3.6

Der nächste Morgen brachte feinen Nieselregen mit sich und düstere, graue Wolken, die sich drohend über ihnen zusammenballten wie die Vorboten eines nahenden Unheils. Sie hatten einen halbwegs geschützten Platz ganz in der Nähe des Weges gefunden aber so weit entfernt, dass sie vor einer zufälligen Entdeckung sicher waren. Nach der ersten Wache und nachdem er Esanna geweckt hatte, die trotz der aufwühlenden Ereignisse tief und fest geschlafen hatte, eingehüllt in die wärmenden und feuchtigkeitsabweisenden Decken des Satais, hatte er ihren Platz eingenommen und es ihr überlassen, bis zum Morgengrauen auf jedes verdächtige Geräusch zu achten - eine fast überflüssige Maßnahme in dieser dunklen Nacht, die wohl kaum eine der Kampfparteien nutzen würde, um meuchelnd durch den Wald zu schleichen. Und dennoch: Skar hatte unruhig geschlafen und war immer wieder hochgeschreckt; es war so, als würden tausend verschiedene Stimmen auf ihn einreden, als wollten etliche von ihnen ihm einflüstern, wie wichtig seine Mission sei und dass, sollte er scheitern, ganz Enwor der Vernichtung anheim fallen würde. Aber es waren auch andere Stimmen dabei, ein tiefes Raunen, das ihm zusäuselte es sein zu lassen, sich nicht einzumischen in die Geschicke dieser Welt, die nicht mehr die seine war.

Außerdem war da ein beunruhigendes Gefühl des Verlusts in ihm, ein Bild, das in seinem Kopf wirbelte, ein Gefühl, das ihn mit der Erinnerung der letzten Nacht verband, als er und Esanna sich, gezwungen durch die Kälte und ihre tiefe Erschöpfung, stundenlang aneinander geklammert hatten.

»Es wird Zeit«, drang Esannas Stimme irgendwann zu ihm und riss ihn damit aus einer Benommenheit, die mit Schlaf wohl kaum etwas zu tun hatte. »Nach dem Lied der Vögel zu schließen müsste eigentlich bereits die Sonne aufgegangen sein - auch wenn sie nirgends zu sehen ist.«

Skar schlug die Decke zurück und blinzelte in das trübe Grau hinein, von dem sich Esannas helles Gesicht nur undeutlich abhob. »Dann wird es Zeit, dass wir aufbrechen«, sagte er, »es würde mich nicht wundern, wenn es hier bald nur so von Quorrl wimmeln würde.«

»Warum sollte es das?«, fragte Esanna erstaunt.

»Weil es auf der Hand liegt, nach dem, was wir gestern erfahren haben«, sagte Skar knapp und offensichtlich so schroff, dass Esanna keine weitere Frage mehr zu stellen wagte.

Als er sich erhob, um nach dem Pferd des toten Satais zu sehen und sich dabei zu überzeugen, dass es sich über Nacht tatsächlich für einen Tagesritt genug erholt hatte, zwang ihn ein vollkommen unerwartet auftauchendes Schwindelgefühl, sich an einem Baum festzuhalten und ein paar Augenblicke in fast gebückter Stellung zu verharren - wenigstens außerhalb der Sichtweite von Esanna und somit außer der Reichweite jeder spöttischen oder, schlimmer noch, besorgten Nachfrage. Mit klopfendem Herzen starrte er in die graue Unendlichkeit vor sich, in der die Bäume düsteren Riesen glichen, die sich fast unmerklich aber stetig um ihn zusammenzogen, und das Unterholz einer undurchdringlichen Wand, durch die es kein Entkommen gab. Mit zitternden Fingern schob er den Ärmel seines Gewands nach oben und starrte auf die blutunterlaufenen dunklen Stellen auf seinem Unterarm, die sich deutlich von den Kratzern und Prellungen unterschieden, die er sich in der Höhle zugezogen hatte. Er war sich sicher, dass diese Stellen gestern noch nicht da gewesen waren, aber er ahnte, was er entdecken würde, wenn er seinen übrigen Körper untersuchen würde: Sein ganzer Körper würde mit diesen dunklen Stellen übersät sein. Es war nicht das erste Mal, dass ihm das passierte; es war in Rouns Hütte gewesen, inmitten des Digger-Dorfs und damit kurz vor dem Angriff der Quorrl. Damals hatte er nur eine ungewohnte Müdigkeit und einen permanent schlechten Geschmack in seinem Mund gespürt. Diesmal war es schlimmer.

Was war bloß los mit ihm? Eine Krankheit schied mit größter Wahrscheinlichkeit aus; dann würde dieser verwirrte, schwache Zustand, der mit den Flecken einherging, sich nicht regelmäßig wiederholen. Das erste Mal war es in Rouns Hütte passiert, dann in der Nacht am Lagerfeuer, als er sich plötzlich außerhalb der Höhle wieder gefunden hatte, mit irgendetwas zwischen seinen Zähnen, was dort nicht hingehörte, und das dritte Mal - das war jetzt.

