Zu der Stunde, in der die Nacht am dunkelsten und der neue Tag am weitesten von seinem Morgen entfernt war, spie der See den Mann aus. Inmitten einer Hölle aus tobender Gischt, Bewegung, Lärm durchbrach er die Wasseroberfläche und nahm einen ersten, tiefen Atemzug. Er war pure Qual, brennende Kälte, die das kaum erwachte und dennoch bereits wieder im Verlöschen begriffene Leben noch einmal in seinen Körper zurückzwang, sich aber auch zugleich wie berstende Glassplitter in seine Kehle grub, sodass er vor Pein aufgeschrien hätte, hätte er es nur gekonnt. Er wusste nicht, wer er war - Mann, Frau, Kind, Mensch oder Etwas. Er hatte kein Ich-Gefühl noch die Möglichkeit einen Entschluss zu fassen oder ihn gar in die Tat umzusetzen. Nicht einmal den einfach und sich in die kalte Umarmung jener allumfassenden Dunkelheit zurückfallen zu lassen, aus der er gekommen war. Es wäre die einfachste und vielleicht barmherzigste Lösung gewesen.
Er konnte es nicht.
Jemand - etwas? - zwang ihn sich zu wehren, den Kampf gegen diesen fürchterlichen Feind aufzunehmen, der allgegenwärtig und übermächtig zugleich war: das Wasser. Es warf ihn hin und her, hüllte ihn ein, zog ihn immer wieder unter seine Oberfläche und spie ihn aus, als stünde eine bewusste, perfide Macht hinter diesem makaberen Spiel, ihn stets im Bruchteil eines Augenblickes, bevor er das Bewusstsein verlieren oder aus purer Atemnot die Lippen öffnen und so den Tod willkommen heißen konnte, wieder ins Leben zurückzureißen. Die unbarmherzige Kälte zog die Wärme rascher aus seinen Gliedern, als sein Körper sie produzieren konnte. Der Sog zerrte ihn immer wieder ein kleines Stückchen weiter vom Ufer fort, als wollte er seine müden Schwimmbewegungen verhöhnen.
Unter dem schwarzen Nachthimmel konnte er dieses Ufer nicht genau erkennen. Die Sterne, die wie winzige Augen teilnahmslos zuschauender, grausamer Götter auf seinen Lebenskampf herabblickten, spendeten kaum Licht. Aber manchmal sah er es vor dem Ufer hell und dunstig aufschimmern: Gischt, die an etwas Hartem, Reißendem zerschellte, das das Ufer wie eine tödliche Barriere steinerner Messerklingen säumte.
Zeit verging.
Sie war bedeutungslos wie alles und er hatte darüber hinaus auch keine Möglichkeit ihr Verstreichen irgendwie zu registrieren, denn er war noch immer kaum mehr als reiner Intellekt, ohne Willen, ohne eigenen Antrieb oder gar Verständnis für das Universum, das ihn umgab und das nur aus brüllendem Sturm, tobendem Wasser, Dunkelheit, Kälte und einem unbekannten, dunkel-gestaltlosen Dahinter bestand. Doch auch, wenn er sich seines Körpers nur in soweit bewusst war, dass er ihn als Quell immer neuer, unerträglicher Pein und immer grausamerer Kälte registrierte, so klammerte sich dieser Körper doch an das unerwünschte Leben und er kämpfte weiter, mit einer Verbissenheit, die sein Bewusstsein in Erstaunen versetzt hätte, wäre er nur in der Lage gewesen sie zu registrieren.
