2.4

Wie lange er bewusstlos dagelegen hatte, hätte er später nicht mehr zu sagen vermocht. Irgendetwas kitzelte in seiner Nase. Es war ein widerliches Gefühl, so als wollte etwas in sein rechtes Nasenloch fahren und in seine Stirnhöhle hochkrauchen.

Er schlug die Augen auf. Es war fast noch schlimmer, als er befürchtet hatte, schlimmer, als der bedrückendste Alptraum sein konnte: Er lag kopfüber in einer schleimigen, stinkenden, sich windenden Masse, aus der ein einzelner Tentakel hochgekrochen war und sich an seiner Nase zu schaffen machte. Er versuchte die Hand vorschnellen zu lassen, um sich von dem gleichermaßen ekelhaften wie gefährlichen Auswuchs zu befreien, aber es gelang ihm nicht einmal, die Finger zu bewegen. Er wollte schreien, aber es war nur ein einzelner ächzender Laut, der über seine Lippen kam. Zu allem Überfluss schien er das, was den Tentakel steuerte, so damit zu motivieren, dass es den schleimigen Fühler nach einem kurzen Zucken schneller über seine Oberlippe schob, sodass dieser jetzt bereits bis auf Daumenlänge in seinem Nasenloch verschwunden war. Hämmernde, harte Panik begann sich in Skar breit zu machen. Er versuchte irgendetwas zu machen, einen Finger zu bewegen oder auch einen ganzen Arm, die Beine anzuziehen oder den Kopf zu drehen: Aber er war wie gelähmt.

Schleimig tastend fuhr der Tentakel weiter in seiner Nasenhöhle hinauf. Es wäre Skar in diesem Moment tausendmal lieber gewesen, von einem Schwert durchbohrt zu werden, als diesem grauenvollen Angriff eines angeschlagenen Khtaám ausgeliefert zu sein. Was passierte, wenn sich der Tentakel immer weiter nach oben schob, konnte er sich nur zu genau ausmalen.

Was ihn schließlich rettete, war so banal, dass es geradezu grotesk war: Er musste niesen. Der Tentakel hatte seine Schleimhaut so gereizt, dass er von einem explosiven Niesen durchgeschüttelt wurde. Sein Kopf flog ein Stück zurück. Die Saugnäpfe des Tentakels spreizten sich auf, versuchten sich festzusaugen. Doch dann glitt der widerliche fühlerähnliche Auswuchs plötzlich ab, rutschte die Nasenhöhle hinunter und verabschiedete sich mit einem letzten Hieb auf Skars Lippen, im wahrsten Sinne des Wortes ausgeniest.

Skar atmete erleichtert auf, bereute den tiefen Atemzug aber im selben Moment schon wieder: Der Gestank der Masse, in die er mit dem Kopf eingetaucht war, brachte ihn zum Würgen. Er versuchte den Kopf etwas höher zu drehen, Stückchen für Stückchen, und schließlich hatte er zumindest das Gesicht aus der noch immer zuckenden Masse befreit. Er wusste nicht, wie viel Leben noch in den Ungeheuern war, in die er eingetunkt war, oder ob ihre Zuckungen vielleicht nur bedeuteten, dass sie wieder zu sich kamen, zu einem Leben erwachten, das mit etwas Natürlichem nichts zu tun hatte.

Er hatte auch nicht vor es herauszufinden.

Die Arme so weit anzuziehen, dass er sich auf sie stützen konnte, fiel ihm unglaublich schwer. Er versuchte sich aufzurichten, aber die Bewegung überforderte ihn. Wie ein Kleinkind robbte er weg von dem schwarzen, zuckenden und ekelhaft lebendigen Gewimmel, aus dem sich bereits wieder Tentakel in seine Richtung schlängelten. Seine rechte Hand tauchte in etwas Glitschiges ein, das sie ein paar Zoll weit über den verschleimten Boden gleiten ließ, sodass er mit dem Gesicht wieder in das schwarze Gezappel eintunkte. Züngelnde, schlängelnde Auswüchse glitten über sein Gesicht, tastend und fordernd, gleichermaßen zielgerichtet wie schnell.

Er hustete verzweifelt, stemmte sich wieder ein Stück in die Höhe, ohne jedoch alle Tentakel abschütteln zu können. Mit der einen Hand in die schleimige Masse gestützt, versuchte er sich mit der anderen Hand von dem widerlichen Gewimmel in seinem Gesicht zu befreien. Zwei, drei Auswüchse konnte er mit einer einfachen Handbewegung beiseite wischen, aber ein Tentakel glitt kraftvoll über sein Kinn und seinen rechten Mundwinkel in Richtung Nase.