Er war in diesem Moment so hilflos wie noch nie zuvor und seine Beine fühlten sich abgestorben und taub vor Kälte an, unfähig ihn auch nur noch einen Schritt weit zu tragen, während gleichzeitig sein Puls raste und ihm kalter Schweiß den Rücken herabrann. Als er weitergehen wollte, gelang es ihm nicht sofort; er sank mit einem Schmerzenslaut noch ein Stück weiter in sich zusammen und blieb einen weiteren Moment in gekrümmter Haltung stehen, bevor er wenigstens so viel Kraft gesammelt hatte, um sich mit zusammengebissenen Zähnen wieder in die Höhe stemmen zu können. Es war eine tiefe Verzweiflung in ihm, ein tiefes Nichtverstehen und tausend unbeantwortete Fragen und nur eine davon betraf die Ursache seiner Schwäche. Vielleicht, so flüsterte ihm eine zynische Stimme in seinem Inneren zu, war das die ganz normale Nebenwirkung, wenn man nach dreihundert Jahren wieder auferweckt wurde, vielleicht hatte es aber auch etwas mit dem Khtaám zu tun und seinem Versuch von ihm und Esanna Besitz zu ergreifen.

Als die Schwäche nach kurzer Zeit abebbte und er sich wieder so weit aufraffen konnte, um die wenigen Schritte zum Braunen zu überwinden, ließ der Druck der in ihm bohrenden Unruhe nach, verschwamm sein Unbehagen das Geheimnis seiner Existenz nicht zu kennen, beinahe so, als gäbe es gar keinen Grund sich mit diesen Fragen zu quälen. Was blieb, war ein beinahe körperlich spürbares Unbehagen von solcher Intensität, dass ihm davon fast schlecht wurde. Der Braune begrüßte ihn mit einem freudigen Wiehern. Offensichtlich wusste er nur zu gut, wer ihn gestern Abend trockengerieben hatte und wer ihn von Dreck und Blut befreit und dann die Wunde in seiner Flanke versorgt hatte, die, den Göttern sei Dank, nicht allzu tief war. Skar streichelte seine Nüstern und griff dann nach dem bereits gestern zurechtgelegten Zaumzeug, um es dem Tier anzulegen. Wenn er erwartet hatte, dass ihm das leicht von der Hand ging, dann hatte er sich getäuscht. Seine Gliedmaßen erschienen ihm wie aufgepumpt und seine Bewegungen von geradezu quälender Langsamkeit, doch zumindest hatte das Gefühl der Benommenheit nachgelassen und vergleichsweise erträglichen Kopfschmerzen Platz gemacht.

Die merkwürdige Stimmung, die sich über den Wald gelegt hatte, passte dazu: Es war einer dieser Tage, an denen die Morgendämmerung nach vielen Stunden übergangslos in eine alles verschluckende Abenddämmerung überging, ohne dass es auch nur ein einziges Mal richtig hell geworden wäre. Das ganze Land war in eine unnatürliche Dunkelheit getaucht und selbst die Waffen des Satais, die Skar jetzt vor sich auf dem Boden ausbreitete, um sie einer genaueren Musterung zu unterziehen, sahen grau und düster aus, so als würden sie nicht - zumindest teilweise - aus geschliffenem Sternenstahl bestehen, sondern aus dem mattschwarzen Eisen, aus dem einige Stämme der Prärien Malabs ihre Waffen schmiedeten.

Als er das Tschekal des gestern seinen schweren Verletzungen erlegenden Satais genauer betrachtete, fand er seine Vermutung bestätigt: Auch diese Waffe bestand nicht aus reinem Sternenstahl, sondern war im Griffbereich reich verziert, wenngleich es kein so aufwändig ziseliertes Kunstwerk aus Silber und Gold war wie das der Waffe, die in seinem Gürtel steckte. Möglicherweise wies die Gestaltung des Griffs auf eine Rangordnung der Satai hin, wie es sie zu seiner Zeit noch nicht gegeben hatte. In jedem Fall empfand er sie als äußerst deplatziert, so als richtete sie sich gegen eine innere Ordnung, gegen die zu verstoßen nur Unheil heraufbeschwören konnte.

Als er die Waffe wieder zurücklegte und sich aufrichtete, verschwamm für ein, zwei Sekunden die Umgebung um ihn und ein buckliger, schwarzer Schatten schien in ihn einzusickern, vollkommen substanzlos und doch von beinahe fassbarer Konsistenz, und gleichzeitig erschien es ihm, als beginne ihn der Boden aufzusaugen. Es war ganz ähnlich und doch vollkommen anders als ein paar Minuten zuvor. Er starrte auf den Boden und um ihn war nichts als Schwärze, eine so tiefe, allumfassende Schwärze, wie er sie nie zuvor erblickt hatte. Etwas schien sich in der Dunkelheit zu bewegen, ein gewaltiger Strudel aus nichts, der sich schwarz auf noch dunklerem Hintergrund drehte, der lockte und rief...

... und er rutschte ab, verlor sich in dem Nichts, wurde von ihm aufgesogen und eins mit ihm und er machte irgendetwas, ohne zu verstehen, was er da tat, und die Welt hörte auf zu existieren und machte etwas anderem Platz, etwas, das ihm trotz aller Fremdartigkeit Heimat und Zufluchtsort zu sein schien ...

... und dann hörte es so plötzlich auf, wie es begonnen hatte, und stieß ihn wieder aus, zurück auf den feuchten Boden, auf dem er nun hockte wie ein kleines Kind, das sich im feuchten Erdreich gesuhlt hatte.

Zitternd und erschöpft richtete er sich wieder auf. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm geschehen war, und mit Verwunderung wie auch mit Ekel starrte er auf seine schmutzigen, erdverkrusteten Hände, die im Boden gewühlt zu haben schienen. Als sich sein Blick weiter klärte, erkannte er auch tatsächlich zwei Löcher in dem weichen Waldboden, tiefe, schwarze Schlünde, die mit der grauen Umgebung verschmolzen, ohne dass er erkennen konnte, wie weit sie hinabreichten.

