Der erste halbwegs klare Gedanke war Erstaunen, Verwunderung darüber, dass er noch lebte, dass er zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit das Bewusstsein verloren hatte, ohne vollends in die lockende Schwärze abzudriften. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er spürte seinen Körper nicht, sondern hatte das Gefühl, schwerelos in einem großen, warmen Nichts zu schweben, in dem es kein Oben, kein Unten, kein Rechts oder Links gab, sondern nur Leere und Einsamkeit. Er war sich vollkommen bewusst, dass sich das Dunkel nur widerwillig lichtete, so als zöge ihn etwas immer weiter zurück in die Behaglichkeit grenzenlosen Vergessens, als verspräche ihm etwas das Ende allen Leidens. Aber da war auch noch etwas anderes; ein kaum hörbares Wispern und Herantasten. Es hatte nichts zu tun mit dem mühsamen Emportasten in die Wirklichkeit, wie sonst, wenn er aus einem sehr tiefen, erschöpften Schlaf erwachte. Es war etwas ... in ihm, eine zarte, nur allzu vertraute Berührung, die dennoch so fremd war, dass ihn ein kalter Schauder überlaufen hätte, wenn er seinen Körper gespürt hätte. Das fremde, substanzlose Etwas ließ nicht nach, sondern im Gegenteil: Es griff entschlossen nach seinen Gedanken, streckte seine Fühler aus ... wie ein feines, filigranes Netz, das sich fast unmerklich über ihn stülpte, um die Kontrolle über ihn zu erlangen. Das sich langsam steigernde Bohren und Herumstochern wurde allmählich immer unangenehmer, steigerte sich zu einem peinigenden Drängen, bis es so unerträglich wurde, dass alles in ihm danach schrie, die tiefe Schwärze der Bewusstlosigkeit endlich vollkommen abzuschütteln und hinaufzutauchen in die Welt, was auch immer ihn dort erwarten würde. Doch die unsichtbare zähe Wand, die ihn in einem Kosmos aus Schwärze und Wärme gefangen hielt, ließ sich nicht so ohne weiteres beiseite schieben und fast schien es ihm, als wollte sie ihn für immer ins Vergessen zurückdrängen. Er kämpfte dagegen an, versuchte die Fesseln der Ohnmacht abzustreifen, obwohl er sie andererseits genoss: das Gefühl, frei von jeder Verantwortung und Entscheidung zu sein und nicht einmal denken zu müssen, solange er nur nicht die Augen aufschlug. Denn er ahnte, dass die Wirklichkeit schlimmer sein würde als alle quälenden Erinnerungen und als das fremd-vertraute Tasten in seinem Kopf.
Dann berührte eine Hand seine Schulter und der Schleier zerriss; er erwachte. Bevor er überhaupt noch begriff, wo er war und wie er hierher gekommen war, jagte glühender Schmerz durch seinen Körper, ein Schmerz, der keinen Ursprung zu haben schien und sich ausdehnte und in seinem Körper wühlte, als wollte er ihn gleich wieder in die Schwärze des Vergessens zurückschicken. Doch dagegen hatte offenbar jemand etwas. Der Unbekannte schlug ihm ins Gesicht, nicht sehr fest, aber beständig, und eine helle Stimme rief immer wieder seinen Namen.
Er versuchte die Augen zu öffnen, aber es wurde nur ein schwaches Blinzeln daraus, kaum ausreichend, um zu erkennen, dass er auf dem Rücken inmitten einer gewaltigen Trümmerhalde lag. Das schwache grünliche Licht, das diesen Teil der Höhle erleuchtete, blendete ihn zwar nicht, war ihm aber merkwürdig unangenehm und um ein Haar wäre er wieder in das schwarze Treiben zurückgeglitten, das ihn noch immer mit ewigem Vergessen lockte und umwarb.
Eine erneute und diesmal deutlich heftigere Ohrfeige brachte ihn in die Wirklichkeit zurück und dann zerriss der dünne Schleier endgültig, den die Bewusstlosigkeit zwischen ihn und seine Sinne gesenkt hatte, und er begann zu begreifen, woher die Bruchstücke und Gesteinsbrocken gekommen waren, die diesen Bereich der Höhle wie eine Abbruchhalde zugeschüttet hatten. Noch immer halb verzerrt von treibenden grauen Schleiern, starrte er in Esannas Gesicht.
Zwei kräftige Hände hatten ihn am Kragen gepackt und halbwegs in die Höhe gezerrt, während Esanna ihn abwechselnd rechts und links ohrfeigte, als sei das der einzige Weg ihn aus dem Reich der Schatten zurückzuholen. Vielleicht war er das auch, denn noch immer fühlte Skar das begehrliche Versprechen der Dunkelheit, nie wieder Verantwortung übernehmen zu müssen, wenn er sich ihr nur ergab.
Esanna schlug noch drei-, viermal zu, dann schien sie endgültig davon überzeugt zu sein, dass er wieder bei Bewusstsein war. Die andere Person, die Skar nicht erkennen konnte, weil sie in seinem Rücken war, zog ihn wie eine willenlose Puppe ein Stück weiter und lehnte ihn gegen einen kalten Steinquader. Sofort sackte er wieder zusammen, aber Esanna zerrte ihn hoch und stützte ihn mit einer fast behutsamen Bewegung, die nach ihren Schlägen seltsam deplatziert wirkte.
»Verstehst du mich?«, fragte sie besorgt.
Er nickte und auf ihrem Gesicht machte sich ein erster Schimmer vorsichtiger Erleichterung breit. »Alles in Ordnung mir dir?«, fragte sie noch einmal.
»Ja«, stöhnte er. »Aber du kannst aufhören auf mich einzuschlagen. Ich habe für heute genug.«
Esanna atmete hörbar auf, ließ seine Schultern los - und griff rasch wieder zu, als er erneut zur Seite zu kippen drohte. Die Schmerzen ebbten allmählich ab, aber in seinem Kopf drehte sich alles und er hätte nicht sagen können, dass er auch nur im Entferntesten eine Ahnung hatte, was genau passiert war.
»Was... ist... passiert?«, fragte er. Seine Stimme war nicht viel mehr als ein heiseres Krächzen, das mit menschlichen Lauten kaum noch etwas zu tun hatte.
»Ich dachte, du seist tot«, sagte Esanna leise. »Du bist voller Blut... und voller Wunden.«
Skar starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal und nickte dann langsam. »Das ... dachte ich auch.«
»Das du tot seist?«
»Ja. Nein.« Skar schüttelte mühsam den Kopf. »Ich dachte, die Khtaám hätten dich erwischt.«
»Die Khtaám? Meinst du damit diese fliegenden Ungeheuer?«, fragte Esanna entsetzt und fügte hinzu, nachdem Skar genickt hatte: »Bei den schwarzen Göttern von Moron: Du kennst diese Monster?«
Skar seufzte und legte den Kopf gegen den harten Stein. Das hätte er besser nicht getan, denn sofort zuckte ein scharfer Schmerz durch seinen Kopf. »Kennen ... ist zu viel gesagt«, murmelte er mühsam.
»Er kennt sie nicht«, stellte eine andere Stimme nüchtern fest.
Skar war nicht sonderlich überrascht, dass sich Kama in sein Blickfeld schob. »Er sie haben vielleicht schon einmal gesehen«, sagte Kama. Er hockte sich wie selbstverständlich neben Esanna auf den Boden, mit übereinander geschlagenen Beinen und einer entspannten Haltung, die seiner blutverkrusteten Stirn und den zerrissenen Kleidern Hohn sprach. »Aber kennen? Nein.«
»Natürlich kenne ich sie«, knurrte Skar. »Ich hatte schon mal das Vergnügen. Vor ein paar ... Jahrhunderten.«
»Nein, nein.« Kama schüttelte den Kopf. »Du nicht haben die geringste Ahnung.«
»Von ... was?«, fragte Skar Kama antwortete nicht gleich und sein Blick ging an Skar vorbei in das wattige Schwarz, das am Rand des von dem grünlichen Licht einigermaßen beleuchteten Höhlenteils wie ein Ungeheuer auf sie lauerte. Skar hatte für einen Moment die absurde Vorstellung, dass sich die Schwärze stückchenweise vorschob, wie ein lebendiges Wesen, das es auf sie abgesehen hatte. Aber vielleicht war es ja auch nicht die Schwärze - vielleicht war es irgendetwas in der Schwärze. »Von dem, was alles zusammenhält«, antwortete Kama schließlich, ohne den Blick von der Dunkelheit zu wenden. »Zusammenhält«, wiederholte Skar. Er versuchte die immer noch drohende Bewusstlosigkeit zurückzudrängen, die sich wie ein schwarzes Tuch über ihn legen wollte. »Was hält denn ... alles zusammen?«
Kama machte ein Zeichen und plötzlich, wie aus dem Nichts, standen zwei weitere Nahrak neben ihnen. Obwohl auch sie von größeren und kleineren Wunden übersät waren, bewegten sie sich mit einer geradezu unglaublichen Eleganz. »Das wirst du noch verstehen«, sagte Kama schließlich. »Aber erst sammle Kraft, damit wir können gehen. Wir hier nicht sind mehr lange sicher.«
Alle drei Nahrak starrten wie gebannt in das Schwarz hinter ihnen und Skar begriff, dass sie vor irgendetwas Angst hatten. Mühsam versuchte er sich weiter aufzurichten, um ihren Blicken besser folgen zu können, aber selbst diese kleine Anstrengung überstieg seine Kräfte. Zudem schien es ihm so, als arbeiteten seine Sinne nicht mehr richtig und zeigten ihm nur noch einen kleinen, auf das Wesentliche reduzierten Ausschnitt der Welt, sodass er kaum mehr erkennen konnte als grünlich angestrahltes Gestein, das sich irgendwo in einer pechschwarzen Nacht verlor.
»Wo sind die Khtaám?«, fragte er. »Wo ... wo sind wir? Und wo müssen wir hin?«
»Eine Menge Fragen«, stellte Kama fest.
»Die Höhle ist... zusammengebrochen«, sagte Skar. »Und wir sind ... hinabgestürzt«. Er legte den Kopf in den Nacken, ignorierte den stechenden Schmerz in seiner Schultermuskulatur und starrte hinauf in die schwarze Unendlichkeit, aus der sie gekommen sein mussten, hinabgestürzt, nachdem der Boden unter ihren Füßen plötzlich nachgegeben hatte. Doch dort, über ihm, war einfach ... nichts. Die äußersten Ausläufer des grünen Lichtes endeten ein paar Zoll über den Köpfen der Nahrak. »Nach dem Zusammensturz der Höhle ... was ist aus den Khtaám geworden? Wieso haben sie uns nicht verfolgt?«
»Das ist doch nicht wichtig«, sagte Esanna. »Ein Glück nur, dass du den Sturz überstanden hast.«
Skar wandte sich gleichermaßen mühsam wie überrascht zu ihr um. Ihr schmaler, zierlicher Körper wirkte noch zerbrechlicher als der der Nahrak, aber offenbar war sie genauso zäh wie die Hüter des Waldes. Soweit er erkennen konnte, war sie bis auf ein paar Prellungen und einen blutigen Kratzer auf der Wange unverletzt. »Wie ... wie hast du das gemacht?«
»Was gemacht?«
Skar zog ächzend die Knie an den Körper. Die Umgebung verschwamm fast vor seinen Augen und er musste ein paarmal blinzeln, bevor er Esanna wieder einigermaßen erkennen konnte. »Du bist... unverletzt.«
»Ja, ich habe Glück gehabt«, sagte das Mädchen leise. Obwohl Skar das leichte Zittern in ihrer Stimme nicht entging, setzte er nach: »Die Khtaám hatten dich doch schon erwischt. Ich dachte schon, du seist tot.«
»Ich weiß«, sagte Esanna noch einmal. »Ich habe Glück gehabt. Oder auch nicht...« Sie brach gequält ab. Erst nach einer Weile fuhr sie niedergeschlagen fort: »Vielleicht wäre es besser gewesen, die Quorrl hätten mich gleich erschlagen. Dann wäre ich mit meinem Vater und den anderen zusammen statt... hier.«
Skar nickte. Er konnte sie verstehen. Und doch traute er ihr nicht. Irgendetwas war geschehen, dort oben in der Höhle, kurz nachdem die Khtaám sie angegriffen hatten: Er hatte nicht vergessen, wie sie ein paar der Monstren abgewehrt hatte. Und er konnte sich auch noch allzu gut daran erinnern, dass sie wie tot in einer schmierigen, zuckenden Schicht gelegen hatte, die sie eigentlich hätte ersticken müssen - oder bei lebendigem Leib auffressen.