Was auch immer die Khtaám antrieb, es war nicht beendet, wenn man sie zerstückelte und zerquetschte. Es war kein einziger Körper der Nachtmahre mehr erkennbar, sondern nicht mehr als ein schmieriger, stinkender Brei, der aber von Sekunde zu Sekunde mehr Konturen annahm und zu einem Schlangennest zu mutieren schien, aus dem die giftige Brut gerade ins Freie kroch, gierig und blutrünstig auf der Suche nach einem ersten Opfer.

Skar begriff, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wenn er dem noch fast harmlos anmutenden Tasten und Glibbern entkommen wollte. Um ihn herum war ein Stöhnen, Rascheln, Schaben und Wimmern, eine Mischung unterschiedlichster Laute der Angreifer und ihrer Opfer, aber keine Geräusche, die auch nur im Entferntesten auf einen regelrechten Kampf der Nahrak gegen die schwarze Brut hindeuteten. Was auch immer passiert war: Die erste Angriffswelle der Khtaám schien beendet zu sein. Was nicht hieß, dass die nächste nicht schon bevorstand.

Das sich windende, schlängelnde Etwas, das sich nicht hatte abschütteln lassen und nach wie vor in seine Nase vorzustoßen versuchte, schnellte mit einer kraftvollen Bewegung vor. Skar schrie auf. Diesmal gelang es ihm, den Tentakel zu packen. Aber das Ding hatte nicht vor so schnell aufzugeben. Die abstoßende Mischung aus Saugfüßen und spitzen Zähnen krallte sich in ihm ein, saugte an seinem Unterkiefer und durchbohrte schmerzhaft seine Oberlippe. Skar spannte seine gewaltigen Muskeln an und ließ ihre gesamte Energie in einer einzigen Bewegung frei.

Er hatte das Gefühl, als ob er sich selbst einen Teil seines Gesichts herausreißen würde. Seine durchstochene und mittlerweile heftig blutende Oberlippe dehnte sich weit über den Punkt des Erträglichen hinaus, so als wäre sie bereits mehr in dem Peitschenarm verwurzelt als in seinem eigenen Körper. Sein eigener Schrei mischte sich mit dem zischenden Geräusch von dem glitschigen Etwas, zu dem der Tentakel gehörte, und einen winzigen Augenblick entbrannte ein absurder Kampf um seine Oberlippe, die beide Seiten nicht herzugeben bereit waren.

Und wenn er sich dabei seine Lippe ausreißen würde, er musste sich von dem gierigen Peitschententakel befreien, das bereits wieder wild um seine Nase schlängelte und nichts unversucht lassen würde, um von ihm Besitz zu ergreifen. Es war in ihm kein Platz mehr für Schmerzempfinden oder Zaudern, er war nur noch personifizierter Wille und die Kraft, die diesen Willen in die Tat umsetzen würde, jetzt, hier und ohne Zögern.

Mit einem gellenden Schrei schleuderte er den Tentakel von sich. Schwarze, schleimige Flüssigkeit vermischte sich mit seinem eigenen Blut, das in einer spitzen Fontäne dem Peitschenarm nachjagte. Er stöhnte laut auf und krümmte sich zusammen, als seine überdehnte Lippe wieder zurückschnellte und für einen Augenblick schoss ihm der vollkommen nebensächliche und verrückte Gedanke durch den Kopf, dass er nun in nächster Zeit wohl kaum noch ein Mädchen würde küssen können ...

ESANNA.

Der Gedanke an sie riss den Schleier auseinander, der sich wieder auf sein Bewusstsein gesenkt hatte. Aus trüben Augen erkannte er, dass das passiert war, was er befürchtet hatte: Das Mädchen war unter den Angriffen zusammengebrochen und lag nur ein paar Schritte entfernt von ihm. Mühsam schleppte er sich zu ihr hinüber, vorbei an einem bereits angeschlagenen Nahrak, der mit der Abwehr begehrlicher, hektisch zuckender Peitschenarme beschäftigt war.

Esanna hatte nicht so viel Glück wie der Nahrak gehabt. Er kniete neben ihr in der übel riechenden, sich ringelnden, matschigen Masse, die mit tausend Fingern nach ihm zu greifen schien. Er achtete nicht darauf, bemerkte sie kaum. Das, was dem Mädchen zugestoßen war, schockierte ihn zu sehr.