Körper und Geist schienen längst keine Einheit mehr zu sein. Sein Körper kämpfte weiter und rang gegen jede Logik, gegen jede Erwartung, den verstreichenden Minuten immer mehr und mehr Kraft ab, sodass seine Schwimmbewegungen nicht etwa schwächer, sondern ganz im Gegenteil allmählich wieder kraftvoller wurden, und auch an Zielstrebigkeit und Koordination zunahmen. Sein gerade erst erwachtes Bewusstsein hatte aber längst aufgegeben gegen die Macht der Wellen anzukämpfen. Obwohl er das Leben noch nicht einmal richtig kennen gelernt hatte, sehnte er sich nach dem Tod zurück. Der letzte und vielleicht einzige Sieg, den er erringen konnte: den Willen zu haben, einfach aufzugeben und das Unausweichliche nicht noch länger hinauszuzögern, für den einzigen Lohn von noch mehr Schmerz und noch mehr Furcht. Die Naturgewalten, gegen die er kämpfte, waren nichts, worüber ein Mensch triumphieren konnte. Er war nicht mehr als ein Staubkorn in der Wüste, ein Wassertropfen in den unendlichen Weiten des Ozeans. Bedeutungslos. Dass er im willkürlichen Toben der Elemente vergehen würde, zufällig und ohne dass jemand seinen Tod zur Kenntnis nehmen, geschweige denn gewollt haben würde, war nur ein weiterer Beweis für seine Bedeutungslosigkeit.
Er dachte diesen Gedanken ohne Bitterkeit. Die Schöpfung war zu groß und die Unendlichkeit zu lang, als dass irgendein sterbliches Wesen, gleich ob Mensch oder Gott, darin wirklich eine Rolle spielen konnte. Ob er in der nächsten Sekunde in der kalten Unendlichkeit des Wassers starb oder das Ufer erreichte und vielleicht zu einem Gott oder dem Vernichter von Welten wurde, würde nichts im großen Gefüge des Kosmos ändern. Es spielte keine Rolle, was oder wer er war. Ob er existierte oder nicht. Und er wollte lieber kein als ein bedeutungsloses Leben führen.
Und doch: Etwas zwang ihn weiterzuleben.
Das Ufer war jetzt fast zum Greifen nahe, aber mit ihm auch die Gischt und die schwarzen Felsen, an denen sie zerstob. Eine vielfach gestaffelte Kette von Reißzähnen, so alt wie diese Welt und so tödlich wie Schwertklingen, säumte den Uferstreifen, den er manchmal, wenn sein Körper aus einem Wellenteil emporgeschleudert wurde, im Sternenlicht aufblitzen sah. Und selbst, wenn er wie durch ein Wunder den Klippen entging, so mochte ihn die Brandung gegen das steinige Ufer schleudern, das dahinter emporwuchs, schwarz, zerschunden und hier und da mit dem niedrig hängenden Himmel verschmelzend.
Wie gnädig war dagegen die Finsternis gewesen, aus der er kam und in die er sich so sehr zurücksehnte. Es wäre so einfach, sich fallen zu lassen. Armen und Beinen einfach zu befehlen mit den sinnlosen Bewegungen aufzuhören, in die kalte Dunkelheit hinabzutauchen und einen letzten, erlösenden Atemzug zu nehmen.
Nein!
Er kannte die Bedeutung dieses Wortes nicht wirklich. Worte waren wie Menschen, vielleicht langlebiger, aber bedeutungslos. Trotzdem zwang es ihn weiterzumachen, vergrößerte die Kluft zwischen Körper und Geist noch mehr und machte aus bisher fast teilnahmslos nebeneinander existierenden Brüdern Feinde. Sein Körper bäumte sich auf, kämpfte mit verzweifelter Kraft gegen die Elemente und arbeitete sich mit schnellen, beinahe schon eleganten Schwimmbewegungen näher ans Ufer heran. Geschickt wie ein Fisch und mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst überraschte, glitt er zwischen den Felsen hindurch, erspähte eine Lücke hier, einen Durchlass da, den Weg eines Wellenkamms über tödliche Felsen dort und kam dem eigentlichen Ufer immer näher. Das Donnern der Brecher, die gegen ihn und das felsige Ufer dahinter anrannten, schien das einzige Geräusch der Welt zu sein; vielleicht alles, was sie zusammenhielt.