Das Knacken von Zweigen, das säuselnde Geräusch, mit dem sich ein paar Blätter heftiger als normal bewegten, warnte ihn; er trat schnell und beinahe schuldbewusst auf die Löcher, sodass sie von seinen Füßen fast vollständig bedeckt wurden.

»Wie sieht's aus?«, fragte Esanna, während sie ein paar Zweige zur Seite schob, um auf die Lichtung zu treten - mit ihrem Messer in der Hand, als erwarte sie eine unangenehme Überraschung. »Wird uns der Gaul tragen?«

Skar verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und begann sie aneinander zu reiben, um den Dreck zu lösen. »Alles klar«, meinte er. »Aber ein Gaul ist das nun wirklich nicht. Es ist ein erstklassiges und ausdauerndes Reitpferd.«

»Wie schön«, sagte Esanna in einem Tonfall, der Ärger versprach. »Die Frage ist nur, wohin wir mit dem Vieh reiten werden.«

»Das fragst du noch?«, fragte Skar verwundert, ohne auf die Provokation in ihrer Stimme einzugehen. »Wir wollten sowieso zu Marna. Jetzt ist es noch dringender geworden: Wir werden den Auftrag des toten Satais erfüllen und Marna die Warnung überbringen. Diese Botschaft ist ein Geschenk des Himmels; sie wird uns alle Türen öffnen.«

»Aber...«

»Nichts aber. Begreifst du denn gar nicht?« Als Esanna den Kopf schüttelte, fuhr Skar fort: »Wenn sich die Quorrl tatsächlich sammeln, um die Satai überraschend zu schlagen, dann müssen wir sie unbedingt und so schnell wie möglich warnen.«

»Diese Worte klingen aus deinem Mund nicht sehr überzeugend«, meinte Esanna. »Bislang hast du doch alles getan, um deine Quorrl-Freunde zu schützen.«

»Quorrl-Freunde«, sagte Skar verächtlich, während er an Titch dachte, den Quorrl-Rebellen, dessen Gebeine schon seit dreihundert Jahren in irgendeiner abgelegenen Gegend vermoderten und der wohl der einzige Quorrl gewesen war, den er je als Freund betrachtet hatte. »Ich habe keine Freunde unter den Quorrl, ich habe überhaupt keine Freunde mehr auf dieser Welt.«

»Wenn das so ist, alter Mann: Warum rührst du dann überhaupt eine Hand für Enwor? Warum gehst du nicht einfach wieder und lässt uns unser Leben leben?«

Die Hieb saß und Skar hätte beim besten Willen keine vernünftige Antwort darauf gewusst, selbst dann nicht, wenn er nicht hektisch damit beschäftigt gewesen wäre, die verräterischen Schmutzspuren an seinen Händen so gut wie möglich zu beseitigen. Und dennoch: In ihm war dieses brennende Bedürfnis, das ihn gegen alle Zweifel, gegen alle Einwände dazu trieb, sich dem Vernichtungskampf zwischen Satai und Quorrl entgegenzustellen. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dieses wahnsinnige Blutbad zu verhindern.«

»Indem du den Satai Informationen lieferst, die es ihnen leichter machen, die Quorrl zu schlagen? Nein«, Esanna schüttelte entschieden den Kopf, »das klingt alles andere als überzeugend. Entweder bist du nicht mehr in der Lage zwei und zwei zusammenzuzählen oder du willst mir irgendein Märchen aufbinden.«

Skar schüttelte den Kopf. Esanna verfügte über eine scharfe Zunge und sie hatte eine Art zu argumentieren an sich, die ihn verteufelt an seinen alten Waffengefährten und ehemals besten Freund Del erinnerte. Aber: Del hatte ihn verraten. Wer sagte ihm, dass es nicht auch Esanna tun würde - oder vielleicht schon getan hatte? Welches Geheimnis umgab das Digger-Mädchen? Das musste er so schnell wie möglich herausbekommen. Auf keinen Fall würde er den Fehler begehen sich von den unschuldigen Augen, dem schmalen Gesicht und ihrer Jugend zu dem Schluss verleiten zu lassen, dass sie harmlos wäre.

»Denk, was du willst«, sagte er, brachte die nun fast sauberen Hände nach vorne und verschränkte sie vor der Brust, »ich werde mich jedenfalls nicht davon abhalten lassen, Marna zu warnen.«

Esanna schwieg einen Moment, presste die Lippen aufeinander und begann nervös mit dem Griff ihres Messers zu spielen, das sich in der Nacht, als es stundenlang im Feuer gelegen hatte, verfärbt und einen bläulich roten Ton angenommen hatte. Sie hatte sich zu Skars Verblüffung gestern Abend entschieden diese Waffe zu behalten und sie gegen nichts einzutauschen, was der Satai an Ausrüstung mit sich geschleppt hatte.

»Wenn du meinst«, antwortete Esanna skeptisch. »Aber sag mal, eine ganz andere Frage: Was hast du eigentlich mit deinen Händen gemacht? Eine Leiche ausgebuddelt?«

»Äh, hmmm«, machte Skar und starrte auf seine Finger, als sähe er sie zum ersten Mal. »Keine Ahnung. Ich hätte sie wohl gestern im Fluss waschen sollen ...«

»Wenn du mich fragst«, unterbrach ihn Esanna verächtlich, »bist du nichts weiter als ein verdammter Digger. Und zwar einer von der ganz üblen Sorte. Der Rest deiner Mahlzeit hängt dir ja noch aus den Mundwinkeln.«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, begann Skar unbehaglich. »Ich...«

Er brach ab und legte den Kopf schief.