Zuerst hatte er geglaubt, dass Esanna unter dem Angriff Dutzender von Khtaám in die Knie gegangen wäre. Doch das stimmte nicht: Die Nachtmahre hatten sich erschreckend verändert. Es waren keine einzelnen Lebewesen mehr, sondern ein Kollektiv, ähnlich der übel riechenden Masse, in der er gelegen hatte, als er aus seiner Ohnmacht erwacht war. Aber anders als er war Esanna über und über mit der schwarzen, schlierigen Schicht bedeckt, eingehüllt wie in ein grausiges lebendiges Leichentuch, das sich immer enger um sie schlang. In dem ganzen Krabbeln, Zappeln und Schlängeln glaubte Skar für einen Moment so etwas wie eine einzige zielgerichtete Intelligenz zu erkennen, etwas Gewaltiges, Großes und so Unverständliches, dass ihn allein der Zipfel des Begreifens wie unter einer schweren Last aufstöhnen ließ.

Es war schockierend.

Er hatte keine Ahnung, wie er Esanna retten könnte. Ihre schwarzen Haare vermischten sich mit der noch weitaus dunkleren, zuckenden Masse, ansonsten erkannte er kaum mehr als ein Aufblinken nackter Haut an den Hand- und Fußgelenken und an einer einzigen noch freien Stelle im Genick. Der Körper des Mädchens bewegte sich im gleichen Rhythmus wie ihr lebendiges Gefängnis. Vielleicht war sie schon tot.

Oder Schlimmeres.

Skar starrte wie hypnotisiert auf die formlose Masse, aus der sich Tentakel wanden und drehten. Ein schmatzendes, glucksendes Geräusch kam aus dem Schleim und einen verrückten Augenblick lang hatte er das Gefühl, als ob ihn die zischende Erscheinung anschaute, mit bösartigen, feindseligen Augen. Obwohl er nichts genau erkennen konnte, war er sich sicher, dass da ... Mäuler waren, formlos, klaffend, hungrig ... als ob sich dieses Etwas Esanna gerade einverleiben würde. Es war ein Augenblick der Ewigkeit, angesichts des unabänderlich erscheinenden Grauens. Die Höhlenwände schienen sich wie eine erstickende, lebendige Mauer um ihn herum zuzuziehen und ihm die Luft zum Atmen zu nehmen.

Erst als er glaubte irgendwo unter seinen Füßen ein mächtiges Knirschen und Rumoren zu hören, erwachte er aus seiner Erstarrung. Er hätte zugreifen können, mit beiden Händen in die widerliche Masse greifen, an ihr reißen und zerren können, um Esanna aus der todbringenden Umklammerung zu befreien. Aber er tat es nicht. Was immer da mit ihr geschah - er war machtlos dagegen. Ein Rettungsversuch hätte vielleicht sogar das Gegenteil von dem bewirkt, was er damit hätte erreichen wollen.

Das Beben unter seinen Füßen verstärkte sich und gleichzeitig glitt etwas über den Stiefelschaft in seine Hose, etwas glitschig Saugendes. Skar schlug mit der geballten Faust auf die Stelle, an der sich gerade das fordernd tastende Teil des Tentakels befand. Der peitschenähnliche Fühler verharrte einen Moment, um dann nur noch schneller nach oben zu gleiten.

Skar sprang fluchend einen Schritt zurück - und wäre fast auf der glitschigen Masse ausgerutscht, die jetzt den ganzen Boden bedeckte. Mit beiden Händen und aller Kraft, getrieben von unbändiger Wut packte er zu, erwischte den Tentakel am Oberschenkel und quetschte ihn zusammen. Ein Zittern ging durch den Fühler und irgendetwas kreischte im Hintergrund des Höhlengewölbes auf.