»Wie hast du die Khtaám vertrieben?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Esanna. Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie sie in ihrem Schoß versteckte.
»Als sie dich angriffen, hast du die Hände vorgestreckt«, fuhr Skar fort, doch während er es aussprach, kam er sich vor, als würde er einen Frevel begehen, als wäre es besser, nicht an diesen Punkt zu rühren. »Und dann hast du irgendetwas ... gemacht, was sie vertrieben hat. Aber was?« Esanna antwortete nicht, klammerte stattdessen die Arme um die Knie und wippte wie selbstvergessen hin und her. Es war ein bedrückendes Schweigen, das sich in der Höhle ausbreitete, mehr ein Lauern auf eine Gefahr, auf den nächsten Angriff - oder auch auf eine Bemerkung, die besser ungesagt blieb. Aber das war nicht alles, wie Skar fast schmerzlich bewusst wurde. Es war still in diesem unterirdischen Teil des Berges, viel stiller, als es hätte sein sollen. Das Stöhnen und Wimmern der Sterbenden und Schwerverletzten, das nach dem brutalen und hinterhältigen Angriff und dem Sturz aus großer Höhe in seinen Ohren hätte klingen müssen, fehlte und selbst sein eigenes Atemgeräusch klang gedämpft und unwirklich.
»Wo sind die anderen?«, fragte er in Kamas Richtung. Der Mann verstand sofort, was er gemeint hatte: Sie waren fast ein Dutzend gewesen, weiter oben in der Höhle, kurz vor dem Angriff. Jetzt waren die Nahrak nur noch zu dritt.
»Tot«, antwortete er.
Esanna sah zur Seite, als er das sagte und irgendetwas in ihrem Blick irritierte ihn, sodass er ihm folgte ... und innerlich erstarrte.
Nur ein paar Schritte weiter lagen vier, fünf Männer, säuberlich nebeneinander aufgereiht wie für eine bizarre Zeremonie. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Skar die Gemeinsamkeit dieser toten Nahrak begriff, bis er erkannte, dass sie trotz verschiedenster schwerer Verletzungen ein gemeinsames Merkmal hatten: Man hatte ihnen die Kehle durchgeschnitten.
»Wer war das?«, ächzte Skar.
Kama verzichte auf eine Antwort, aber Skar begriff sie auch so. »Ihr ... du ...?«
Kama schwieg lange. Doch dann nickte er und blickte Skar offen in die Augen. »Ja«, sagte er einfach. »Wir sie haben gerettet. Die anderen.« Er zuckte mit den Schultern und der Schatten eines undefinierbaren Schmerzes huschte über sein Gesicht. »Die anderen wir nicht konnten retten.«
»Gerettet, indem ihr sie umgebracht habt?«, fragte Skar fassungslos. »Warum?«
»Wir nicht sie können mitnehmen«, sagte Kama leise, aber so gefasst, wie sonst allenfalls kampferprobte Krieger über den Tod sprachen. »Und wir sie auch nicht können den Khtaám zum Fraß lassen.«
Skar machte eine zornige Bewegung, bereute sie aber sogleich wieder, da ein scharfer Schmerz durch seinen Körper zuckte. »Was soll das alles?«, fragte er ärgerlich. »Warum habt ihr mir dann nicht auch die Kehle durchgeschnitten?«
Kama runzelte die Stirn, was ihn mit einem Mal zehn Jahre älter aussehen ließ. »Weil du der Eine bist«, sagte er dann. »Wir dich schützen. Aber nicht umbringen.«
Weil du der Eine bist. Dieser für ihn vollkommen unverständliche Satz echote noch lange in Skars Kopf herum, auch nachdem er sich wieder ein Stück hatte zurücksinken lassen - gezwungenermaßen, denn auch diese kleine Bewegung löste wahre Schmerzwellen in ihm aus. »Was soll das alles?«, fragte er nach einer Weile. Er machte eine abwehrende Handbewegung, als Kama etwas entgegnen wollte. »Fangen wir ganz von vorne an: Wer hat euch geschickt?« Kamas Gesicht blieb starr, aber Skar spürte, wie die Anspannung in seinem Inneren wuchs. »Das du solltest wissen«, sagte er.
»Ich weiß es aber nicht«, begehrte Skar auf. »Verdammt!« Er keuchte, um der Schmerzwelle in seinem Inneren Zeit zu lassen sich abzubauen, und fuhr dann fort: »Ihr taucht aus dem Nichts auf - kurz bevor diese lebendige Falle zuschnappt ...«
»Eine Falle: Ja«, unterbrach ihn Kama. »Wir dich nicht hätten hierher geschickt, wäre es anders gewesen. Wir dachten, die Larvanda sei sicher.«
»Larvanda!«
Die Augen des Mannes wurden zu schmalen Schlitzen. »Das, was du Höhle in der Höhle nennen würdest, Satai«, erklärte der Mann. »Aber warum du das nicht wissen? Das alles stehen im Elften Buch.«
»Ich kenne dieses blöde Buch nicht«, sagte Skar unwirsch. »Du hättest es lesen sollen«, sagte Kama vorwurfsvoll. »Du hättest es lesen müssen!«
»Wie denn?«, fragte Skar. Er erinnerte sich an Marna, den Satai mit der Goldmaske, der hinter diesem Buch her gewesen war und zu Esannas mittlerweile totem Vater Roun gesagt hatte: Wenn ihr das Buch gefunden habt, dann gebt es Skar mit.
Der Nahrak wirkte ehrlich verwirrt. »Aber du haben das Buch doch an dich genommen und versteckt«, sagte er. »Oben am Wasserfall.«
Skar schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das habe ich nicht.« Hätte er damals geahnt, dass das Elfte Buch so wichtig für ihn werden würde, hätte er ihm mehr Beachtung geschenkt - und sich weniger Sorgen um Gor, den Quorrl-Kriegsherrn gemacht, dessen Leben er geschont hatte. Kama starrte ihn so bestürzt an, als ob Skar Anstalten gemacht hätte sich mit gezogenem Schwert auf ihn zu stürzen. »Du ... du brauchst doch das Buch«, keuchte er. »Wie sonst... willst du ...«
»Will ich was?«, fragte Skar, als der Nahrak nicht weitersprach.
Kama antwortete nicht gleich. Sein Gesicht glich einer unbeweglichen Maske - bis auf sein rechtes Augenlid, das plötzlich zu zittern begann. »Das haben wir nicht gewusst«, sagte er. »Das ist...«
»Ja?«
Kama schüttelte den Kopf. Ganz offensichtlich kämpfte er um sein inneres Gleichgewicht. »Es ist sehr mächtig geworden, in den letzten Jahren«, sagte er. »Das ändern alles. Aber vielleicht... ist es noch nicht zu spät.«
»Zu spät für was?«, fragte Skar. Es fiel ihm immer schwerer, der Erregung Herr zu werden, die ihn angesichts der Gesprächswendung ergriffen hatte. In ihm war ein unüberhörbares Locken und Wispern, etwas, das sich über den Rand der Bewusstlosigkeit hinübergerettet hatte in die Wirklichkeit, als riefe etwas sehr Fremdes und gleichzeitig sehr Vertrautes nach ihm - und als wüsste dieses Etwas sehr genau, wovon Kama gesprochen hatte.
Der Nahrak machte eine wegwischende Bewegung. Seine Augen starrten blicklos durch Skar und im ersten Moment glaubte er, dass er ein verdächtiges Geräusch gehört hatte, das auf einen bevorstehenden Angriff hindeutete. Doch dann begriff er, dass er sich getäuscht hatte. Es war eher so ... als würde Kama nach Innen lauschen, tief in sich hinein, als suche er dort die Antwort auf die drängenden Fragen nach der für ihn unvorhersehbaren Wendung.
Es dauerte noch eine Weile, die Skar wie eine Ewigkeit vorkam, bevor der Nahrak wieder aus seiner Erstarrung erwachte. »Wenn du nicht gelesen hast, ich müssen dir einiges erklären«, sagte er so langsam, als bereite ihm das Sprechen Schwierigkeiten. »Aber das nichts ändern daran, dass du das Buch brauchst.«
»Wozu?«
»Um zu erfahren, wer in Wirklichkeit dein Feind ist.«
Skar fuhr überrascht zu Esanna um, denn es war nicht der Nahrak gewesen, der diese Worte gesprochen hatte, sondern das Mädchen. Er hatte noch nie zuvor einen so gleichzeitig erschrockenen wie verwirrten Ausdruck auf ihren Zügen gesehen.
»Was meinst du damit?«, fragte Skar scharf.
»Das... das liegt doch auf der Hand, oder?« Esanna schlang noch fester als bislang die Arme um die Knie. »Ich hab es ... mir nur so ... gedacht.«
Einen Moment lang herrschte fast atemloses Schweigen. Obwohl der Nahrak es vermied, in Richtung des Mädchens zu blicken, hatte Skar das Gefühl, als ob ein unsichtbares Band zwischen den beiden so ungleichen Menschen bestand. Aber das war natürlich Blödsinn. Ein Nahrak und ein Digger-Mädchen? Unter normalen Umständen wären sie sich auf Enwor niemals begegnet und es stand außer Frage, dass sie sich vor der Begegnung in der Höhle noch nie gesehen hatten.
Es war der Nahrak, der das Schweigen brach. »Du erst mal solltest dich wieder bekleiden«, sagte er ruhig.
Skar runzelte die Stirn und sah an sich herab. »Huch«, sagte er. Seine Hose, die er hatte herunterlassen müssen, um sich von dem besonders penetranten Tentakel zu befreien, war bei dem Sturz in die Tiefe vollends verloren gegangen. Oberhalb seiner Stiefel bis zum Harnisch war er nackt; blutige Kratzer und bissähnliche Spuren zeugten von den verzweifelten Versuchen der Khtaám von ihm Besitz zu ergreifen.
»Hat vielleicht jemand meine Beinkleider gesehen?«, fragte Skar, während er es Esanna gleich tat, die Knie anzog und die Arme um sie schlang. Die relativ raschen Bewegungen jagten Schmerzschauer durch seinen Körper, die ihm mehr als deutlich zeigten, dass er alles andere als kampfbereit war.
Während er gleichzeitig Esanna einen verstohlenen Blick zuwarf (warum hatte sie nichts gesagt?), tastete seine rechte Hand nach seiner Schwertscheide. Zu seiner Beruhigung fand er den ungewöhnlich verzierten Griff des Tschekals an seinem angestammten Platz vor und er erinnerte sich, dass er das Schwert hatte zurückgleiten lassen, bevor er das Mädchen aus den Fängen der schleimigen, tentakelbewehrten Kreatur befreit hatte. Es war gut zu wissen, dass er zumindest seine Waffe noch in Griffweite hatte.
»Von den Resten deiner Kleidung wir haben nichts gefunden«, sagte Kama ernsthaft.
»Ja.« Skar schloss für einen Moment die Augen und augenblicklich tanzten wieder dunkle Schatten vor ihm. »Es ist ja vielleicht auch nicht so wichtig. Aber... es ist kalt hier.«
»Stimmt«, bestätigte Esanna. »Ich friere auch. Ohne Feuer...«
»Wir hier können kein Feuer machen, selbst wenn wir Holz hätten«, sagte Kama. »Zu gefährlich. Außerdem wir nicht haben viel Zeit.«
»Wieso haben wir nicht mehr viel Zeit?«, fragte Skar. »Fürchtest du, dass die Khtaám uns noch einmal angreifen könnten?«
»Die Khtaám ... vielleicht. Aber sicher ... etwas anderes.«
»Etwas anderes? Was meinst du damit?«
Kama schluckte ein paarmal. Sein Gesicht war jetzt so bleich, dass es sich in dem schwach-grünlichen Licht als heller Fleck abzeichnete. »Es hat viele ... Formen«, sagte er so vorsichtig, als spräche er ein streng gehütetes Geheimnis aus. »Es ist mächtiger geworden seit... seit damals, Skar. Es unterwandert ganz Enwor. Es wird alles mitreißen, wenn wir es nicht verhindern.« Seine Hände verkrampften sich, als wollten sie etwas fassen. »Und dennoch«, fuhr er nach einer Weile fort, »den ersten Sieg hast du bereits davongetragen. Das Khtaám hat versucht dich zu vernichten - oder zumindest dich in seinen Bann zu ziehen. Du musst ihm auch weiterhin widerstehen. Erst wenn dir das gelingt, wirst du den Kampf aus eigener Kraft auf dich nehmen können.«
Skar schüttelte verwirrt den Kopf, eine Geste, mit der er nicht nur seinen Unglauben dokumentieren, sondern auch Zeit gewinnen wollte. Kamas Worte berührten ihn tief, viel tiefer, als er es sich vielleicht im ersten Moment eingestehen wollte. Sie zerstörten irgendetwas in ihm, trieben Risse in eine Mauer, die jetzt langsam zu zerbröseln begann und hinter der irgendetwas lauerte, das vielleicht noch schrecklicher war, als es der Angriff der Khtaám gewesen war. Bruchstücke bereits verloren gegangener Erinnerungen tauchten vor Skars innerem Auge auf. Enwor ist groß genug für mehr als ein Volk, Bruder. Geh. Nimm dir die eisigen Inseln des Nordens. Nimm die Tiefen des Meeres und die brennenden Wüsten, nimm dir die Berge und die Höhlen unter der Erde. Nimm dir jeden Ort, an dem Menschen nicht existieren können und lebe einfach.