Schließlich aber versagten seine geliehenen Kräfte. Eine Welle schleuderte ihn gegen einen Fels, der unter dem schwarzen Wasser verborgen auf ihn gelauert hatte. Er hörte, wie sein Schrei zu einem keuchenden Seufzer wurde, mit dem das letzte bisschen Atemluft seinen Lungen entwich und fühlte sich herum und gleichzeitig in die Tiefe gewirbelt, gegen Sand und Felsen geschmettert und am Ende fast achtlos auf das Ufer hinaufgeworfen; ein Spielzeug, das seinen Reiz verloren hatte. Rings um ihn herum zerstob die Gischt zu Myriaden winziger Wassertropfen, die im schwachen Licht der Sterne wie Diamantstaub glitzerten. Der Boden vibrierte unter der Wucht der heranrollenden Brecher und immer wieder schlug das Wasser mit schäumenden Wellen über ihm zusammen, ließ ihn keuchen, würgen und mit kleinen, qualvollen Zügen nach Luft ringen.
Doch er war gerettet.
Die gleiche Felsbarriere, die ihn um ein Haar zerschmettert hätte, schützte ihn nun vor der ärgsten Wucht der Brandung; aus der tödlichen Gefahr war plötzlich ein Freund geworden, ein Wall, der dem tobenden Ungeheuer auf der anderen Seite, das wütend nach seiner Seele schrie, Einhalt gebot.
Er blieb lange so liegen, möglicherweise Stunden, sicher aber viele, viele Minuten. Dieser Unterschied immerhin war ihm bewusst. Er hatte das Verstreichen der Zeit zu registrieren gelernt, ohne es überhaupt zu bemerken, so, wie er plötzlich um viele Dinge wusste, die es vor Momenten für ihn noch gar nicht gegeben hatte: Tag und Nacht, Leben und Tod, die Welt und die Götter, die beide auf ihre Art anders waren, als die Menschen sie sich vorstellten. Er selbst. Er wusste noch immer nicht, wer er war, aber er wusste, dass er war. Und dass er aus einem ganz bestimmten Grund hier war. Denn ebenso zweifelsfrei, wie er sich seiner Bedeutungslosigkeit bewusst war, wusste er zugleich auch, dass es nichts wirklich Sinnloses gab und alles einem bestimmten Zweck diente. Das eine schloss das andere nicht aus, bedingte es sogar. Jemand - etwas - hatte ihn hierher geschickt, um etwas zu tun. Er wusste nicht was, aber das brauchte er auch nicht. Vielleicht war die bloße Tatsache seines Hierseins schon genug.
Seit er aufgehört hatte gegen das Meer zu kämpfen, begann er sich besser zu fühlen, zugleich aber auch wie ein Fremder in seinem eigenen Körper, der alles, was er tat und dachte, mit einem gewissen Abstand verfolgte und hinter die Dinge sehen konnte, weil er gar nicht davon betroffen war. Sein Körper schmerzte immer noch an zahllosen Stellen. Er hatte sich unzählige Prellungen und Schürfwunden zugezogen, mit Sicherheit Verstauchungen, möglicherweise sogar Brüche. Aber zugleich fühlte er auch, dass er nicht ernsthaft verletzt war. Der Körper, der dem neu geschaffenen Leben dreißig oder vierzig Jahre vor der Zeit geschenkt worden war, war sehr kräftig, der Körper eines gesunden, sehr starken Mannes; vielleicht eines Kriegers. So unerträglich der Schmerz ihm erschien, so war er doch nichts Fremdes, sondern ein Vertrauter, fast schon so etwas wie ein Freund, der ihn an Dinge zu erinnern versuchte, die er niemals erlebt hatte.
Wer war er?
Warum war er hier?
Du wirst es erfahren. Bald.