Es ging sehr schnell und beinahe lautlos, aber Skar sah es mit geradezu phantastischer Klarheit. Gewaltige Stücke lösten sich aus den Höhlenwänden vor ihm, dann neigte sich ein dunkler Felsenvorsprung zur Seite und stürzte krachend zu Boden. Die Detonation war so gewaltig, dass sich eine Wolke von feinem Gestein und schwarz-glitschiger Khtaám-Substanz über ihn ergoss. Ohne es verhindern zu können, taumelte Skar ein paar weitere Schritte zurück. Seine Stiefel rutschten auf der ekelhaft zuckenden Masse weiter, als würde er sich auf einem zugefrorenen See befinden.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er den Eindruck, ein unerträglich helles, blendendes Licht zu sehen, das aus den Wänden brach und dicht hinter ihm in den Boden schlug. Er blinzelte verblüfft und gleichzeitig immer noch entsetzt, dass er den ihn attackierenden Tentakel immer noch nicht vollends hatte abschütteln können, der sich mit unverminderter Wut in seinem Hosenbein zu schaffen machte. Wieder und wieder griffen seine Hände zu, während er gleichzeitig in komisch anmutenden Sprüngen durch die Höhle jagte, vorbei an zwei Nahrak, die ihrerseits damit beschäftigt waren, sich der unaufhaltsamen dunklen Flut zu erwehren.

Der Boden unter ihm erbebte wie von einem gigantischen Faustschlag getroffen. Ein ungeheuerliches Donnern erscholl, als ob die ganze Höhle in sich zusammensacken würde. Was er kurz vor dem Angriff der Khtaám nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen zu haben glaubte, dass die gleitenden Schatten der Nachtmahre direkt aus den Wänden hervorquellen würden, wurde nun zu grausiger Wirklichkeit. Die Gesteinsschicht wurde porös, durchlässig für das, was wohl die ganze Zeit über schon in ihr eingeschlossen gewesen war und sich nun mit Macht nach draußen bohrte. Gestein und Felsteile splitterten weg, als sich die grausige Brut ihren Weg in die Freiheit sprengte.

Sekundenlang starrte Skar wie gelähmt auf das unglaubliche Bild, das sich ihm bot, ungeachtet des Krabbelns an seinem Bein. Es waren tausende, abertausende Wesen, die hervorquollen, übereinander wegrutschten und -sprangen, und instinktiv wusste er, um was es sich handelte: um Khtaám-Larven, haarige, hell quietschende Ungeheuer, auf den ersten Blick Spinnen nicht unähnlich und doch ganz anders, mit viel zu vielen Beinen und schwarz schimmernden Gehäusen, auf denen sich grauer, schmieriger und fast flockig wirkender Flaum abzeichnete.

In diesem Moment hatte der Fangarm Skars Leiste erreicht. Fluchend erwachte er aus seiner Erstarrung. Blitzschnell öffnete er den Gürtel seiner schwarzen Satai-Hose und ließ das Beinkleid hinabgleiten. Noch nie zuvor hatte er sich so schnell entkleidet wie jetzt, und doch war es fast zu langsam. Der Tentakel schnellte in eine besonders empfindliche Region vor. Bevor er sich festbeißen konnte, packte ihn Skar am oberen Ende. Diesmal gelang es ihm, das ganze Ding zu umklammern und mit einem gewaltsamen Ruck von seinem Bein zu reißen.

Keinen Augenblick zu früh. Immer noch mit runtergelassener Hose flüchtete er vor der heranrasenden Woge der Khtaám-Larven, die wie eine Flutwelle in die Höhle hineinbrach, Gestein, Splitter und Dreck vor sich herschiebend. Aber es gab keinen Ausweg, keine Fluchtmöglichkeit; er, die Nahrak und Esanna waren gefangen in dieser Höhle, die zu grässlicher, eigenständiger Lebendigkeit erwachte. Zurückstolpernd tat er doch nichts anderes als ein aufgescheuchtes Beskne-Ferkel, das durch das Blätterdach in eine Fallgrube der Sumpfmenschen geraten war und nun voller Panik nach einem Ausweg suchte, den es nicht gab.

War es bislang einzig und allein die Wand vor ihm gewesen, die dem Druck der Larven nachgegeben hatte, so warnte ihn jetzt ein dumpfes Grollen hinter ihm davor, dass sich die gleiche Katastrophe auch in seinem Rücken abzeichnete. Perfekter konnte eine Falle nicht sein: Sie verwandelte sich in etwas Lebendiges, mutierte zu tausenden kleinen Körpern inmitten des Felsgesteins, die so widernatürlich waren, dass sich in Skar bei ihrem Anblick selbst dann alles zusammengekrampft hätte, wenn zwischen ihm und den behaarten Ungeheuern ein stabiler Zaun gewesen wäre.