Er war sich sicher, dass er das zu irgend jemandem - oder zu irgendetwas - gesagt hatte. Er war sich sicher, dass er bereits einmal den Schlüssel zum Schicksal Enwors in den Händen gehalten hatte... und plötzlich bekam er einen anderen Zipfel seiner Erinnerungen zu fassen, ein Bruchstück von dem Verständnis des großen Zusammenhangs, das ihn schon einmal in den Strudel von Zerstörung und Vernichtung mitgerissen hatte ...
Er stöhnte auf, und ohne es zu bemerken, begann sein Kopf hin und her zu pendeln. Esanna sah auf, zuerst nur beiläufig, aber dann besorgt, als sie sah, dass sein Gesicht alle Farbe verloren hatte, er seine Wangenmuskeln anspannte, als würde er seinen Kiefer mit aller Macht aufeinander pressen, und dass auf seiner Stirn feine Schweißperlen glitzerten.
Plötzlich begannen seine Lippen zu beben und ein röchelnder, unmenschlicher Laut entrang sich seiner Brust. Sein Oberkörper begann leise hin und her zu schaukeln, im Anfang fast unmerklich und dann immer stärker. Schon kurz darauf begann Skar wie in Agonie zu zucken, seine Hände zitterten und sein Kopf bewegte sich immer schneller und ruckhaft, bis er schließlich mit der linken Seite an den Stein schlug, nicht allzu hart, aber kräftig genug, um ihm einen weiteren Kratzer zuzufügen ...
Esanna stieß einen erschrockenen Laut aus. Mit einer hastigen Bewegung richtete sie sich auf, griff nach Skars Kopf und umschlang ihn mit beiden Händen. Er schien die Berührung nicht einmal zu spüren, schlug weiter mit dem Kopf hin und her, als wollte er ihn sich an dem Felsen, an dem er lehnte, einschlagen. Das Mädchen versuchte ihn festzuhalten, versuchte anzukämpfen gegen die mittlerweile fast zornigen Bewegungen, mit denen etwas in ihm aufbegehrte, aber sie war zu schwach, um ihn halten zu können. »Hilf mir«, brüllte sie Kama an.
Aber der Nahrak schüttelte nur stumm den Kopf. Er sah ungerührt zu, wie weißer Schaum auf Skars Lippen trat, wie sein Oberkörper krampfhaft aufbebte und seine Lider mit einem Ruck aufglitten. In der fürchterlichen Grünfärbung der unnatürlichen Höhlenbeleuchtung sah der Blick seiner trüben Augen noch schrecklicher aus, als er es bei normaler Beleuchtung gewesen wäre. Er starrte an Esanna vorbei ins Nichts oder in etwas Erschreckendes, denn sein Gesicht war vor Entsetzen verzogen.
Die Sternenkreatur erwartete ihn, und als Skar sie sah, war er im ersten Moment beinahe enttäuscht, denn auch sie ähnelte einem Menschen, wie das Geschöpf, das geschickt worden war, um ihn zu holen. Aber dann wurde ihm klar, wie unbedeutend ein Körper war. Sie konnte jedes beliebige Aussehen annehmen, sie war der Dronte gewesen, das gigantische schwarze Gespinst unter dem Wald von Cearn und die Brücke, die Titchs Heer auf die Insel gebracht hatte, und auch diese Gestalt hatte sie nur gewählt, um mit ihm zu reden, ihm in einem Aussehen gegenüberzutreten, das dem seinen entsprach.
»Er erinnert sich nur«, sagte Kama. »Lass ihn los. Er wird sich schon wieder beruhigen.«
Esanna schüttelte verzweifelt den Kopf. »Skar«, wimmerte sie. »Wach auf!«
Doch Skar stieß nur ein einzelnes Wort aus, nein, kein Wort, sondern nur einen kehligen, unglaublich düster klingenden Laut. Sein Mund war weit aufgerissen; Schaum stand vor seinen Lippen. Seine dunklen Augen glänzten wie im Fieberwahn.
Sie hatte kein Herz, kein irgendwie geartetes Zentrum oder etwas, das einem menschlichen Gehirn entsprach. Sie war einfach eine ungeheuerliche Masse lebender Materie, ein Netz aus finsterem Protoplasma, das vielleicht nicht nur Carn, sondern die ganze Welt durchdrang, und ihr kleinster Teil war so mächtig und unverwundbar wie ihre Gesamtheit. Sie alle hatten geglaubt, sie wäre vernichtet, zerstört bis auf einen winzigen Rest, aus dem sie zu neuer Größe heranwachsen musste, aber das stimmte nicht. Sie hatte immer existiert. Es hatte sie immer gegeben, wie die Quorrl, wie die Menschen, wie diese Welt. Vielleicht war sie das älteste lebende Ding auf diesem Planeten, älter als die Sonne, denn das, woraus sie entstanden war, war von den Sternen gekommen; zusammen mit ihren Schöpfern.
Skars Kiefer mahlte und in seinen Augen erschien ein fast hilfloser Ausdruck. Seine Lippen waren so blutleer, dass sie wie aufgemalte Striche wirkten. Er war so weggetreten, dass er nichts und niemanden mehr in seiner Umgebung zu beachten schien und doch war keine Ruhe in ihm, sondern ein wildes Feuer, das ihn hin und her warf, eine Gefahr für sich selbst angesichts des Felsens, an dem er sich den Schädel einzuschlagen drohte.
»Hilf mir«, schrie Esanna nochmals, aber der Nahrak rührte sich immer noch nicht. In ihrer Verzweiflung wusste sich das Mädchen nicht anders zu helfen, als Skar zu ohrfeigen. Mehrere Schläge prasselten auf ihn ein, heftiger vielleicht, als es nötig gewesen wäre und doch nicht kräftig genug, um ihn aus dem herauszureißen, was ihn weiter unbarmherzig gepackt hielt.
Er wusste, dass etwas Unvorstellbares geschehen würde, wenn er sich weigerte seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Enwor würde untergehen, nicht im Feuer der Sterne, sondern im Würgegriff der Bestie, die so oder so erwachen würde, unter seinem Willen und seiner Lenkung oder als reißende Bestie, die zu nichts anderem fähig war, als zu töten ... Ein Zittern lief durch seinen Körper und er stieß einen spitzen Schrei aus. Mit einer ungezielten, hektischen Bewegung wischte er Esannas Arme beiseite und richtete sich halb auf. Er hatte einen Blick hinter den Vorhang der Wirklichkeit geworfen und er hatte gesehen, was dahinter lauerte: der Wahnsinn und etwas, gegen das alle Schrecken der Kriege zwischen Quorrl und Menschen, alle von Menschen und ihren Gegnern verursachten Gemetzel und Katastrophen verblassten wie harmlose Streitigkeiten zwischen Kindern. Er hatte den Zipfel der Wahrheit zu fassen bekommen und er war ganz nah dran gewesen, aber nicht nah genug, um das ganze schreckliche Geheimnis zu erfassen. Er wusste nur eins: Es gab eine zweite Wirklichkeit hinter den Dingen, und wenn er bereit war sich diesem Gedanken mit aller Konsequenz zu stellen, dann musste er sich mit aller Kraft dem entgegenstellen, das Enwor vernichten wollte.
»Was ist das«, keuchte er, »wer bist du ...« Aber er sprach nicht weiter, denn in diesem Moment erklang ein singendes Geräusch, leise wie der Lockruf eines kleinen Vogels zur Morgenstunde und doch so durchdringend, dass ihn ein rascher Schauer durchrieselte.
Bevor Skar begriff, was da an sein Ohr drang, war es auch schon wieder vorbei. Es herrschte die mittlerweile vertraute unnatürliche Stille, wie sie nur tief in einem Berg möglich war, in einer weit verästelten Höhle, an die kein Außengeräusch drang und nichts weiter zu hören war als die Lebensgeräusche der wenigen ihn begleitenden Lebewesen. Aber trotzdem war er vollkommen sicher irgendetwas gehört zu haben - oder vielleicht auch nur gespürt oder erahnt. Etwas, das nicht in diese Höhle gehörte und möglicherweise doch hier zu Hause war.
»Was war mit dir los?«, fragte Esanna. Sie hatte sich wieder ein Stück zurückgezogen, sich auf den Boden gehockt und die Arme um die Knie geschlungen - wie ein kleines Kind, das die Wirklichkeit ausblenden will. Aber vielleicht war es ja auch gar nicht die Wirklichkeit: Vielleicht war es etwas ganz anderes, etwas viel Monströseres und gleichzeitig viel Realeres. Etwas, das im Grunde genommen jeder Bewohner Enwors wusste oder doch zumindest ahnte, ein Geheimnis, das keines war, weil es so offensichtlich war und gerade deshalb im Verborgenen existierte, jederzeit bereit entdeckt und gleichzeitig verleugnet zu werden.
Alles war eins und nichts war so, wie es auf den ersten Blick schien.
Genau das war das Geheimnis und doch war es das auf seltsame Weise auch wieder nicht; es konnte es schon deshalb nicht sein, weil die Natur der Verästelungen, des Ineinandergreifens und der Wucherungen unbegreiflich war. Es war nicht in Gedanken fassbar und würde es nie sein und bereits in dem Moment, in dem Skar es zu fassen glaubte, hatte er es auch schon wieder verloren.
»Was war mit dir los?«, wiederholte Esanna. »Du warst vollkommen geistesabwesend.«
Er war es nicht nur gewesen, er war es immer noch - auf eine nur schwer begreifliche Art. Und trotzdem fragte er sich in diesem Augenblick nur, was mit Esanna geschehen war. War es tatsächlich erst ein paar Stunden her, dass dieses zarte, unscheinbare Digger-Mädchen mit einem Messer auf ihn losgegangen war? Hatte sie wirklich die ersten Angriffe der Khtaám nahezu mühelos beiseite gewischt? »Du nicht können von ihm andere Antworten erwarten als von dir selbst«, sagte Kama.
»Was?«, fauchte Esanna und wandte sich zu ihm um.
»Was soll denn das heißen?«
»Dass er brauchen Zeit«, sagte der Nahrak ungerührt. »Und du auch. Eure Bestimmung drängt. Aber trotzdem dürft ihr nichts überstürzen.«
Skar spielte nervös mit dem Griff seines Tschekals. Er kam sich beobachtet und belauert vor. Es war ähnlich wie unzählige Male zuvor, wenn er die Vorbereitungen seiner bislang noch unsichtbaren Gegner zum Angriff gespürt hatte, wenn winzige Laute sich zu dem sicheren Gefühl verdichtet hatten, dass es besser war, sich in Kampfposition zu begeben. Und doch war es auch ganz anders. Vielleicht allein deshalb, weil es diesmal weder Geräusche noch optische Anzeichen waren, die sich zu einer Bedrohung verdichteten und das Krabbeln in ihm hervorriefen, das eine Mischung zwischen ängstlicher Anspannung und fast freudiger, in jedem Fall aber entspannter Erwartung war.
Fröstelnd zog er die nackten Beine näher an den Leib. Drei Nahrak. Ein ganz und gar ungewöhnliches Digger-Mädchen. Ein halb toter Satai, der keine Ahnung hatte, was er hier sollte. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals in einer so verrückten Konstellation auf einen Angriff übermächtiger Gegner gewartet zu haben.