»Jetzt hat's dir wohl die Sprache verschlagen, was?«, fragte Esanna spöttisch.

Skar schüttelte den Kopf und legte den Finger auf den Mund. »Still«, flüsterte er. »Da ist was.«

Es waren Stimmen, die da durch den Wald klangen und so plötzlich und ohne Vorwarnung an sein Ohr drangen, als wäre er zuvor mit Taubheit geschlagen gewesen.

Quorrl! Skar erkannte das fremdartig klingende, knarrende Idiom so zweifelsfrei und unvermittelt, dass ihn ein siedend heißer Schreck durchfuhr, eine Panik, die ihm bislang unbekannt gewesen war: nämlich die, sich nicht mehr auf seinen Instinkt verlassen zu können. Er begriff nicht, wie ihm das hatte passieren können, wie er die vielen kleinen Anzeichen hatte überhören können, mit denen sich das Näherkommen von Mensch und Tier - und vor allem von Quorrl - ankündigte.

Aber er hatte auch keine Zeit über dieses Phänomen nachzugrübeln. Die Quorrl brachen durch das Unterholz, als wollten sie den Wald im wahrsten Sinne des Wortes im Vorübergehen in Trümmer legen. Besonders viel Aufmerksamkeit schienen sie dabei ihrer Umgebung nicht zu zollen, denn sonst wären sie etwas umsichtiger vorgegangen - entweder jagten sie irgendjemandem hinterher, der ihnen unterlegen war (vielleicht dem schwer verletzten Satai, der Skar und Esanna in die Hände gelaufen war), oder sie glaubten hier auf keine potenziellen Gegner mehr stoßen zu können. Die Quorrl sammeln sich - vielleicht war hier in der Nähe ihr Aufmarschplatz.

Einen Sekundenbruchteil lang stand Skar einfach nur reglos da, jeder Muskel in seinem Körper bis zum Zerreißen gespannt. Seine Augen bohrten sich durchs Unterholz, um zu erkennen, ob noch die Chance bestand, dass die Quorrl an der Lichtung vorbeistolperten, auf der sie das Pferd des toten Satais, seine auf dem Boden ausgebreiteten Waffen und einen ihnen unbekannten Mann in der Uniform ihrer Todfeinde in Begleitung eines jungen Mädchens vorfinden würden. Es bedurfte keiner regen Phantasie, um zu wissen, was andernfalls geschehen würde: Er würde keine Chance bekommen auch nur den Mund zu einer Erklärung aufzumachen; die Reptilienkrieger würden ihn und Esanna sofort niedermachen.

Als Skar die geschuppten Giganten schemenhaft erkennen konnte - und die kleine, braungrün gekleidete Gestalt, die sie gefesselt vor sich her stießen -, hätte er beinahe laut aufgestöhnt. Dabei spürte er nicht einmal Schrecken, denn das Entsetzen, die Erkenntnis, dass ein fürchterliches Missverständnis von vornherein alle seine Bemühungen zunichte machen könnte, seinen Teil zur Rettung Enwors beizutragen, war zu groß, um andere Empfindungen zuzulassen. Denn es war Kama, der Nahrak, den die Quorrl mit der ihnen eigenen Brutalität vor sicher her trieben.

Den winzigen Moment, den er die geschuppten Giganten früher bemerkte als sie ihn, nutzte Skar auf eine ihm ganz eigene Weise. Er versetzte Esanna einen harten Stoß, der sie schwer zu Boden stürzen ließ und ihr damit die Möglichkeit nahm irgendeine Dummheit zu begehen, sprang über sie hinweg und zog in der gleichen Bewegung sein Tschekal. Er erkannte neben dem Gefangenen drei, vier vollkommen sorglose Quorrl, die von seinem Anblick vollständig überrascht wurden. Skar überwand die Distanz zu ihnen mit einem einzigen Satz und war so unvermittelt zwischen ihnen, dass der Erste gar nicht mehr dazu kam, sein Schwert zu ziehen, bevor ihn Skars Klinge erwischte und ihm mit einem einzigen Schlag seine Waffenhand abschlug.

Die anderen Quorrl reagierten mit der Schnelligkeit routinierter Krieger, die darauf gedrillt waren, jeden Angriff im Ansatz zu ersticken. Zwei Reptilienmänner näherten sich mit gezogenen Schwertern im Parallelschritt, ein Anblick der nicht zuletzt dazu gedacht war, einen Gegner in Panik zu versetzen, während der dritte, unverletzte, Kama mit einer fast beiläufigen Bewegung niederstieß und seitlich durchs Unterholz brach, um von der Rückseite aus anzugreifen. Skar gedachte ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er hechtete mit einer Rolle zur Seite, kam federnd wieder hoch und ließ sein Tschekal einen Halbkreis beschreiben, mit dem er die Deckung des ihm am nächsten stehenden Quorrl unterlief und ihn mit einem mörderischen Schlag fast das Bein abtrennte.

Der geschuppte Gigant taumelte mit einem Schmerzenslaut gegen einen Baum und starrte fassungslos auf die klaffende Wunde in seinem Oberschenkel, aus der augenblicklich eine Blutfontäne schoss. Trotzdem gab er sich noch nicht geschlagen. Er riss sein Zackenschwert im gleichen Sekundenbruchteil hoch, in dem Skar nach vorne sprang, um den anderen Reptilienkrieger zu attackieren. Die schwere Waffe streifte Skars Oberarm und hätte ihm den Kopf abgeschlagen, wenn der Satai nicht noch in der Sprungbewegung den Oberkörper zur Seite gerissen hätte. Skar kam dicht hinter ihm auf die Füße, tauchte unter dem Angriff des zweiten Kriegers hinweg, den das Schicksal seiner Kameraden zu noch mehr Wut angestachelt hatte, und stieß seine Klinge nach vorne, um den Koloss zu durchbohren.