Aber ein Zaun, egal aus welchem Material, hätte die schwarzen, flockig-flaumigen Monstren wohl kaum aufhalten können. Skar wirbelte herum und noch in der Drehung sah er, wie auch diese Höhlenwand dem Druck hunderter drängender Wesen nachgab, für die das kalte Gestein wohl nichts anderes war als die Eierschale für ein Küken. In diesem Moment wäre er froh gewesen, wenn ihm Schalen um die Ohren geflogen wären. Doch stattdessen war es ein wahrer Regen an mehr oder minder scharfen Gesteinssplittern, die in einer gewaltigen Detonation auf ihn niedergingen. Seine Haut wurde von scharfkantigen Splittern aufgerissen, aber er merkte es nicht einmal.

Die Wand explodierte in einer Woge von schwarzen und glitzernden Gesteinsbrocken und etwas, das wie Fischschuppen aussah. Und dann, im nächsten Moment, schossen auch schon die Khtaám-Larven hervor. Hinter Skar stieß einer der überlebenden Nahrak einen wimmernden, halb erstickten Laut aus, der fast unterging in dem Gepolter und Geraschel und der doch merkwürdig deutlich an Skars Ohr drang. Die Nahrak, Esanna und er - sie waren verloren, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Sie würden lebendig begraben werden von den Larven, den schleimigen Tentakeln der ausgewachsenen Khtaám oder dem zusammenstürzenden Gestein.

Zumindest, wenn sie nicht mehr rechtzeitig den Ausgang der Höhle erreichten.

Ein verzweifelter Plan begann in ihm Gestalt anzunehmen. Mit ein, zwei Sätzen sprang er über die glitschig-klebrige Masse, aus der gierige Tentakel zu ihm emporzuckten und erreichte die Stelle, an der Esanna von dem schleimigen Gewimmel gerade beerdigt wurde. Seine Hände stießen dort in die Masse, wo er ihre Schultern vermutete, fanden Widerstand und rissen mit einem einzigen, gewaltigen Ruck ihren Oberkörper in die Höhe, ohne allerdings im ersten Anlauf ihre Füße befreien zu können. Er bekam sie in eine Schräglage, bevor aus dem Boden züngelnde Fangarme hochschnellten, um ihm die Beute wieder zu entreißen. Skars Muskeln spannten sich an, als er mit aller Kraft dagegenhielt. Zuerst sah es trotzdem so aus, als könnte ihm die wütend fauchende Masse das Mädchen wieder entreißen, doch dann gelang es ihm, Esanna stückweise etwas höher zu ziehen. Und dennoch ging es nicht schnell genug. Ein Zittern ging durch den Boden, als erneut ein Teil der Höhlenwand zusammenbrach, und Skar begriff, dass er verlieren würde. Seine einzige Chance bestand darin, Esanna ihrem Schicksal zu überlassen und so schnell wie möglich in Richtung Höhlenausgang zu fliehen.

Falls er überhaupt noch eine Chance haben würde.

Zum Glück wirkten die Khtaám-Larven noch benommen und ziellos, aber es wurden mit jeder Sekunde mehr und mittlerweile hatten sie bereits die Stelle erreicht, in die er sich in die schleimige Masse gestemmt hatte. Das Gewimmel in der Höhle wurde nun vollends unübersichtlich.

Behaarte Larven und der tentakelbewehrte Bodenschleim quirlten in- und übereinander, Schwaden pulverisierten Gesteins erschwerten sowohl die Sicht als auch das Atmen und immer wieder aufplatzende Wandteile schleuderten Gesteinswolken und weitere Larven in den Raum.

Ganz in seiner Nähe begann einer der Nahrak laut und gellend zu schreien. Aus den Augenwinkeln sah Skar, wie der heftig strampelnde und sich immer noch verzweifelt wehrende Mann von ein paar Peitschenarmen zu Boden gerungen wurde, während gleichzeitig eine Wolke flaumiger Larven seinen Kopf einnebelte. Auch Skar selbst geriet nun wieder in Gefahr ein Opfer der Tentakel zu werden, die wie bösartige Schlangen über seine nackten Beine glitten. Vielleicht, vielleicht hatte er noch eine Chance, wenn er das Mädchen, ohne zu zögern, losließ und lossprintete. Er glaubte es nicht. Aber es änderte auch nichts. Ohne auf das widerwärtige Gekrabbel an seinen Beinen zu achten, ließ er seine ganze Energie in die Arme fließen, eine Fertigkeit, die man jungen Satai während ihrer Ausbildung als Geheimtechnik beibrachte, um in ausweglosen Situationen Zusatzkräfte zu entwickeln, mit denen sich überlegene Gegner überraschen ließen. Durch seine Arme ging ein Kribbeln und gleichzeitig schienen sie wärmer und schwerer zu werden. Währenddessen glitt alles andere aus seiner Wahrnehmung und er war nur noch Kraft und Energie.