Und wieder einmal wünschte er sich, Del wäre hier. Der hühnenhafte Satai hatte mit seiner unbekümmerten und oft respektlosen Art den exakten Gegenpunkt zu ihm selbst gesetzt. Mit ihm zusammen hatte er sich ... ein Stück weit als unbesiegbar empfunden. Nicht in der Art, dass er in jedem Kampf siegreich zu bestehen geglaubt hatte. Auch nicht so, dass er keine Todesfurcht mehr empfunden hatte. Es war einzig und allein so gewesen, dass mit Del zusammen eine Niederlage keine Niederlage gewesen war, nicht im Sinne ihres Wortes.
Er fing einen Blick Esannas auf und zuckte zusammen. Ihr Blick war - zu wissend. So, als hätte sie seine Gedanken erraten. Er erinnerte sich an den Rhythmus ihres Herzschlags, als sie sich an ihn gepresst hatte und es bedeutete ihm gleichzeitig überhaupt nichts und sehr viel. Vielleicht, weil sie gleich alle tot sein würden.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Esanna. »Was für eine Bestimmung?«
»Jetzt... nicht«, flüsterte der Nahrak. »Frag jetzt nichts. Wir müssen weg!«
»Weg?«, fragte Esanna. Ihre Stimme klang flach und gleichermaßen gepresst. »Aber wohin?«
Diese Frage, fand Skar, war nur allzu berechtigt. Während er sich von dem Felsen hochstemmte und den brennenden Schmerz in seinem Rücken zu ignorieren versuchte, der wie ein glühender Dolch seine Wirbelsäule hinabfuhr, wurde er sich nur zu bewusst, dass Kama die Führung ihrer kleinen Truppe übernommen zu haben glaubte. Sollte er. Wenn es an der Zeit war, würde Skar ihn eines Besseren belehren. Keinesfalls jedenfalls würde er ihm blindlings irgendwohin folgen.
»Zum Ausgang«, sagte Kama.
»Warum sind wir dann nicht schon früher los?«, fragte Skar. Er stand mittlerweile oder besser gesagt, er stützte sich mit der linken Hand an dem Felsen ab und versuchte das Zittern in seinen Beinen zu unterdrücken.
Kama schüttelte nur unwillig den Kopf und deutete in die Richtung hinter ihnen. »Los jetzt«, zischte er.
Skar stieß sich wortlos ab. Er wusste, dass die Bedrohung aus dem Bereich der Höhle kommen würde, in die die drei Nahrak schon seit Minuten nervös geblickt hatten, und dass sie Kama somit tatsächlich in die richtige Richtung führte. Die Frage war nur, ob sie noch rechtzeitig wegkamen - und ob sie nicht in eine Falle liefen.
Ein Teil seiner Frage wurde sofort beantwortet. Noch bevor sie die ersten Meter hinter sich gebracht hatten, hielten Schatten auf sie zu, die in ihrem Dunkelgrün eine Spur zu tief waren, um ganz von der schummrigen Beleuchtung aufgesogen zu werden. Schatten, die zu wachsen schienen, langsam, fast unmerklich, und die gleichzeitig dunkler wurden, eine Schwärze annahmen, der etwas Widernatürliches anhaftete. Ihm war, als würde ein leiser Ruck durch die Wirklichkeit laufen, als würde sich die Realität um ein winziges Stückchen in jene Richtung verschieben, wo Alpträume und Wahnsinn nisteten, und in seinem Kopf drehte sich alles, während er gleichzeitig Esanna brutal am Arm packte und mit sich zog.
Es war absurd. Bei dem Sturz aus der zusammenbrechenden Höhle irgendwo über ihnen mussten seine gesamten Knochen und sein Rückgrat zusammengestaucht worden sein, wenn er sich nicht sogar bislang unbemerkt gebliebene Brüche eingehandelt hatte; vielleicht hatte er auch innere Verletzungen davon getragen. Seine Beine wollten jedenfalls seinen Befehlen nicht gehorchen und er wäre wahrscheinlich eingeknickt und jämmerlich zu Boden gegangen, wenn ihn Esanna nicht gestützt hätte. Zum wiederholten Male fragte sich Skar, woher dieses schmale Wesen die Kraft dazu nahm.
Dann war es heran; was immer es war. Er nahm die Bewegung nur aus den Augenwinkeln wahr. Aus den dunklen Schatten formten sich bizarre Wirbel, manifestierten sich zu etwas Festem, Stofflichem, schnellen Kriegern ähnlich, die ihre ganze Geschicklichkeit einsetzten, um einen Feind zu überraschen.
Aber es waren keine Menschen. Skars Herz setzte für einen Schlag aus. Dann noch einen. Und noch einen. Als es weiterhämmerte, geschah es mit zehnfacher Schnelligkeit und so hart, dass er schlagartig am ganzen Leib zu zittern begann. Er wartete darauf, dass die Angst zuschlug, aber das geschah nicht. Sein Körper reagierte schneller auf den Schock als sein Geist. Er empfand ... nichts.
Esanna war mitten im Schritt stehen geblieben. Sie zitterte am ganzen Leib und plötzlich war Skar es, der sie stützen musste. Er merkte es nicht einmal. Alles in ihm war nur noch Aufruhr und Panik, wirre Gedanken und Gefühle, die sich nicht bändigen ließen, der Drang wegzulaufen und sich doch gleichzeitig dem Kampf, der eigenen und unaufhaltsamen Vernichtung zu stellen, nur um dem Ganzen so schnell wie möglich ein Ende zu machen.
Es war nur ein Augenblick, vielleicht der zehnte Teil einer Sekunde, aber für diesen winzigen Moment hatte er das Gefühl eine Woge aus kompaktem schwarzem Nichts auf sich zugleiten zu sehen. Irgendetwas war falsch an dieser verschlingenden Schwärze, auf entsetzliche, nicht in Worte zu fassende, aber unübersehbare Weise falsch. Alles in ihm schien nichts weiter als ein einziger Warnschrei zu sein, ein Nichtbegreifen, eine Fassungslosigkeit...
Dann veränderte es sich. Ein waberndes, grünes Licht brach aus der schwarzen Finsternis hervor. Wieder dauerte es nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor es sich abermals änderte, und diesmal so massiv, dass er nicht mehr als ein Stöhnen hervorbringen konnte angesichts des pulsierenden grünen Lichts, dieser ungesunden, diffusen Helligkeit, aus der es herausbrach, die es durchschritt, direkt auf ihn, Esanna und die Nahrak zu ...
Es war ein unerträglicher Anblick, dort, noch etliche Schritte vor ihnen, ein unbeschreibliches Wesen, mit nichts vergleichbar, was ansonsten auf Enwor existierte, nicht mit den Drachen, den die Errish geritten hatten, nicht mit den Ssirhaa, gegen die die Quorrl nichts als harmlose Popanze waren, und auch nicht die Insektenkrieger mit ihren stahlharten Chitinpanzern, gegen die Skar seinen wohl erbittertsten Kampf geführt hatte. Es war etwas wie aus einer anderen Welt und doch vertraut, etwas wie der Urahn der Khtaám, unendlich viel größer als ein Einzelnes dieser nachtschwarzen Wesen und doch von fast gedrungener Gestalt.
Aber dann wurde ihm klar, wie unbedeutend ein Körper war.
In ihm war keine Angst vor dem Tod. Es war tausendmal schlimmer. Er packte die Hand der in Panik erstarrten Esanna und lief los, direkt auf die Kreatur zu und doch von ihr weg. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich einen Körper hatte, oder ob sie nicht vielmehr aus tausenden winziger Larven bestand oder aus etwas gänzlich anderem, was sein Verstand nicht zu erfassen vermochte.
Kama war vor ihm und die beiden anderen Nahrak an seiner Seite, als wären sie noch immer bereit ihn und das Mädchen wie perfekte Leibwächter mit ihrem Leben zu schützen. Dennoch versuchte Skar einen Haken zu schlagen - soweit das die Höhlenwände zuließen - und stürmte wie von Sinnen weiter, sodass sein gemarterter Körper mit einer neuen Schmerzwelle reagierte; die Anstrengung trieb blutige Schleier vor seine Augen. Noch immer hielt er dabei Esannas Hand fest umklammert, mit eisenhartem Griff, als würde sein Leben davon abhängen, und das, obwohl der Tod überhaupt keine Bedeutung mehr für ihn hatte, jedenfalls nicht die, die er für normale Menschen hatte.
Er kam nicht weit. Bitterer, toter Geschmack verklebte ihm Mund und Nase, legte sich auf seine Lungen und nahm ihm die Luft zum Atmen, ließ ihn gierig nach Luft schnappen, während seine Beine mit jedem Schritt schwerer wurden und sein Rücken zu einem einzigen brennenden Flammenmeer wurde. Gleichzeitig schien die Dunkelheit vor ihm intensiver zu werden, als sauge die Erscheinung das letzte bisschen Licht auf, das diesen Teil des geheimnisvollen unterirdischen Komplexes erleuchtete, der sich in eine tödliche Falle verwandelt hatte.
Was aber den Ausschlag gab, waren die Nahrak, die im selben Moment wie er losgestürmt waren und ebenfalls sehr schnell zu begreifen schienen, dass ein Entkommen unmöglich war. Als die Kreatur vor ihnen aus dem grün wallenden Nebel auftauchte, machten sie seine rasche Ausweichbewegung im ersten Moment mit, verlangsamten dann aber schon sehr bald ihre Schritte. Um Kama nicht über den Haufen zu rennen, mussten Skar und Esanna abrupt abbremsen.
Kama breitete die Arme aus und einen Herzschlag lang glaubte Skar, er wollte eine komplizierte Abwehrbewegung einleiten. Doch als sich der Nahrak mit einer abstrusen Drehung zu ihm umwandte, begriff er, dass der Mann fassungslos und mit einer Mischung aus schierem Unglauben und abgrundtiefem Entsetzen auf die groteske Erscheinung gestarrt hatte und nun gleich ihm nicht mehr weiterwusste: In seinen Augen stand ein Grauen, das nicht hätte größer sein können, hätte er alleine einem Tausend-Mann-Heer gegenübergestanden.
»Stehen bleiben!«, schrie er. »Oder wir sein verloren!« Skar hätte dazu keine Aufforderung mehr gebraucht. Er war am Ende seiner Kraft, ausgelaugt von den wenigen Bewegungen, die seinem Körper die letzten Reserven abverlangt hatten und er hätte sich jetzt auch gar nicht mehr vom Fleck rühren können, selbst wenn er gewollt hätte. In seinem Inneren tobte ein Sturm widersprüchlichster Gefühle, während er gleichzeitig keuchend nach Luft rang und versuchte den Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln.
Zitternd kam das Ungeheuer näher. Die blutigen Schleier vor Skars Augen lichteten sich, aber er vermochte dennoch das abstoßende Etwas nicht viel klarer zu erkennen als bisher. Das, was er sah, genügte allerdings, um ihn aufstöhnen zu lassen; ein Geräusch, das in einem spitzen Schrei Esannas unterging.
Der Leib des Monsters war riesig, viel größer als der eines Menschen und massig wie eine Flugechse und doch fast durchscheinend, ständig in fließend-glibberiger Bewegung. Dutzende von peitschenden, ineinander verwundenen Tentakeln zuckten aus seinen Schultern, und da, wo sein Kopf sein sollte, war nichts als eine formlose, glitschige Masse, die Flüssigkeit sabberte aus einer Vielzahl kleiner Körperöffnungen, die zu verschwimmen schienen, wenn er versuchte mit Blicken zu erkunden, was dieses Wesen vorhatte. Skars Herzschlag ging hämmernd und laut. Er versuchte seine Gedanken in Bahnen zu zwingen, die der Situation angemessen waren, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, um ein Schlupfloch zu finden aus der bedrohlichen Lage, aber es funktionierte nicht. Er stand da wie gelähmt und es war, als hätte sich ein unsichtbarer, eisiger Schatten über sein Denken und Fühlen gelegt. Er ahnte, nein, er wusste, dass diese Kreatur verwandt war mit dem tentakelbewehrten Kraken, der ihn am Fuße des Falles von Ninga angegriffen hatte und dessen unglaublicher Kraft er nichts anderes entgegenzusetzen gehabt hatte als die tiefste Entschlossenheit des Satai, der Kraftreserven zu mobilisieren verstand, von deren Existenz die meisten Menschen noch nicht mal etwas ahnten. Doch im Angesichts des vor ihm kreisenden Monsters war er nicht in der Lage, dieses antrainierte Wunder übermenschlicher Kraft noch einmal zu vollbringen.
Er war zu überhaupt nichts mehr in der Lage.