Der Quorrl reagierte überraschend schnell, warf sich im letzten Moment zur Seite und nahm dabei in Kauf seinen Artgenossen mit der abgeschlagenen Hand so schwer anzurempeln, dass dieser zu Boden stürzte. In diesem Moment geschah etwas so Merkwürdiges, dass Skar einen Herzschlag lang weniger aufmerksam war, als es bei einem erbitterten Kampf um Leben und Tod ratsam war: Esanna taumelte mitten in das Kampfgeschehen hinein und die Quorrl taten so, als ob sie der Feind sei, den es unter allen Umständen zu vernichten galt und nicht er selbst.

Der Reptilienkrieger, der Skar hatte umgehen wollen, um ihn von hinten anzugreifen, hätte ihn im Moment der Unaufmerksamkeit mit seinem Schwert durchbohren oder doch zumindest ernsthaft verletzten können, doch er änderte im letzten Augenblick die Stoßrichtung seiner gezackten Waffe und griff direkt Esanna an. Das Mädchen schien die Gefahr instinktiv zu spüren, riss die Arme hoch und steppte in einer fast nicht sichtbaren Bewegung zur Seite. Mit einem Aufschrei stürzte der Angreifer an ihr vorbei, konnte seinen eigenen Schwung nicht mehr bremsen und lief so genau in Skars Tschekal. Aufgespießt wie ein Fisch, der mit einer Lanze aus einem Fluss gefischt wurde, rannte er noch ein paar Schritte weiter und brach dann wie vom Blitz gefällt zusammen; dabei rammte er sich das in seinem Brustkorb steckende Tschekal tief in seinen Körper. Skar versuchte aus den Augenwinkeln heraus die Situation zu erfassen. Kama lag regungslos am Boden, Esanna schien unverletzt zu sein und von den vier Quorrl waren zwei schwer verletzt und einer völlig ausgeschaltet; das bedeutete aber auch, dass einer noch voll kampffähig war - und das konnte das Ende bedeuten. Aber es war ausgerechnet der Quorrl mit dem Armstumpf, aus dem dunkelrotes Blut pulsierte, der Esanna auf eine für Quorrl gleichzeitig ungewöhnliche wie effektive Art angriff: Er hatte mit der linken Hand ein Messer hervorgezogen und warf es jetzt in Richtung des Mädchens. Wieder schien Esanna die Gefahr, in der sie schwebte, zu spüren; sie tauchte unter dem Messer geradezu spielerisch weg, riss in der gleichen Bewegung ihre eigene Klinge hervor und schleuderte sie dem Messerwerfer entgegen.

Der Quorrl hatte keine Chance: Esannas Messer traf ihn direkt unterhalb des Kehlkopfs, durchdrang seinen Hals und trat hinten wieder aus. Das Funkeln in seinen Augen erlosch augenblicklich und er fiel regelrecht in sich zusammen. Der unverletzte Quorrl sah sich nun zwei unbewaffneten Gegnern gegenüber: Esanna hatte mit ihrem Messerwurf ihre ganze Bewaffnung im wahrsten Sinne des Wortes verschleudert und auch Skars Hände waren leer, weil er, den Satai-Regeln zum Trotz, seine Waffe geopfert hatte, um einen der Angreifer auszuschalten. Zu Skars Verblüffung nutzte der geschuppte Gigant seinen Vorteil nicht auf die einzig logische Weise, indem er erst versuchte ihn, den gefährlicheren Satai, auszuschalten, um sich dann über das vergleichsweise harmlose Mädchen herzumachen, sondern er griff gleich und direkt Esanna an. Die Distanz zu ihr überwand er mit zwei wuchtigen Bewegungen, die den Waldboden erzittern ließen, und als er sein Schwert nach vorne stieß, auf das wie paralysiert wirkende Mädchen zu, schien ihr Schicksal besiegelt zu sein.

Es war eine unglaubliche Dummheit, die den Quorrl so handeln ließ, der bei Skars Kampfstil wissen musste, mit was für einer Art Gegner er es zu tun hatte, und der andererseits auch nicht so naiv sein konnte zu glauben, dass der wie ein Berserker unter sie gekommene Satai nur sein Schwert gehabt hätte, um sich auf den ungleichen Kampf einzulassen. Mit einem einzigen Sprung überwand Skar die Distanz zu seinem Gegner, während gleichzeitig das in seinem Gürtel steckende Messer wie von selbst in seine Hand schnellte.

Der Quorrl merkte nichts von alledem. Mit triumphierendem Gebrüll wollte er seine Waffe in den Körper des Mädchens rammen und sie so mit einer einzigen Bewegung töten; wahrscheinlich hatte er danach vor sich dem Satai zuzuwenden und Rache zu nehmen für den Vernichtungsfeldzug des einzelnen Mannes, der es gewagt hatte, es mit einer ganzen Quorrl-Gruppe aufzunehmen.