Als er aufschrie, war sein Schrei gleichzeitig die Verbindung der in seine Arme geflossenen Zusatzenergie. Er legte so viel Kraft in diese eine Bewegung, dass Esanna drohte, regelrecht auseinander gerissen zu werden. Ihr Oberkörper schnellte ihm entgegen. Tentakel hingen plötzlich in der Luft, peitschten dem Mädchen nach, erbärmliche und viel zu träge Versuche sie noch zu erreichen, bevor Skar den ganzen Körper aus der Masse gerissen hatte und mit dem zuckenden Mädchen einen kraftvollen Schritt zurücksprang.

Das Geschmeiß schien nicht bereit zu sein, sein schon sicher geglaubtes Opfer kampflos aufzugeben. Ein Nebel von Khtaám-Larven hüllte ihn augenblicklich ein und aus der schwarzglänzenden, wimmelnden Schicht zuckten zungengleich Arme empor. Skar schrie vor Zorn und Entsetzen, als er begriff, dass weder er noch die Nahrak das Hauptziel der unheimlichen Attacke waren, sondern das tot wirkende Mädchen in seinen Armen.

Es war ein bizarrer, unwirklicher Kampf. Die - das? - Khtaám schienen nur noch ein Wesen zu sein, beseelt von dem Gedanken Esanna zu sich zu ziehen, in sich aufzunehmen, und alles andere, das Zusammenbrechen der Höhle, das Poltern und Aufschlagen von Gesteinsbrocken, das Heranwirbeln der Larven, die Angriffe auf die wenigen noch lebenden Nahrak oder auf Skar selbst, wurde seltsam unwichtig. Endlose Augenblicke hatte nur der Kampf um das Mädchen Bedeutung, den Skar mit dem Khtaám ausfocht, das in so vielfältiger Gestalt über ihn hereinbrach und dem er sich kaum erwehren konnte.

Er hätte nie eine Chance gehabt, wenn er nur auf sich selbst angewiesen gewesen wäre. Dutzende von Fangarmen zerrten an ihm und dem Mädchen. Seine verkrampften Muskeln wollten ihm den Gehorsam verweigern, aber er gestattete sich nicht den Schmerz an sich herankommen zu lassen. Und dennoch - ein einzelner Mensch gegen die Vielfältigkeit des Grauens, gegen die titanische Macht einer bösartigen und fremden Intelligenz: Das war absurd.

Es wurde etwas in ihm erweckt, etwas, das nichts mehr mit normalem Menschensein zu tun hatte, nicht minder fremdartig und vielleicht auch nicht minder bösartig als der Angreifer. Sein Körper wurde zum Gefäß für eine Kraft, die weit über alles Menschliche hinausging. Eine ungeheure Energiewelle durchflutete ihn.

Es war kein Kampf, es war ...

Unbeschreiblich. Die Zeit schien stehen zu bleiben.

Etwas Grauenhaftes ging mit ihm vor, etwas, das viel mehr war als der Kraftzuwachs, den er gewann, weil er, wieder einmal, über sich hinauswuchs. Er wurde zum Werkzeug von irgendetwas Anderem, Unbeschreiblichem ...

Aber es war zu spät. Sein Körper war dem Kraftzuwachs nicht gewachsen. Seine Finger hatten sich so fest in Esannas Schultern gekrallt, dass er sie nicht mehr bewegen konnte. Sein ganzer Körper fühlte sich wie abgestorben an. Es tat entsetzlich weh, aber es war nichts, was ihn beunruhigte. Er war es gewohnt, Schmerz an den Rand seines Bewusstseins zu drängen. Was ihn schockierte, war vollständig die Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Halb nackt, wie er inmitten der zusammenstürzenden Höhle stand, vollkommen verspannt und verkrampft, war er das Zentrum von etwas, das aus der Unendlichkeit in ihn einströmte.