Er stand regungslos da, während das Monstrum auf ekelhafte Art glibberte, sabberte und gleichzeitig zu zerfließen schien und mit der Standfestigkeit einer mächtigen Daktyle verharrte - bevor es zum endgültigen Angriff ansetzte. Seine Tentakel bewegten sich zitternd vor seinem Gesicht auf und ab, aber irgendetwas schien es noch davon abzuhalten, ihn zu berühren. Dann schob es langsam, fast zögernd einen hin und her zuckenden Tentakel auf seine Schulter zu. Als es ihn berührte, jagte ein mörderischer Schmerz durch seinen Arm und setzte jeden einzelnen Nerv in Brand. Er hatte das Gefühl, als würde sein Verstand mitgerissen, als bräche der Damm zwischen seinem bewussten Begreifen und etwas ganz anderem, tiefer Gehendem, das wie ein eigenständiges Lebewesen auf den Angriff reagierte ...
Formlose Scheußlichkeiten, die sich in schwarzrot glühenden Seen aus brodelnder Lava suhlten, aus denen sich gleißende, rote Ströme in die schwarze, erstickende Unendlichkeit ergossen. Schlangengruben voller gestaltloser Schrecken, aus denen der Odem der dunklen, erstickenden Hölle emporwehte, die Hölle, auf der der Druck von tausend Tonnen Wasser lastete, der Hölle, in der nichts als Finsternis war und Schrecken und Tod, eine Hölle, die durch nichts anderes erhellt wurde als durch die breiten Lavaströme und durch makaber leuchtende, grauenvolle Gestalten, Höllenboten mit unglaublich fremdartigen Gesichtern, aufgeblasenen Körpern und grauenvollen Raubtiergebissen.
Es waren keine Bilder, die er sah. Keine Gedanken, die er empfing. Es war keine Erinnerung aus den Tiefen seiner Vergangenheit, keine Form der Kommunikation, sondern etwas vollkommen Fremdes, Bizarres. Für einen Moment, einen winzigen, zeitlosen und doch ewig währenden Moment, schien sein Geist mit dem der Kreatur zu verschmelzen, waren sie wie ein Wesen, das nur zufällig in zwei Körpern wohnte. Er fühlte den Kampf, der tief in seinem Inneren stattfand, kein Ringen unterschiedlicher Kräfte, sondern ein blitzartiges, ungeheures Zusammenprallen zweier entgegengesetzter Pole ungeheurer Macht, ein Gefühl, als explodierte tief in seinem Inneren eine gewaltige, lodernde Sonne, in einem Bereich seiner Seele, der seinem bewussten Zugriff normalerweise verschlossen war.
Er war nicht viel mehr als ein unbeteiligter Zuschauer, Dafür begann etwas anderes mit einer zielgerichteten Aktivität, etwas, das sich bislang so sehr im Hintergrund gehalten hatte, dass er noch nicht einmal seine Anwesenheit bemerkt hatte. Eine Anzahl der Khtaám-Larven, die bisher keine Notiz von ihm genommen hatten, lösten sich aus dem nun plötzlich wimmelnden Hintergrund der Höhle und huschten auf ihn zu, glitten über seine Stiefel und krochen seine nackten Beine hoch. Die Berührung der feuchten, saugenden Füßchen war so widerlich, dass er sie sich am liebsten von der Haut gerissen hätte. Aber nach wie vor war er wie gelähmt. Schwäche und Übelkeit verschleierten seinen Blick. Ein scharfer, stechender Schmerz zuckte durch seinen Schädel, Krämpfe schüttelten seinen Körper und vor seinen Augen tanzten flammende und wogende Schatten, Visionen von unvorstellbarer Fremdheit. Er schrie, verlor sich in den um ihn herum tanzenden Wirbeln.
Schwarze Schlangen aus Finsternis bebten und zuckten auf ihn zu, bizarre Grimassen aus Substanz gewordener Dunkelheit grinsten ihn an, glitzernde Spinnenbeine tasteten sich zitternd in die Luft und etwas Großes, Körperloses, Schwarzes waberte und wogte wie brodelnder Nebel über den Boden, wie eine stürmische, von wilden Windböen aufgerissene See, die an die Küste anbrandete in Abermillionen Jahren währendem Bestreben sich das einzuverleiben, was einst zu ihr gehört hatte, vor unendlichen Zeiten nichts anderes als Meeresboden gewesen war und nun wieder das werden sollte, was ihr einst einverleibt gewesen war und ihr erst durch die Kraft gewaltiger Vulkane genommen worden war... Dann zerstob die Illusion.
Es war wie ein Hieb gewesen, blitzschnelles, wütendes Zuschlagen einer unsichtbaren Macht, der gleichen Kraft, deren Anwesenheit er gespürt hatte, in den Höhlen oberhalb des Falls von Ninga ... das gleiche geistige Flüstern ... und doch auch wieder ganz anders. Ein Verdacht keimte in ihm auf, so selbstverständlich und doch so vollkommen unerwartet, dass er ihn kaum in Worte hätte fassen können. Bilder mehrerer im Todeskampf verbissener, unvorstellbarer Kreaturen tauchten in ihm auf, Bilder, die schon allein deswegen so unverständlich waren, weil es sich nicht um Leben handelte im üblichen Sinne ...
Während er in die Knie ging und dabei Esanna mitzog, weil er - ohne es zu merken - ihre Hand in schmerzhaftem Griff umklammert hielt, tauchte etwas anderes vor seinem inneren Auge auf, ein Fragment, eine Erinnerung an einen Streit in einer gewaltigen Festung inmitten des Drachenlandes, in die ihn ein verzweifelter Kampf gegen ein namenloses Wesen verschlagen hatte. Seine Haut brannte wie Feuer, als wäre er mit einer ätzenden Flüssigkeit überschüttet worden und Esanna schrie und versuchte sich von seiner Umklammerung zu lösen - aber er merkte nichts von alledem. Er war wieder auf Drasks Festung, stand Kiina gegenüber, die ihm die erschütternde Nachricht brachte, wusste Del neben sich und ...
... BEGRIFF Es ist gigantisch, Satai. Es ... es hat Elay überwuchert wie ein Geschwür und... und Tausende verschlungen. Aber nicht alle. Ich habe in der Burg gelebt, am Hof der Margoi. Ich habe vieles erfahren und vieles gesehen. Nicht alle sind mit dem Netz verbunden. Nur die Mächtigen und die Krieger. Es tötet seine Träger, manche in Tagen, andere in Monaten oder Jahren, aber es tötet sie. Vielleicht frisst es sie innerlich auf - ich weiß es nicht. Aber es ist wählerisch. Es beherrscht uns, aber es braucht uns auch.
Das Netz! Dieses ...Etwas, das die gigantische Metropole Elay überwuchert hatte und sich immer weiter schob ... wer sagte ihm, dass es nicht immer weiter gewuchert war in den letzten dreihundert Jahren und sich nicht noch immer weiter ausdehnte. Und vielleicht war es nicht alleine... vielleicht gab es mehr als nur ein Netz!
Der Gedanke zerstob so schnell, wie er gekommen war. Skar schrie auf, ließ Esanna los und schlug die Hände vors Gesicht. Sein Herz begann erneut zu hämmern und das Verlangen aufzuspringen und nur weg-, weg-, wegzulaufen, wurde übermächtig - raus aus diesem Wahnsinn, aus der Konsequenz, die seine Erinnerung mit sich gebracht hatte, dachte man den Gedanken nur ein kleines Stück weiter ... frisst sie innerlich auf... tötet sie ... und weg von der tödlichen Umarmung der Bestie, die sich seiner bemächtigen wollte für einen Zweck, der in der Zerstörung Enwors enden konnte, enden würde, wenn er es zuließ ...
Skar sprang auf. Es war erstaunlich viel Kraft in ihm, beinahe so, als wären all seine Verletzungen wie fortgeblasen, und noch im Sprung riss er sein Tschekal aus der Scheide, um sich mit einem Kampfschrei auf die Kreatur zu stürzen, die für seine Qualen verantwortlich war.
Aber das schwarze Ungeheuer war schneller. Zwei, drei seiner Schlangenarme peitschten in seine Richtung, wanden sich wie dünne, schleimige Vipern um seine Arme und rissen ihn mit einer brutalen Bewegung herum. Er schrie auf. Seine Haut brannte wie Feuer, wo sie von den glitschigen Armen des Ungeheuers berührt worden waren. Ein betäubender Schmerz peitschte durch seine Arme, explodierte in seinen Schultern und lähmte seinen Körper. Die Höhle schien vor seinen Augen zu verschwimmen. Das Ungeheuer ragte wie ein gewaltiger, verzerrter Schatten vor ihm auf. Seine Tentakel hatten sich von Skars Armen gelöst, aber er war trotzdem unfähig sich zu bewegen ...
... und tauche stattdessen wieder in die Vergangenheit ein.
»Es gab noch niemals einen Krieg wie diesen«, hörte er Dels Stimme über die Schranken der Zeit hinweg. »Es geht hier nicht um die Macht in einem Königreich. Es geht nicht um Schätze oder Landgewinn. Es geht nicht einmal um Macht. Es geht um die Existenz unserer Welt.«
»Aufhören!«, schrie Skar und hämmerte sich mit geballten Fäusten selber ins Gesicht, als könnte er damit die quälende Erinnerung auslöschen.
»Vielleicht ist das immer noch besser, als wenn sie von Männern wie dir beherrscht würde«, schleuderte Skar Del entgegen und der Satz war so lebendig, als hätte er ihn nicht vor Jahrhunderten ausgesprochen, sondern erst gerade in diesem Moment.
Er erschrak über seine eigenen Worte und auch Del fuhr wie unter einem Hieb zusammen. Skar begriff, dass er ihn zum allerersten Mal wirklich getroffen hatte, seit sie diesen endlosen Streit begonnen hatten. Seine Worte taten ihm Leid. Aber er spürte auch gleichzeitig, dass sie die Wahrheit gewesen waren. Und dass sie das wenige, was noch zwischen ihnen gewesen sein mochte, endgültig zerstört hatten. Er hatten den Mantel des Hohen Satais getragen, damals, und er hatte Del die Wahrheit sagen gehört... Es geht um die Existenz unserer Welt..., ohne wirklich zu ahnen, was für Konsequenzen das mit sich brachte. Als er den Mantel des Hohen Satais mit zitternden Händen von seinen Schultern gelöst hatte, um ihn vor Dels Thron zu Boden zu werfen, war das der Anfang des Endes ihrer Freundschaft gewesen, eine Freundschaft, die im Grunde erst in dem Moment geendet hatte, als ihn der hühnenhafte Satai niedergestochen hatte. Aber das Schlimme war... in diesem einen Moment hatte nicht er, sondern Del Recht gehabt: Es wäre besser gewesen, ein Mann wie er hätte über Enwor geherrscht, damals, vor dreihundert Jahren, als dieses Etwas, das sich mittlerweile wie eine schwärende Krankheit immer weiter über den ganzen Planeten ausbreitete, mit seinen Fühlern alles unterwanderte, was sich seiner nicht erwehren konnte, getrieben von einem unheimlichen Instinkt, der es nie würde enden lassen, bis nicht alles durchsetzt war von diesem unbegreiflichen Geschöpf, das auf einer Welt wie dieser keine Existenzberechtigung haben sollte.
Es war wie ein Hinübergleiten in eine andere Wirklichkeit. »Verdammt, rede ich so undeutlich oder willst du mich nicht verstehen«, brüllte er Del in seiner Erinnerung an, und gleichzeitig sah er in der Gegenwart, wie sich die Nahrak bei den Händen fassten wie ängstliche Kinder und eine Dreierformation bildeten. Eine Linie aus unerträglich grellem, zischendem Licht jagte im Zickzack über den Boden, brannte eine rauchende Spur in den Boden, berührte fast spielerisch die Ausläufer der Kreatur. Ein grollender und zugleich unheimlich hoher Laut dröhnte in seinen Ohren ... und Dels Lächeln erlosch nach und nach, als er seinem Blick begegnete, und schließlich machte sich so etwas wie Betroffenheit auf seinen Zügen breit. »Was ist nur mit dir geschehen, Del«, flüsterte Skar... und dann traf die zackende Energiespur den Körper der Kreatur.