Er hörte die Stimme nicht wirklich. Sie war nicht in seinem Kopf, sondern in ihm, als wäre jede Faser seines Körpers nichts als ein Teil dieser allgegenwärtigen, titanischen Stimme, die keine Zweifel zuließ und Fragen nach ihrem Wer und Warum vollkommen ausschloss.
Er versuchte sich auf dem Untergrund aus Stein und nassem Lehm in die Höhe zu stemmen. Am Anfang vergebens. Was sein Körper an Kraft besessen hatte, das hatte er in dem verzweifelten Kampf gegen die Wellen verbraucht, sodass er drei-, viermal ansetzen musste, bevor es ihm auch nur gelang, den Kopf zu heben und an sich herabzusehen. Er war nackt. Seine Haut war mit einem dünnen, rosafarbenen Film bedeckt, denn er blutete aus zahlreichen, wenn auch allesamt nicht sehr tiefen Wunden, und das Wasser, das ihn gerade erst freigegeben hatte, setzte nun zu einem neuen, heimtückischen Angriff an. Der Sturm nahm an Kraft zu und peitschte die Wellen hoch genug, um die Barriere vor dem Ufer zu überrollen. Nicht sehr schnell, aber unaufhaltsam. Schon bald würde auch dieser Teil des Ufers überflutet sein. Er war noch nicht in Sicherheit. Er musste weiter hinauf zwischen die Felsen.
Langsam und schwankend, mit zusammengebissenen Zähnen und mehr vor Anstrengung als vor Schmerz keuchend, setzte er sich auf und versuchte die Dunkelheit ringsum mit Blicken zu durchdringen. Vor ihm lagen die Klippen und der Sturm, hinter ihm die Felsen, die nicht einmal besonders hoch zu sein schienen, in der Dunkelheit und bei dem tobenden Sturm aber ebenso gut bis an den Himmel hätten reichen können: unübersteigbar. Zur Rechten erstreckte sich der schmale Uferstreifen, so weit er sehen konnte - was nicht besonders weit war -, doch zur Linken gab es eine Stelle, an der sich eine Bresche in dem Gewirr aus Felsen und Steintrümmern zu befinden schien. Was dahinter lag, wusste er nicht. Aber es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er musste dort hinauf - entweder freiwillig oder gezwungen von der Stimme, die über ihn wachte und die nicht gestatten würde, dass er starb.
Er lernte ein neues Gefühl kennen: Trotz.
Wenn er sich schon peinigen lassen musste, so aus freien Stücken und nicht gezwungen von einer Macht, die sich anmaßte, das größte und möglicherweise einzige Verbrechen zu begehen, das es wirklich gab: den freien Willen eines anderen Individuums zu ignorieren und ihm seinen eigenen aufzuzwingen.
Während das Wasser allmählich stieg, sodass die Wellen bereits seine Knie umspülten, stemmte er sich in die Höhe, wandte sich nach links und taumelte auf die Bresche in den Felsen zu, und während er es tat, wiederholte sich das fast unheimliche Geschehen von vorhin: Statt ihn zu ermüden, schien ihm jeder einzelne Schritt neue Kraft zu geben. Er war noch immer ein Neugeborener, fast ohne Wissen, aber sein Körper war der eines Mannes, und es war, als erinnere er sich mit jeder neuen Bewegung, die er lernte, folgerichtig an die nächste, die kommen musste.
Irgendwie gelang es ihm, den Spalt zu überwinden und einen zweiten, höher gelegenen und damit sicheren Uferstreifen zu erreichen. Trotzdem schleppte er sich noch ein gutes Stück weiter den Strand hinauf. Mit dem Wissen um sich selbst und das Wie und Warum der Welt war auch noch ein anderer, unwillkommener Begleiter aus der Vergangenheit zurückgekehrt: die Furcht.
Schließlich aber konnte er nicht mehr. Er fiel auf die Knie, ließ sich nach vorne und zur Seite sinken und schlief ein, noch bevor seine Wange den Boden berührte.