Der schwarze Peitschenarm, der Skars Handgelenk umklammert hielt, löste sich plötzlich. Die Tentakel, die sich gerade noch um seine Arme und Beine gewunden hatten und zu seinem Hals, zu seinem Gesicht hinauffingerten, glitten von ihm ab, als würden sie keinen Halt mehr finden, rutschten ab, schlugen klatschend in den sich windenden Pfuhl zu seinen Füßen. Ein helles Singen setzte ein, ein Geräusch, das Gläser zum Zerspringen gebracht hätte und das Donnern, Zischen, Krachen mit einer erschreckenden Leichtigkeit übertönte, sich in seine Gehörgänge bohrte und ihn fast wahnsinnig vor Schmerz machte.

Der Schmerz raste wie ein Blitzschlag durch seinen Körper. Er schrie auf und fiel auf die Knie, mit grotesk hochgereckten Armen, die immer noch Esanna stützten, ohne sie auch nur einen Zoll sinken zu lassen. Der Schmerz war so schlimm, dass er ihm die Tränen in die Augen trieb und in ihm kein Platz mehr war außer für Entsetzen. Er wusste, dass er sterben würde, dass nichts und niemand diese Energie länger als nur ein paar Sekunden aushalten konnte, die ihn in diesem Moment durchflutete.

Aber es kam anders; völlig anders.

Die schwarze, glitschige Masse wich vor ihm zurück, als wäre er zur personifizierten Khtaám-Waffe geworden. Funken sprühten in seiner direkten Umgebung auf, etwas kokelte und blauweiße Blitze huschten über den Boden, fuhren in den dunklen Angreifer und verbrannten zischend, was sich nicht schnell genug zurückgezogen hatte. Aus einer anderen Lage heraus hätte Skar jetzt vielleicht Erleichterung verspürt. Aber etwas in ihm ahnte die schreckliche Wahrheit, bevor sie sich in der Wirklichkeit manifestierte. Es gleißender Blitz schlug vor ihm in den Boden ein.

Dann ging alles so schnell, dass er nicht mehr die geringste Gegenmaßnahme ergreifen konnte. Die Höhle brach in sich zusammen. Es war nur die logische Konsequenz, nachdem Teile der Wände zerbröselt waren, tragendes Gestein zerborsten und Nischen in sich zusammengestürzt waren. Jetzt geriet auch die Decke in Gefahr, platzten Gesteinsbrocken weg, glitten, sprangen, krabbelten die kleinen Khtaám-Larven aufgeregt übereinander, als wollten sie der unausweichlichen Katastrophe in letzter Sekunde entkommen.

Der Boden unter ihnen schwankte, als wäre er nicht aus massivem Gestein, sondern aus dünnem Weidengeflecht. Es erschien ihm wie eine reine Verhöhnung des Schicksals, dass er nun mit der reglosen Esanna in den Armen inmitten der Höhle wie ein Sieger dastand, der diesen ungleichen Kampf gegen den personifizierten Schrecken vorerst zu seinen Gunsten entschieden hatte - nur um jetzt lebendig begraben zu werden.

Ein Donnerschlag erschütterte die Höhle und dann war der Alptraum auch schon über ihm. Ein Großteil der Höhlendecke hinter ihm ging krachend zu Boden. Der Aufprall erschütterte den Boden, als wollte er ihn gleich mit in die Tiefe reißen, als wäre die Höhle weit weniger massiv, als er bislang geglaubt hatte. Skar sah die begleitende Gerölllawine nur aus den Augenwinkeln, aber er wusste auch so, dass jetzt das Ende kam. Ein wütender Hagel aus kleineren und größeren Felssplittern ging auf ihm nieder; etwas Hartes traf seinen Hinterkopf und ließ ihn taumeln.

Aus dem Splitterregen schoss wie aus dem Nichts eine Gestalt auf ihn zu und er erkannte Kama, den Anführer der Nahrak, der furchtbar zugerichtet war, aber immerhin noch lebte. »Lauf!«, schrie der kleine Mann gegen den Höllenlärm an. »Wir müssen weg hier!«

Die Warnung kommt ein bisschen spät, hätte ihm Skar am liebsten entgegengeschrien. Doch stattdessen stolperte er verblüfft in die Richtung, in die ihn der Nahrak stieß, hinein in ein Spinnennetz von Blitzen inmitten einer flackernden Masse und ohne Esanna loszulassen, die er noch immer fest umklammert hielt. Dicht vor ihm rauschte ein großer Gesteinsbrocken in die Tiefe und er wich mit einer schnellen Bewegung aus. Kama hätte ihn jetzt gar nicht mehr antreiben müssen; er folgte dem Nahrak auch so, als würde ihm eine Stimme in seinem Inneren zuflüstern, dass er nur so noch eine verschwindend geringe Chance hatte hier lebend herauszukommen.