Der Blitz fror regelrecht ein, wurde zu einem zuckenden, hin und her peitschenden Tentakel aus purer, blauweiß knisternder Energie, der beinahe liebkosend über das unförmige Etwas glitt, das ihnen den Weg versperrte. Doch da war schon ein neuer armdicker Tentakel aus gleißendem Licht heran, schlug sich seine Bahn und ... Del schoss einen zornigen Blick in Skars Richtung ab, aber als er weitersprach, klang seine Stimme fast normal. »Erinnerst du dich, was du uns erzählt hast, als du hergekommen bist? Dass diese Festung eine Falle ist, einzig dazu erbaut, um uns zu vernichten?«
Es war die Höhle, die diese Falle war. Es war nicht das, was er zu sehen glaubte, nicht dieses glitschige, monströse Ding dort vor ihm, das sich als etwas aufspielte, das es nicht war. Es waren die Wände, die Decke, der Boden und jeder einzelne verfluchte Gang in diesem Labyrinth. Die Erinnerung an Del hatte ihm auch die Erinnerung an das Netz wiedergebracht, an das mikroskopische Gewebe, das Steine durchzog, sich durch Decken bohrte. »Großer Gott!«, flüsterte Del entsetzt. »Schaut euch das an. Als ob es aus der Wand herausgekrochen wäre!«
Das Netz war weniger dicht, bedeckte die Wände zwar wie eine kompakte, schwarze Masse, ließ im eigentlichen Gang aber genug Platz, um ihn vorsichtig zu durchqueren und trotzdem erschien es Skar, als fühle er seine dunkle Ausstrahlung hier tausendmal stärker. Was immer das Herz dieses schwarzen Dämons war, es war hier präsenter. Er wusste plötzlich, dass das, was sie das Netz und Kiina den Wächter nannten, nur das Werkzeug von etwas viel Gefährlicherem, Böserem war, die Millionen Arme und Hände einer uralten, durch und durch feindseligen Kreatur.
Und er war ihr jetzt ganz nahe.
Als ihn die Vision verließ, zitterte er am ganzen Körper. Seine Beine waren taub und ein unbeschreiblicher Schmerz zuckte durch seinen Rücken. Er wusste nicht mehr, was Erinnerung gewesen war und was Wirklichkeit; er wusste nicht einmal mehr, ob so etwas wie Wirklichkeit tatsächlich noch für ihn existierte - bis er die neue Entladung sah, die wie ein Blitz durch die Höhle und auf die Bestie zuraste, einer gewaltigen, lodernden Energiekugel gleich, die sich durch nichts würde aufhalten lassen.
In einem gewaltigen Donnerknall barst die Energiekugel; der Boden unter ihnen erzitterte und von der Decke sausten scharfkantige Splitter herab. Es war bei weitem nicht so dramatisch wie beim Zusammenbruch der oberen Höhle und doch war es ein kleiner Weltuntergang. Das Schlimme daran war, dass er wusste, dass es kein Ende haben würde. Was immer die Nahrak taten, um die Bedrohung abzuwehren: Sie würden damit auch diese Höhle zum Einsturz bringen Er wusste plötzlich, dass er etwas tun musste. Die blendenden Energieladungen fraßen sich kalt und zerstörend in die Wände, kräuselten sich auf Boden und Decke und krochen bis zu ihm und Esanna.
»Hört auf!«, schrie Skar. Er kam taumelnd auf die Beine, doch unterhalb seines Bauches, dort, wo blässlichblaue Funken in ihn hineinkrochen, spürte er nichts weiter als ein Brennen und ein ekelhaftes Ziehen, das ihn förmlich zurückzuhalten schien. Er versuchte es zu ignorieren, trotzdem weiterzugehen, aber es funktionierte nicht. Seine Füße versagten ihm den Dienst und er wäre vornübergekippt, wenn ihn nicht plötzlich Esanna am Arm gepackt und mit erstaunlicher Kraft hochgezogen und festgehalten hätte. Einen Moment nur trafen sich ihre Blicke. In dem grünlichen, von Blitzen zerrissenen Licht konnte er kaum mehr erkennen als ihr bleiches Gesicht mit den weit aufgerissenen, dunklen Pupillen. Und trotzdem las Skar eine ganz klare Botschaft in ihren Augen: Tu es!
Mühsam quälte er sich mit Esannas Hilfe auf die Nahrak zu. Sie hielten sich mit festem Griff umklammert, bildeten ein Dreieck, selbstvergessen und ohne aufzusehen, als wollten sie sich an einer magischen Beschwörung versuchen. Ohne genau zu wissen, was sie da taten, war sich Skar ohne Nachzudenken vollkommen sicher, dass es falsch war, von Grund auf und ohne jeden Zweifel. Sie kämpften gegen etwas an, das sich nicht im Kampf besiegen ließ; jedenfalls nicht so, mit ein paar Zauberkunststückchen, welcher Art sie auch immer sein mochten. Er hatte keine Ahnung, woher er diese Sicherheit nahm - vielleicht aus einem Erlebnis aus seiner Vergangenheit, das ihm noch nicht wieder vollständig als Erinnerung zur Verfügung stand oder vielleicht auch nur aus einer plötzlichen Eingebung heraus - aber es war im Grunde genommen auch gleichgültig; er hatte gelernt sich auf seine Intuition zu verlassen und würde es auch diesmal tun.
Ein neuer Blitz raste durch die Höhle, brach seine Energie an den Wänden, erschütterte mit einem dumpfen Knall die über diesem Bereich noch weitgehend intakte, aber stark zerklüftete Höhlendecke und ließ damit erneut eine Wolke aus Splittern und Dreck auf sie herabregnen. Das grelle Zucken, das Donnern von Explosionen riss nicht mehr ab; die Kreatur wehrte sich gegen die Nahrak auf angemessene Art, schleuderte Blitze in ihre Richtung, die Skar an die Scannerwaffen der Errish erinnerten.
Verdammt. Wenn sie so weitermachten, würde das gesamte Höhlensystem einstürzen. Ihr einziger Vorteil war ihre eigene Ohnmacht: Keine der beiden kämpfenden Parteien nahm Notiz von ihnen; sie waren zu sehr mit ihren wechselseitigen Attacken und der Vernichtung der Höhle beschäftigt. Dabei blitzte ganz kurz hinter seiner Stirn der Verdacht auf, dass das Monster die Nahrak absichtlich zu ihrem wütenden Angriff provozierte, um so die Höhle zum Einsturz zu bringen und damit die fünf Überlebenden des Khtaám-Angriffs lebendig unter tonnenschweren Gesteinsmassen begraben zu lassen.
Esanna schien das ganz ähnlich zu sehen, denn sie stieß sich ohne Vorwarnung ab und war mit einem Satz bei den Nahrak. Skar wäre ihr gerne mit der gleichen Eleganz gefolgt, doch er hatte schon alle Mühe überhaupt auf den Beinen zu bleiben und das weitere Geschehen halbwegs zu verfolgen. Das Mädchen streckte die Hand aus in Richtung des Nahrak, der ihr am nächsten stand. Mit einer fast komisch langsam anmutenden Bewegung wandte er sich zu ihr um. Skar erkannte in diesem Moment, dass er sich getäuscht hatte: Die Hände der Männer waren nicht leer. Es war eine Art Stab, den jeder von ihnen fest umklammerte, nicht größer als Jagdmesser, aber rund und aus einem Material, das ihm nur zu bekannt vorkam: Sternenstahl!
Doch anders als bei seinem Tschekal ging ein leichtes Leuchten von dem Sternenstahl in ihren Händen aus. Was immer da vorging, was immer die Nahrak da taten; es hatte wohl kaum etwas mit Magie zu tun, sondern vielmehr mit der Technik der Alten, mit der unbegreiflichen Macht der Menschen, die sich so weit von aller Vernunft entfernt hatten, dass sie sich selbst und ihre Welt fast vollständig zerstört hatten, die das Sternenfeuer über die Welt gebracht hatten, als ob sie nur in ihrem eigenen Tod Erfüllung hatten finden können.
Der Nahrak schüttelte fassungslos den Kopf und es zeichnete sich ein Entsetzen auf seinem Gesicht ab, das Esanna eigentlich hätte davon abbringen müssen, ihre Bewegung zu Ende zu führen. Doch stattdessen packte sie entschlossen zu, griff, ohne zu zögern, an ihm vorbei und ließ entschlossen ihre rechte Hand auf den leuchtenden Stab aus Sternenstahl vorzucken.
Ein ekelhaftes Zischen war genau in dem Moment zu hören, als sie den Stab berührte; ein Laut, als berührte glühendes Eisen Fleisch. Ehe Skar eingreifen konnte wurde Esanna wie ein Spielzeug durch die Luft gewirbelt, flog quer durch die Höhle und krachte gegen eine der Wände, um dann an ihr abzugleiten und wie leblos auf dem Boden liegen zu bleiben.
Die Bestie, die das Ziel der Energieblitze war, stieß im gleichen Augenblick zu, pulsierte mit heftig hin und her schaukelnden Bewegungen auf die Nahrak zu, stieß ein wütendes Zischen aus und schlug mit ihren Tentakeln nach dem ihm am nächsten stehenden Mann. Der Nahrak tauchte mit einer fast spielerischen Bewegung unter dem Angriff hinweg, ohne den Leuchtstab loszulassen, und wich zusammen mit Kama und dem dritten Mann ein paar Meter zurück, um aus der Reichweite des wütenden Angreifers zu kommen.
Das Gefühl, dass hier etwas schrecklich falsch lief, verstärkte sich in Skar. Er hatte gesehen, was die Khtaám anrichten konnten, die winzig waren im Vergleich zu diesem ekelhaften Monstrum, und er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser ungeschickte Angriff alles war, was die Bestie zustande brachte. Es hätte nicht seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Krieger bedurft, um darauf zu kommen, dass es nicht mehr war als eine plumpe Finte, die die Nahrak dazu bringen sollte, ihr tödliches Spielzeug zur Entfaltung zu bringen: um sich damit selbst und nicht zuletzt ihn und Esanna unter einem Berg von Gesteinsmassen zu verschütten.
Es gab nur eine Möglichkeit das zu verhindern. Seine Hände hinterließen blutige Abdrücke auf dem Griff seines Tschekals, als es wie von selber in seine Hand glitt. Der Sternenstahl fühlte sich ungewohnt kalt an und gleichzeitig viel leichter, als er eigentlich hätte sein sollen. Aber vielleicht waren auch nur seine Sinne verwirrt. Es machte keinen Unterschied.
Durch ihre Ausweichbewegung befanden sich die Nahrak jetzt genau neben ihm. Das Ungeheuer stand vor ihnen, schwankend und mit zuckenden Tentakeln, und als ein neuer Energieblitz auf es zuraste, in grotesken Ausläufern zerfaserte und es fast vollständig einhüllte, stieß es ein dumpfes, monströses Grollen aus, das trotz seiner grausamen Lautstärke fast unterging in dem Poltern, Krachen und Beben, mit dem jetzt bereits größere Brocken Felsgestein inmitten der Höhle niedergingen.
»Schluss!«, wollte Skar schreien, denn er wusste mit untrüglicher Sicherheit, dass die Vernichtung der Höhle unmittelbar bevorstand, wenn sie nicht sofort mit dem Wahnsinn aufhörten, aber ein losgeschlagener Stein, der seine Schulter traf, ließ ihn erneut um sein Gleichgewicht kämpfen und trieb ihm die Luft aus den Lungen.
Die Nahrak allerdings hätten wohl sowieso nicht auf ihn gehört. Ungeachtet des Chaos um sie herum verstärkten sie ihre Anstrengungen. Das von den Stäben aus Sternenstahl ausgehende Leuchten hatte sich verstärkt und war irgendwie bösartiger geworden und gleichzeitig nahm die Intensität der Entladungen zu, die um das Monster tobten, ohne es allerdings dorthin zurückzuschicken, wo es hergekommen war.
Er durfte keine Zeit verlieren. Ohne auch nur noch einen Moment auf das Krachen, Donnern und Blitzen zu achten, packte er sein Tschekal fester und ließ es mit der Breitseite auf den Kopf des neben ihm stehenden Nahrak niedersausen. Der Mann stieß einen überraschten Laut aus und schwankte leicht; aber zu Skars Verblüffung hielt er sich weiter auf den Beinen und dachte gar nicht daran, zu Boden zu gehen.
Skar kam nicht dazu, ihn mit einem kräftigeren Hieb außer Gefecht zu setzen, denn das von grellen Entladungen gepeinigte Ungeheuer fuhr mit einem entsetzlichen, zischelnden Laut herum und stampfte auf ihn zu, als begriffe es, was er vorhatte. Er duckte sich, riss mit einer verzweifelten Bewegung sein Tschekal hoch und ließ es in die Peitschenarme kreisen, aber der Sternenstahl prallte von der wütenden Bestie ab, als ob er ein Holzschwert in den Händen halten würde. Das aggressive Zischen des Monsters verstärkte sich, und als es näher kam, spreizten sich seine Tentakel, öffneten sich zu einer schwerfälligen, tödlichen Umarmung.