Er kam weder zum einen noch zum anderen. Skars Messer drang von hinten unter dem Ansatz der Halsschuppen, an der wohl empfindlichsten Stelle eines Quorrl, in den Hals des Giganten, fuhr tief hinein und riss eine grausame Wunde in das weiche Fleisch. Die Drehbewegung, mit der der brüllende Gigant in Skars Rücken zu kommen versuchte, unterstützte die Schnittbewegung noch und ließ ihm nicht die geringste Chance. Besinnungslos vor Wut und Schmerz schlug der Koloss mit seinem Schwert auf Skar ein. Der Satai riss mit einer letzten, entsetzlichen Bewegung sein Messer zurück und sprang gleichzeitig zur Seite. Er hatte wenig Mühe dem plumpen Schwertangriff des Reptilienkriegers auszuweichen und musste einzig und allein auf der Hut vor einem Zufallstreffer sein.

Der Blick des geschuppten Giganten trübte sich, er knickte in den Knien ein und fiel mit einer fast sanften Bewegung auf die Seite, wobei sein Schwert über den Boden schlitterte und gegen einen Baum prallte. Skar hatte keine Sekunde Zeit sich weiter um ihn oder um das Mädchen zu kümmern oder sich darum Gedanken zu machen, was eigentlich in sie gefahren war, dass sie hier wie eine Furie aufgetaucht war und damit sein und ihr Leben in Gefahr gebracht hatte. Sein Tschekal steckte noch im Körper des aufgespießten und mittlerweile mit einem schrillen Schmerzenslaut verendeten Quorrl. Es war Skar unmöglich, schnell genug an die unter dem massigen Körper begrabene Waffe zu kommen, um sich mit ihr noch rechtzeitig gegen den verbliebenen kampffähigen Quorrl zur Wehr zu setzen - den vor Schmerz keuchenden Krieger mit der klaffenden Beinwunde.

Das war aber bitter notwendig, denn trotz der Schwere seiner Verletzung war der Quorrl noch immer ein auf Tötung gedrillter Killer, der nicht eher ruhen würde, bis er Skar und Esanna abgeschlachtet hatte - oder selbst ausgeschaltet war. Im Moment standen seine Chancen gar nicht mal so schlecht; ohne sein Schwert war Skar dem tobenden und vor Wut schnaubenden Giganten im Nahkampf wohl kaum gewachsen. Deswegen sprang er ansatzlos vor, erwischte Esanna an der Schulter und riss sie mit sich aus der Greifweite des Reptilienmanns. Es war ein Wettlauf mit der Zeit, auf den er sich nur einlassen konnte, weil der Quorrl unmöglich zu einer schnellen Verfolgung fähig war: falls er es überhaupt noch schaffen sollte, sich ein paar Schritte vorwärts zu quälen.

Mit ein paar Sätzen war er zurück auf der kleinen Lichtung, auf der ihn der Braune nervös tänzelnd erwartete - doch nicht das Pferd war es, auf das Skar es abgesehen hatte, sondern die Waffen des toten Satais, die fein säuberlich neben ihm auf der Pferdedecke ausgebreitet lagen. Er riss die Schwertscheide empor; seine Finger schlossen sich fest um den Griff der Waffe und es war fast wie ein Überspringen von Energie, wie eine machtvolle unsichtbare Verbindung zwischen ihm und dem Sternenstahl, die ihn durchstrahlte und ihm neue Kraft gab.

Das fast unhörbare Sirren, mit der das Tschekal aus der Scheide glitt, besiegelte das Schicksal des letzten lebenden Quorrl. Der Reptilienkrieger war humpelnd, aber mit einer von grausamer Wut getriebenen Energie hinter ihm her gerast, unglaublich angesichts seiner dunkelrot pulsierenden, klaffenden Beinwunde, und riss nun sein gezacktes Schwert mit ungestümer Wucht über den Kopf, wohl um Skar mit einem einzigen Hieb in zwei Stücke zu spalten. Er kam nicht mehr dazu. Skar wirbelte ansatzlos herum; seine Klinge zuckte mit der Eleganz einer vorschnellenden Schlange auf seine geschuppte Brust zu und drang bis zum Heft ein. Der Gigant stieß einen markerschütternden Schrei aus und noch im Todeskampf sauste sein Schwert hinab und hätte Skar zwingen müssen, seine Waffe stecken zu lassen und unter dem Hieb wegzutauchen; doch diesmal war er nicht bereit, das Tschekal leichtfertig aus der Hand zu geben, zog es deshalb mit einer schwungvollen Drehung zurück und glitt gleichzeitig mit einer eleganten Bewegung an der Seite des Geschuppten vorbei. Das Quorrl-Schwert schrammte so dicht an seinem Rücken vorbei, dass es sein Gewand zerfetzte und einen blutigen Streifen auf seinen Rücken zeichnete, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was ihn erwartet hätte, wäre der Hieb direkt in seine Richtung gelenkt gewesen.

Der Koloss torkelte noch ein, zwei Schritte weiter und brach dann röchelnd zusammen. Obwohl er vielleicht noch nicht sofort tot war, glaubte Skar, dass von ihm keine unmittelbare Gefahr mehr ausging; dennoch ließ er seine Waffe nicht sinken: Es konnte immer noch einer der unglaublich zähen Reptilienkrieger am Leben und kampffähig sein; schon mehr als einmal hatte er eine unliebsame Überraschung erlebt durch Gegner, die er eigentlich schon ausgeschaltet geglaubt hatte. Mit ein paar Schritten war er bei dem Quorrl, in den sich das erste Tschekal gebohrt hatte. Er setzte seinen Stiefel an und drehte ihn, alle Kraft aufwendend, auf den Rücken. Ein Blick in die gebrochenen Augen des Kriegers zeigte ihm, dass hier keine Gefahr mehr zu fürchten war. Auch der Reptilienkrieger, dessen Hals Esannas Messer erwischt hatte, war wider Erwarten bereits tot; es musste Blut in seine Luftröhre geraten sein, sodass er qualvoll erstickt war.

