lange nicht mehr. Zu viel war mittlerweile geschehen und nichts würde den Lauf der Ereignisse mehr ändern können - wenn sich nicht jemand dagegenstemmte, der schon gezwungenermaßen über den Dingen stand.

Während er die Mitte des Stroms erreichte und das Wasser spürte, das seine Beine gleichsam sacht und fordernd umspielte, so als wollte es austesten, ob es ihn mitreißen konnte, erwartete er jeden Moment einen harten Aufprall zu spüren, von einem oder mehreren Pfeilen durchbohrt zu werden. Aber mehr noch fürchtete er dunkle Schatten im Wasser und bei jedem größeren Fisch, den er die Strömung durchschneiden sah, durchzuckte es ihn eiskalt: Auch wenn ihre Form weit weniger schnittig war und ihre Bewegungen an Eleganz vermissen ließen, erinnerten sie ihn an die Khtaám und es hätte ihn nicht verwundert, wenn plötzlich ein Schwarm der schwarzen Nachtmahre durchs Wasser geglitten wäre, um wie eine Schar Piranhas direkt auf ihn zuzuhalten und über ihn herzufallen.

Mittlerweile fürchtete er die Manifestationen des Khtaám mehr als den Tod; er hatte nicht vergessen, was in ihm vorgegangen war, als er am Rande des Schlunds gestanden hatte, wie stark und verlockend der Sog der Tiefe gewesen war und zu welcher Tat er fähig gewesen war angesichts der Unendlichkeit, die sich unter ihm aufgetan hatte. Aber er war es sich und dem Mädchen schuldig, als Erster die Furt zu durchschreiten. Wenn ihm die Überquerung unbeschadet gelang, dürfte das Risiko für Esanna weitaus geringer ausfallen - falls ihnen nicht am anderen Ufer eine böse Überraschung drohte.

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