Es war genau so, wie Skar es befürchtet hatte. Selbst wenn er mit doppelter Wucht auf diese schwarzgrüne Masse einschlagen würde, käme es nur dem Versuch einer Mücke gleich, mit einem wütenden Angriff seines Stachels einen Menschen erstechen zu wollen. Möglicherweise hielten die Nahrak die geeignete Waffe für den Kampf gegen ein solches Monstrum in den Händen, möglicherweise hätten sie es damit auch unter freiem Himmel auslöschen können, ohne sich selbst zu gefährden. Doch hier, in der Höhle, würde ihre Art zu kämpfen ihrer aller Untergang bedeuten. Deshalb blieb ihm nur noch eine Chance: Seine Taktik zu ändern und etwas vollkommen Unerwartetes zu unternehmen.
Mit einer Geschicklichkeit, die seinem angeschlagenen Zustand Hohn sprach, tauchte Skar unter dem nächsten Angriff der nach ihm peitschenden Fangarme durch, war mit einem Satz außerhalb ihrer Reichweite und in der nächsten Bewegung auch schon unter den Nahrak. Das Tschekal sauste wie ein eigenständiges Lebewesen auf Kama hinab und hätte ihm den Schädel gespalten, wenn Skar es nicht um neunzig Grad gedreht hätte.
Der Mann rechnete nicht mit einem Angriff von der Seite aus, natürlich nicht, und tat deswegen auch nichts zu seiner Verteidigung. Als ihn die Breitseite des Schwerts traf, ging Kama wie vom Blitz getroffen zu Boden. Seine Hände glitten von den fluoreszierenden Stäben ab. Das dumpfe Grollen, das die nächste Entladung angekündigt hatte, lief in einem Knistern aus, das von wenigen gekräuselten und eindeutig schwächlich wirkenden Energiebahnen begleitet wurde. Doch Skar blieb keine Zeit sich um die Auswirkungen seines Angriffs auf seinen merkwürdigen Verbündeten zu kümmern.
Die beiden anderen Nahrak wandten sich ihm zu. In ihren Gesichtern stand ein Entsetzen, fast schon ein tiefer Schmerz, der sich mit völligem Unverständnis mischte. »Du Narr«, stieß einer der beiden aus.
Skar hätte nicht überraschter sein können, wenn sich der Mann vor ihm in Luft aufgelöst hätte. Er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass keiner der Nahrak - bis auf Kama - Tekanda sprach. Aber das war jetzt unwichtig. Auf ihren Zügen lag ein Ausdruck von Furcht, der nichts mit übersteigerten Reaktionen zu tun hatte. Sie hatten Angst, beinahe panische Angst.
Und das nicht zu Unrecht. Kaum war das Energiefeld in sich zusammengebrochen, ging ein Ruck durch die Bestie und ihre Tentakel fuhren kraftvoller als je zuvor durch die Luft, schlugen dicht neben Skar auf den Boden, als hätte sie zwar bereits ihre Kraft, nicht aber ihre Zielsicherheit vollständig wiedererlangt. Mit einer verzweifelten Bewegung warf sich Skar herum und wich so schnell wie möglich zurück: und dennoch fast zu spät, denn das wabbelnde Monster schien jetzt ihn zu seinem Hauptgegner erkoren zu haben, ohne Dankbarkeit dafür, dass er den Angriff der Nahrak unterbrochen hatte.
Was vielleicht ein fürchterlicher, ein tödlicher Fehler gewesen war.
Ein Monsterarm peitschte wild in seine Richtung und schrappte an seinen nackten Beinen vorbei. Es war nicht viel mehr als eine beiläufige Berührung und doch spürte Skar, wie seine Haut aufriss und Blut an seinem Fuß herablief. Der Schmerz war furchtbar - aber er war nichts im Vergleich zu dem, was ihn erwartete, wenn ihn einer der Tentakel voll erwischte. Das schleimige Äußere der Kreatur suggerierte Schwäche, aber in seinen Bewegungen steckte eine Kraft, die einem mächtigen Staubdrachen in nichts nachstand.
In diesem Moment hätte Skar sonst etwas dafür gegeben, wenn er seinen Angriff auf Kama wieder hätte rückgängig machen können. Vielleicht hätten die Nahrak ja Erfolg gehabt mit ihrer Abwehr des Monsters, ohne dass die Höhle zusammengestürzt wäre ... müßige Gedanken und absolut unsinnig angesichts des zuckenden und blitzartig zuschlagenden Biestes, das sich erneut mit einem Zischen auf ihn stürzte.
Die Hilfe kam von vollkommen unerwarteter Seite. Gerade als Skar mit einer verrückten Drehung an einem der Fangarme vorbeitanzte und unter einem anderen hinwegtauchte, schrie einer der Nahrak auf, warf sich mit einem Satz nach vorne und riss den Arm hoch. Der leuchtende Stab, den er in den Händen gehalten hatte, flog durch die Luft und klatschte in die widerlich schwabbelnde Masse des Ungeheurs.
Das Ergebnis war verblüffend. Das Monster blieb so abrupt stehen, als wäre es gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Ein Zucken jagte wellenartig über seinen Körper und seine Arme peitschten wild hin und her. Die schleimig grüne Masse, aus der sein Körper bestand, schien von einer Sekunde auf die andere ihren Halt zu verlieren. Dünne, glitzernde Schleimfäden tropften zu Boden, gefolgt von faustgroßen Klumpen und Brocken. Es ging unheimlich schnell. Der Leib des Ungeheurs zerschmolz zu einer glibberigen amorphen Masse und seine undefinierbare Körpersubstanz begann zu kochen, zu brodeln und hin und her zu wogen. Mehr und mehr Rauch quoll hoch, während es gleichzeitig prasselte und knisterte wie bei einem Lagerfeuer, das gerade jemand mit einem Eimer Wasser zu ersticken versucht hatte.
Es dauerte nicht einmal eine Minute. Der Rauch wurde so dicht, dass er Skar die Sicht auf das Ungeheuer verwehrte, aber als er sich verzog, war der tentakelbewehrte Koloss verschwunden, als hätte er nie existiert. Doch an seiner Stelle war irgendetwas - anderes. Etwas Kleines, kaum Sichtbares; ein Huschen und Wegkrabbeln, haarfeine Äderchen, die darin zuckten und winzige glänzende Klümpchen, kleinen beinlosen Tieren aus schwarzem Schleim gleich, die blind hin und her krochen.
Langsam schob sich Skar vorwärts. Seine Hände und Knie zitterten und der furchtbare Anblick ließ seinen Magen rebellieren; aber er zwang sich weiter zuzusehen und trat sogar noch einen Schritt näher.
Von dem Monster selbst war nichts mehr zu entdecken. Dort, wo es gestanden hatte, breitete sich jetzt eine glitzernde Pfütze mit einem Durchmesser von fast fünf Metern aus. Schillernde Blasen stiegen an ihre Oberfläche und zerplatzten lautlos, und als sich Skar noch ein Stück weiter vorwagte, stieg ihm ein atemberaubender Gestank in die Nase. In der Mitte der Pfütze lag jetzt das rohrähnliche Teil, das eben noch hell aufgeleuchtet hatte. Doch jetzt war es matt und grau und schien fast mit den grünbraunen Schlieren des Bodens zu verschmelzen und Skar ahnte, dass alle Energie, die in ihm gesteckt hatte, vollständig verbraucht war.
Was Skars Aufmerksamkeit aber mehr auf sich zog, waren die winzigen huschenden Kreaturen, die sich vom Rand der Pfütze hinweg in den Hintergrund der Höhle ausbreiteten wie ein lebendig gewordener Teppich. Auf den ersten Blick hätte er nicht zu sagen vermocht, ob es sich dabei um Khtaám-Larven handelte oder um irgendetwas anderes - aber das war auch nicht so wichtig. Entscheidender war, dass sie sich von ihm wegbewegten und nicht auf ihn zu. Der Nahrak, der den Energiestab geworfen hatte, wandte sich langsam mit ausdruckslosem Gesicht zu ihm um. »Das du niiiiicht hättest maaaachen dürfen«, sagte er.
»Was?«, krächzte Skar. »Dass du dieses ... Ding vernichtet hast? Was ist verkehrt daran.«
»Eiiiine Meeeenge«, sagte der Mann leise, »denn jeeeetzt sind wir weeeehrlos. Wir brauchen dreeei Jaertiks, um das Feld zu ... zu maaachen. Wir aber haben nur noch zweeeei.« Skar nickte geistesabwesend. Er verstand kein Wort von dem, was der Mann sagte, zumal eine Welle der Übelkeit durch seinen Körper jagte. Die Anstrengungen des Kampfes und der Schmerz, der jetzt nahezu ungehindert durch seinen Körper jagte, waren zu viel gewesen. Er kämpfte den aufkommenden Brechreiz mit aller Macht nieder und sah sich nach Esanna um, die weit entfernt hinter ihm gegen die Wand geknallt war.
Sie war nicht mehr da.
Zuerst glaubte er, seine Augen spielten ihm einen Streich, denn noch immer tanzten bunte Schlieren vor ihnen und außerdem war das schwache, grünliche Licht in der Höhle kaum dazu geeignet, jede Einzelheit zu erkennen. Doch dann begriff er, dass er sich nicht getäuscht haben konnte. Er sah Gewimmel an den Rändern der Höhle, überall, nur nicht in ihrer unmittelbaren Umgebung; huschende, schemenhafte Bewegungen, die sich nicht fassen ließen und doch mehr als deutlich wahrnehmbar waren.
Wenn er diese zuckende Brut sah, konnte er einen menschlichen Körper wohl kaum übersehen. Er riss sich von dem grässlichen Anblick der huschenden Schemen los, fuhr herum und stürmte mit immer noch gezogenem Tschekal in die Richtung, in die das Mädchen nach seinem Angriff auf die Nahrak gestürzt war.
»Bleeeeib hier!«, schrie jemand hinter ihm.
Es war der Nahrak, der die Kreatur vernichtet hatte. Nur ganz am Rande seines Verstands nahm Skar wahr, dass dieser Mann, bis auf seinen Sprachfehler, fast besser Tekanda sprach als Kama. Wenn er Esanna wieder gefunden hatte, würde er den Nahrak ein paar unangenehme Fragen stellen müssen.
Er rannte, so schnell er konnte. Seine Füße schmerzten unerträglich. Eine dünne Spur glitzernder Blutstropfen blieb auf dem schlierigen Boden hinter ihm zurück und sein Rücken brannte immer noch wie Feuer. Jeder einzelne Schritt war eine Qual, aber er bemerkte es kaum. Es hatte in seinem Leben zu oft Situationen gegeben, in denen Schmerz eine untergeordnete Bedeutung gespielt hatte im Vergleich zu dem, was zu tun gewesen war. Und er wusste, dass Schmerz alleine vollkommen bedeutungslos und damit auch nahezu komplett ausblendbar war.
Nicht Schmerz war tödlich. Tödlich waren nur Verletzungen, die sich nicht mehr heilen ließen.
Er spürte, dass ihm einer, wenn nicht beide Nahrak nachliefen - Kama lag immer noch regungslos dort, wo er ihn niedergeschlagen hatte -, und er verdoppelte seine Anstrengungen, aber seine Verletzungen beeinträchtigten ihn zu sehr, um sie abhängen zu können; und im Grunde genommen war es egal. Auch wenn die Nahrak über seine Einmischung alles andere als erfreut waren und kaum begreifen konnten, warum er Kama niedergeschlagen hatte - er begriff es ja selbst nicht, wenn er ehrlich war -, so waren sie doch nicht seine Feinde.
Er fand weder Esanna noch eine Spur von ihr. Mit hämmerndem Herzen blieb er stehen, sah sich um, versuchte das Gekribbel und Gewirr zu seinen Füßen auszublenden und fragte sich, warum ihm dieses Digger-Mädchen so wichtig war. Er hatte mit ansehen müssen, wie die Quorrl ihr ganzes Dorf ausgelöscht hatten, ohne auf Frauen und Kinder Rücksicht zu nehmen. Und jetzt machte er sich Sorgen wegen eines einzelnen Mädchens.