Es war der dritte Krieger, der mit der sicherlich tödlichen, aber noch nicht ausgebluteten Halswunde, der ihm wegen seiner nun doch empfundenen tiefen Erleichterung über den glücklich verlaufenen Kampf und der damit nachlassenden Anspannung fast zum Verhängnis wurde. Als er sich dem vermeintlich Toten näherte, schoss plötzlich die Klaue dieses Quorrl vor, umklammerte seinen Knöchel und riss ihn ansatzlos und mit einem geradezu verzweifelten Ruck von den Füßen. Skar wehrte sich nicht gegen die überraschende Bewegung, die viel zu kraftvoll war, um sich ihr erfolgreich entgegenstemmen zu können, sondern gab ihr ganz im Gegenteil nach; dadurch schlug er viel weniger hart auf den Boden auf, als sein Gegner wohl gehofft hatte, und war noch im Fall zum Gegenangriff fähig.

Wie ein eigenes Lebewesen schoss das Tschekal vor und trennte den Kopf des Quorrl von dessen Schultern ab. »Skar!«, schrie Esanna panisch. »Schnell!«

Skar fuhr herum, riss instinktiv sein Schwert hoch in der Erwartung, nun gleich einem oder mehreren weiteren Quorrl gegenüberzustehen - aber da war niemand. Aus dem Torso zu seinen Füßen sickerte dickes, zähflüssiges Reptilienblut und vor ihm, in der Schneise, die die geschuppten Giganten während des Kampfes ins Unterholz geschlagen hatten, inmitten abgeknickter Äste und verwüsteten Buschwerks erkannte er nichts weiter als drei gefällte, regungslose Kolosse, und würde nicht noch Blut aus ihren frischen Wunden sickern und hier und da ein fast unmerkliches, spasmisches Zucken über ihre Gliedmaßen laufen, die wohl weniger von einem Todeskampf zeugten als vielmehr von einer automatischen Reaktion absterbender Körperfunktionen, dann hätte man glauben können, sie wären schon vor Stunden gefällt worden.

Durch Skars Schwertarm ging ein leises Zittern. Er hatte schon viele Kämpfe bestanden - aber so etwas hatte er noch nicht erlebt. Bis auf einen Kratzer auf seinem Rücken war er unverletzt und lediglich der harte Schlag seines Herzens, das bis hinauf zum Hals hämmerte, zeigte ihm, wie sehr ihn der nur wenige Minuten dauernde Kampf angestrengt hatte.

Vier Quorrl. Vier bestens ausgerüstete und durchtrainierte Krieger, von denen es im Normalfall jeder einzelne mit mehreren Satai hätte aufnehmen können. Er hätte sie nicht so leicht besiegen dürfen. Es wäre nur gerecht gewesen, wenn er ein paar schwere Treffer hätte einstecken müssen und es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn er jetzt dort tot liegen würde statt der Giganten ...

»Skar, verdammt, wo bleibst du!«, schrie Esanna. »Er stirbt!«

Die Stimme des Mädchens drang wie aus einem fernen Nebel an ihn und er begriff, dass er für einen kurzen Moment weggetreten war. In die Erleichterung über den Ausgang des Kampfes mischte sich Erschrecken, als er Esanna neben Kama knien sah, halb verdeckt durch einen Busch und direkt neben dem Quorrl, den ihr Messer getötet hatte. Sie hatte den Nahrak halb aufgerichtet und strich gerade über sein Gesicht, als könnte sie ihn damit zurückholen aus der Finsternis, in die er entwichen war.

Mit einem Satz sprang Skar über den vor ihm liegenden Torso und hetzte zu ihr. »Was ist los?«, fragte er keuchend, kaum dass er sie erreicht und sein Schwert hatte zurückgleiten lassen. »Ist er tot?«

»Ich weiß nicht.« Esanna sah zu ihm hoch. Eine Strähne ihres langen dunklen Haars fiel ihr über die Augen und verdeckte ihre vor zwei Tagen von Kama versorgte Stirnwunde; dadurch wirkte sie weniger kriegerisch als vielmehr sehr mädchenhaft und ungeheuer verletzlich und er begriff, wie hilflos sie sich in diesem Augenblick fühlen musste.

»Und du?«, fragte er, während er in die Hocke ging und fast sachte die Hand ausstreckte, um sie an der Schulter zu berühren. »Was ist mit dir?«

Sie starrte ihn ein paar Sekunden lang mit ausdruckslosen Augen an, als begriffe sie gar nicht, was er mit seinen Worten gemeint hatte. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist«, sagte sie dann, als habe er sich nach Kamas und nicht nach ihrem Befinden erkundigt. »Er wirkt so ... abwesend.« Skar nickte und schob Esannas Hände, mit denen sie den Oberkörper Nahraks immer noch fest umklammert hielt, so sanft wie möglich beiseite, während er Kama gleichzeitig stützte und ein Stück höher zog. Obwohl der Nahrak äußerlich unverletzt war und lediglich seine Hände durch eine nicht allzu fest sitzende Lederfessel zusammengebunden waren, bot er einen erschreckenden Anblick. Sein wachsbleiches Gesicht wirkte wie das eines Toten und dabei vollkommen starr und abweisend, und wäre nicht das kaum merkliche, aber regelmäßige Heben und Senken seiner Brust gewesen, hätte Skar ihn tatsächlich für tot gehalten.