Erneut ging ein Teil der Decke zu Bruch; mehrere große Felsplatten schmetterten auf die Stelle nieder, an der er gerade noch gestanden hatte. Etwas schrie auf - ein animalischer Schrei, kein menschlicher, und er war so laut, dass er das Chaos übertönte und all das in Skar mit sich fortriss, was noch an bewusstem Verstehen vorhanden war. Irgendwo zwischen den Trümmern des verbliebenen Restes blitzte es erneut auf. Ein durchdringender Knall hallte in der Höhle wider, ein Laut wie von einer alles vernichtenden Explosion. Kama sprang vor ihm in das Gewimmel der Khtaám-Larven, dort, wo Minuten vorher noch eine massiv wirkende Wand gestanden hatte, die in Wirklichkeit nichts anderes gewesen war als eine makabre Brutstätte der Larven. Skars Hoffnung, dort einen Fluchtweg zu finden, zerbarst von einem Moment auf den anderen. Etwas Ekelhaftes, nur schemenhaft Erkennbares hatte ihren Platz eingenommen, etwas, das auf den ersten Blick wie ein Schlangennest aussah ...

»Schnell!«, schrie Kama und stürzte auf die Stelle zu, von der aus ein alptraumhaftes Gewirr in die Höhle hineinfingerte.

Als hätten sie nur auf ihn gewartet, stürzten sich die Larven auf ihn. Er schrie auf und wirbelte mit den Händen hin und her, um die Angreifer abzuwehren. Doch immer mehr der dunklen Schatten rasten auf ihn zu, zielgerichtet und ohne zu zögern, als müssten sie sein Vorhaben auf alle Fälle unterbinden.

»Weeiiiiter!«, schrie Kama erstickt, während er taumelnd zu Boden ging, und Skar verstand sofort den Sinn seiner Worte; aus irgendeinem Grund wollte ihn der Nahrak dazu bewegen, in dieses Schlangennest hineinzuspringen, das sich vor ihnen auftat.

Kamas Schrei brach jäh ab. Die graue Wand aus Khtaám Larven hüllte seinen Kopf und seine Schultern nun vollständig in einer Umarmung ein, die ihn wie eine lebendige Wolke zu ersticken suchte - und offensichtlich gelang ihr das auf Anhieb.

Die Zeit war abgelaufen. Auch auf Skar und Esanna raste jetzt eine Gruppe schwarzer Larven zu und er ahnte, dass es nur noch Sekunden dauern konnte, bis es ihnen so wie dem Nahrak erging. Ob das allerdings einen Unterschied machte, wusste er nicht; die Höhle brach vollends in sich zusammen und würde sie so oder so unter Geröllmassen begraben.

Instinktiv stieß er sich ab und schnellte vor, weg von den Larven und über die Reste der Wand hinaus in ein Gewirr von schlangenartigen Fangarmen, dem Ausgangspunkt der Brut und dem Endpunkt seines Kampfes gegen sie. Er kam inmitten grauen Nebels an; etwas seltsam Amorphes schlängelte sich darin, ein substanzloser Wirrwarr von Lichtbahnen und abschreckender Dunkelheit, und dann war er auch schon eingetaucht in das lauwarme, feuchte Etwas. Er rutschte aus, musste um sein Gleichgewicht kämpfen und hätte um ein Haar Esanna fallen lassen in dem Versuch sich rechtzeitig wieder zu fangen.

Der Boden begann wie eine geköpfte Schlange zu zucken, dann durchlief ihn ein abgrundtiefes Zittern - und er erkannte seinen Irrtum. Das, was er für massives Felsgestein gehalten hatte, war in Wirklichkeit nur eine dünne Steinschicht gewesen, die sich über irgendetwas anderem gewölbt hatte, vielleicht einer weiteren Höhle oder einem Abgrund ...

Der Boden unter ihm brach genau in dem Moment zusammen, als das Höhlendach endlich einstürzte. Die Welt ging unter in einer Orgie aus Krach, Donner, Explosionen und so schweren Erschütterungen, als würde es den ganzen Berg zerreißen, und Skar verlor das Bewusstsein, bevor er mit Esanna im Arm in die Tiefe sauste.

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