»Wiiiiir müssen weeeeg«, sagte der Nahrak neben ihm und berührte ihn fast sanft am Arm. »Wiiiiir müssen... flieeehen. Können keinen Angriiiiiff meeeehr abweeehren.« Skar schüttelte benommen den Kopf und schob die Hand des Mannes von seinem Arm. »Ihr habt doch noch zwei von den Dingern ...«
»Deeen Jaertiks...«
»Ja. Damit könntet ihr diesen schleimigen Kreaturen doch ganz schön einheizen.«
»Deeen Khtaám.«
»Khtaám?«, fragte Skar verwirrt. »Ich dachte, das wären diese«, er ballte eine Faust, »diese kleinen, flitzenden Dingern mit den vielen Zähnen.«
»Auch«, nickte der Nahrak. »Khtaám hat viiiiiiiiele Gesichter.«
»Auch das noch«, stöhnte Skar. »Heißt das etwa, dass es noch Schlimmeres gibt als diesen ... diesen letzten, diesen großen Khtaám, den du vernichtet hast?«
»Es giiiiiibt immer Schliiiiiiimmeres«, sagte der Nahrak ausweichend. »Aber nun komm.«
»Und das Mädchen?«
Der Mann runzelte die Stirn, als hätte er die Frage nicht verstanden. Erst als er begriff, dass Skar auf einer Antwort bestehen würde, sagte er: »Sie ist jetzt niiiicht wiiiichtig. Vielleicht später.«
Skar war versucht den Nahrak kurzerhand bei den Schultern zu packen und durchzuschütteln. Er war nie cholerisch gewesen, aber dieses ausweichende und umständliche Gerede machte ihn wahnsinnig. »Es ist mir egal, was du sagst«, brummte er jedoch stattdessen. »Ich werde sie jetzt suchen gehen. Sie kann ja nicht weit gekommen sein.« Wenn sie überhaupt noch lebt, fügte er in Gedanken hinzu. Ohne weiter auf die beiden Männer zu achten, humpelte er weiter. Das Gewimmel zu seinen Füßen wirkte noch immer ziellos und zufällig. Aber er war sich sicher, dass das nicht mehr lange so bleiben würde. Irgendetwas braute sich hier zusammen ... etwas, das mit nächster Angriffswelle nur sehr unvollkommen beschrieben wäre. Vielleicht hatten die Nahrak ja Recht und es lauerte hier unten noch etwas ganz anderes, etwas, das auch zu dieser Gattung der Khtaám gehörte. Es war ein tief beklemmendes Gefühl, das Skar mit diesem Gedanken verband, etwas, das tief in ihm auf eine Resonanz stieß, auf ein geheimes, vielleicht uraltes Wissen, auf etwas, das mit mehr zu tun hatte als mit einem simplen Machtkampf unbekannter und unbegreiflicher Mächte...
Der Felsvorsprung, auf den er zusteuerte, sah aus der Nähe ganz anders aus, als er vermutete hatte. Er war nicht nur eine Unregelmäßigkeit in der Wand, ein zufälliges Spiel der Natur, die diese Höhle geschaffen hatte, sondern eher ein Zugang, der in einen anderen, halb verborgenen Bereich des unterirdischen Labyrinths führte. Er wünschte sich, er hätte eine Fackel bei sich, denn die schwache, grünliche Beleuchtung leuchtete den Bereich hinter dem Vorsprung nur sehr unvollkommen aus.
»Faaalscher Weg«, sagte der Nahrak neben ihm nervös, während seine Augen unruhig hin und her wanderten, als suche er nach den Anzeichen eines bevorstehenden Angriffs.
»Ihr solltet besser nach Kama sehen«, sagte Skar. »Ich mach das hier schon. In einer paar Minuten bin ich zurück.« Der Nahrak schüttelte den Kopf. »Wir niiiiicht haben so viel Zeit«, wiederholte er stur. »Wenn wir niiiiicht gleich gehen, es kaaann sein zu spät.«
»Natürlich«, sagte Skar. »Es kann immer zu spät sein.« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Und nun geht - und lasst mich in Ruhe.«
Die Reaktion des Nahrak war ganz so, wie er befürchtet hatte. Er wechselte mit seinem Artgenossen einen Blick und es sah ganz so aus, als ständen sie kurz davor, sich auf Skar zu stürzen, um ihn mit Gewalt von seinem Vorhaben abzubringen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Nachdem er bereits Kama ohne viel Zartgefühl ausgeschaltet hatte, wollte er sich nicht auch noch an diesen beiden die Hände schmutzig machen.
Die Nahrak schienen die unruhige Bewegung, die sein Tschekal beschrieb, als das zu deuten, was sie war: als Drohung. Dennoch sagte der Mann, der sich zum neuen Wortführer aufgeschwungen hatte: »Es ist niiiiicht gut. Niiiiicht richtig.«
»Je länger wir darüber streiten, umso mehr Zeit vertrödeln wir«, stellte Skar fest. »Ich sehe jetzt zu, dass ich Esanna finde, und dann verschwinden wir von hier.«
»Dann wiiiir kommen mit«, sagte der Nahrak ungerührt. Skar seufzte und drehte sich wieder um, ohne seine ungeliebte Leibgarde weiter zu beachten. Es war eine unwirkliche Atmosphäre, in die er schon nach wenigen Schritten eintauchte. Das grüne Leuchten reichte weiter, als er gedacht hatte, aber es veränderte sich, wurde intensiver, glich eher dem Farbton einer frischen Pflanze, die durch einen kräftigen Regenguss zum Leben erweckt worden war. Auch hier wimmelte und kroch es um die Wände herum; schwarze, dunkle Ungeheuer, ähnlich den behaarten, vielfingerigen Wesen, die er für Khtaám-Larven gehalten hatte, die aber vielleicht etwas ganz anderes waren, vielleicht nicht mehr als eine Manifestation dessen, was sich ganz allgemein hinter dem Begriff Khtaám verbarg.
Skar versuchte diesem widerlichen Treiben keine Aufmerksamkeit zu schenken. Solange sie ihn in Ruhe ließen, brachte ihm eine Auseinandersetzung mit diesen Wesen nichts. Irgendetwas in seinem Inneren flüsterte ihm zu, dass er sich dennoch vor ihnen in Acht nehmen sollte, dass sie jederzeit über ihn herfallen konnten wie eine vor Hunger wahnsinnige Rattenschar - aber dann blieb immer noch genug Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
Was ihm dagegen akut Sorgen bereitete, war, dass er keine Spur von Esanna entdecken konnte. Es konnte sein, dass sich das Mädchen bei dem Sturz so schwer verletzt hatte, dass sie benommen und ohne zu wissen, was sie eigentlich tat, weggekrochen war, aber genauso gut konnte sie verschleppt worden sein.
»Habt ihr gesehen, was aus dem Mädchen geworden ist?«, fragte er leise.
Der neben ihm gehende Nahrak schüttelte den Kopf.
»Nein. Anderes war wiiiichtiger.«
»Ja«, sagte Skar mit einem ungerechten Zorn in der Stimme, »und deswegen müssen wir sie jetzt suchen.«
»Das wir niiicht müssen«, widersprach der Nahrak.
»Auch jetzt sein anderes wiiiichtiger.«
»Und was?«, fragte Skar fast gegen seinen Willen.
»Dem Khtaám zu entkommen«, sagte der Nahrak. »Und danach deeeen Krieg gegen die Quorrl zu beeeenden. Das Töten muss ein Ende haben.«
»Im Augenblick ist mir dieses Töten herzlich egal«, sagte Skar. »Für den Anfang würde es mir schon reichen, wenn wir endlich aus der Höhle rauskämen. Mit dem Mädchen.« Trotz seiner schroffen Ablehnung spürte er das tiefe Unbehagen, das die Worte des Nahrak in ihm ausgelöst hatten. Er wollte nichts mit einem Krieg zu tun haben, er wollte keine Verantwortung übernehmen - und er wollte nicht von ein paar dahergelaufenen kleinen, waffenlosen Männern zu irgendetwas genötigt werden.
»Es ist etwas daaa vorne«, sagte der Nahrak plötzlich. Skar starrte angestrengt in das Halbdunkel. Auch ihm war während der letzten Schritte eine fast unmerkliche Veränderung aufgefallen; während die hinter ihnen liegende Höhle so groß war wie der Thronsaal der Margoi, kamen sie jetzt in einen schmalen, verwinkelten Bereich, mit vielen Nischen und Vorsprüngen, und teilweise schrumpfte die Breite des Durchgangs auf wenige Schulterbreiten, während gleichzeitig die zerklüftete Decke stellenweise so tief hinabreichte, dass er an einigen Stellen den Kopf einziehen musste. Doch irgendwo, dicht vor ihm, das konnte er geradezu spüren, tat sich wieder eine Höhle auf, die gigantisch sein musste und schon jetzt, kurz bevor sie sie erreichten, das Echo ihrer Stimmen merkwürdig verzerrt zurückwarf. Aber was der Nahrak gemeint hatte, war etwas anderes. Es war etwas, was ihn auf beängstigende Weise an seine Vergangenheit erinnerte, obwohl er wusste, dass er es noch nie gesehen hatte ... und er spürte plötzlich, wie heiß und stickig es hier war und wie etwas seine Gedanken verwirrte, ein Entsetzen, eine Vorahnung oder schon eher das Wissen, dass ihm eine grausige Entdeckung bevorstand.
Der kühle Hauch, der bislang für einen ständigen frischen Wind gesorgt hatte, war einem stickigen, abgestandenen und fast brackigen Gestank gewichen, aber da war auch noch etwas anderes - der süßlich bittere Geruch nach Verwesung und Tod. Seine Bewegungen wurden schwerfälliger und er hatte das Gefühl kaum noch Luft zu bekommen. Vor seinen Augen tanzten bunte Kreise und seine Lungen schmerzten, als hätte er soeben eine außergewöhnliche körperliche Leistung vollbracht.
»Da«, sagte der Nahrak ungewöhnlich aufgeregt und deutete vor sich auf eine Reihe von Nischen, die sich wie aufgereiht vor ihnen an einer fast ebenmäßigen Wand entlangzogen. »Dort ist etwaaas.«
Skar schüttelte verwirrt den Kopf. Es waren nicht nur die Nischen, es war die ganze Höhle, die sich vor ihnen in unglaublichen Dimensionen eröffnete: Er konnte das drohende Unheil geradezu körperlich spüren. Vielleicht würde er hier auf die tote Esanna stoßen, vielleicht aber auch auf etwas anderes, von dem er nichts wissen wollte und das sich ihm in geradezu obszöner Weise präsentieren wollte. Er ertappte sich dabei, wie er den Griff seines Schwerts fester umklammerte, so als habe er Angst, dass es ihm jemand entreißen könnte. Wie kam er bloß auf so verschrobene Gedanken? War es die morbide Atmosphäre hier unten oder war es tatsächlich so etwas wie eine Vorahnung? »Warum du niiiicht gehen weiter?«, fragte der Nahrak. Die Frage war berechtigt, fand Skar, und doch konnte er sich nicht aufraffen auch nur einen weiteren Schritt in die Höhle vor ihm zu machen. Ganz im Gegenteil. Das beklemmende Gefühl in ihm nahm genauso zu wie die Atemnot und aus den vor seinen Augen tanzenden Flecken wurde eine Schwärze, die ihn vollkommen gefangen nahm ... er knickte in die Knie ein und wäre zweifelsohne gestürzt, wenn die Nahrak nicht schnell und konsequent reagiert hätten.
»Es ... geht... schon«, hörte er sich sagen, aber seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren so weit und fern, als würde sie jemand anderem gehören. Zugleich hämmerte sein Herz so laut und heftig, dass ihn jeder einzelne Schlag schmerzhaft durchzuckte. Trotzdem versuchte er die stützenden Hände der helfenden Nahrak beiseite zu schieben. »Wiiir müssen weiter«, sagte der Nahrak.
Die Worte ließen Skar schaudern und er hätte am liebsten Nein! geschrien, denn er hatte die abstruse Vorstellung, die beiden Männer wollten ihn nur wieder zurück in die Höhle schleifen, weg von Esanna, die hier irgendwo vor ihm wartete, und gleichzeitig hatte er die Angst, Decken und Wände konnten aufplatzen unter dem Druck tausender von Khtaám-Larven, und dann durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass vielleicht das gesamte Höhlensystem der Khtaám war und er, Esanna und die Nahrak nichts weiter waren als eine willkommene Zwischenmahlzeit, die auch noch freiwillig in die Verdauungsorgane dieses unbegreiflichen Lebewesens spaziert waren.
»Niiiicht mehr weit«, hörte er die Stimme des Nahrak aus grausamer Entfernung. Aber er wollte nicht zurück, er wollte weitergehen und er musste etwas unternehmen und vielleicht waren ja auch die Nahrak Bestandteile des bösen Spiels, mit dem er hier in die Falle gelockt werden sollte.