»He«, sagte Skar, während er ihn sanft rüttelte. »Kama! Kannst du mich hören?«

Der Nahrak antwortete nicht; aber das hatte er auch gar nicht erwartet. Seine Befürchtung, dass mit Kama etwas nicht stimmte, wurde zur Gewissheit: Er war nicht nur einfach verletzt oder bewusstlos - es war etwas anderes. Es waren nur Kleinigkeiten, winzige Details, die sich seiner Betrachtung noch dazu immer wieder auf unheimliche Weise zu entziehen schienen, aber jetzt, wo er darauf aufmerksam geworden war, waren sie nicht mehr zu übersehen: die Schatten um die feinen, sonst fast nicht wahrnehmbaren Linien seines Gesichts waren dunkler als sonst, die Lippen wirkten wie aufgepumpt und trotz der Eiseskälte, die sein Körper verströmte, standen feine Schweißtröpfchen auf seiner Stirn.

»Wird er es schaffen?«, fragte Esanna ängstlich.

»Ja«, sagte Skar, obwohl er fürchtete, dass mit den leisen, viel zu langsamen Atemzügen unwiederbringlich das Leben aus dem Nahrak strömte. »Ich denke schon. Aber am besten, wir bringen ihn sofort hier weg.«

»Ich verstehe das nicht«, stammelte Esanna. »Wie kommt er überhaupt hierher? Er wollte doch nach dem Frarr suchen...«

»Vielleicht hat er ihn ja gefunden«, murmelte Skar, »und ist uns hinterhergeflogen.«

»Was?«

»Nichts«, sagte Skar knapp. »Das ist nicht wichtig. Zumindest jetzt nicht.«

Zu seiner Überraschung zitterten Kamas Lider in diesem Moment und dann schlug er tatsächlich die Augen auf, doch Skars Vorfreude wandelte sich in Entsetzen, als er sah, dass seine Pupillen nach oben weggedreht waren, sodass man fasst nur das Weiße seiner Augen sehen konnte. Die glasigen Augäpfel wanderten in seine Richtung, als würde ihn der Nahrak beobachten, aber es war kein Erkennen in ihnen und überhaupt kein Zeichen, dass er überhaupt etwas wahrnahm.

Das gefiel Skar ganz und gar nicht. Er packte den Nahrak so rasch wie möglich, damit nicht Esanna auf diese merkwürdig aufgerissenen Augen aufmerksam wurde, und lud ihn sich über die Schulter. Nachdem er das Bein eines toten Quorrl beiseite geschoben hatte - es war der Krieger, den Esanna durch einen beherzten Wurf ihres Messers ausgeschaltet hatte - ging er mit dem Nahrak auf dem Rücken noch einmal in die Hocke, um Esannas Klinge an sich zu nehmen.

Mit einen harten Ruck zog er die Waffe aus dem Hals des Giganten und schaumiges, hellrotes Blut sprudelte hervor, so frisch, dass er nicht sicher war, ob der Koloss wirklich tot war; er stieß die Waffe ohne zu Zögern noch einmal in die Halsschlagader des Kriegers, drehte sie kräftig herum und zog sie dann, nachdem die Augen des Quorrls gebrochen waren, endgültig hervor, bevor er die Waffe am Gewand des Toten abwischte und sie dann dem Mädchen reichte.

Esanna wich einen Schritt vor ihm zurück. »Warum hast du das gemacht?«, stieß sie voller Abscheu hervor und ohne das Messer anzurühren.

Skar brauchte einen Moment, um überhaupt zu begreifen, was sie gemeint haben könnte. »Ich war es ihm schuldig«, sagte er dann. »Ich fürchtete, dass er vielleicht noch ein paar Stunden in seinem Blut liegen bleiben könnte, bevor er stirbt.«

»Das ist... ekelhaft.« Sie stand stocksteif da und musterte ihn voller Verachtung. »Du bist ein Tier. Ein blutrünstiges Tier.«

Skar stieß mit dem Fuß gegen den Quorrl. »Siehst du? Jetzt ist er tot. Vorher war er es nicht. Hätte ich sein Leiden verlängern sollen?«

»Bei allen Göttern«, stammelte Esanna. »Und ich dachte, du wärst ein Quorrl-Freund. Ich habe nicht geahnt, dass du sie mehr hasst als ich. Du bist wie ein Wirbelwind unter sie gefahren, hast ihnen nicht die geringste Chance gelassen.«

»Ich hasse sie nicht«, sagte Skar ärgerlich, während er Esannas Messer in seinen Gürtel steckte. »In diesem Fall ging es ganz einfach um die Frage: sie oder wir. Außerdem haben wir keine Zeit für Diskussionen. Wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden. Wo vier Quorrl waren, können auch noch mehr sein - zumal mir diese vier sehr sorglos zu sein schienen, so als hätten die Quorrl das ganze Gebiet hier unter Kontrolle.«

Esanna sah sich gehetzt, aber gleichzeitig etwas übertrieben nach allen Seiten um. »Ich höre nichts«, behauptete sie. »Das hat nichts zu bedeuten«, antwortete Skar und erinnerte sich schaudernd daran, dass er das Näherkommen des Quorrl-Trupps erst bemerkt hatte, als es schon fast zu spät gewesen war. Sein ganzes Leben hatte er sich auf seine Sinne verlassen können und es war für ihn unvorstellbar, dass er plötzlich und ohne jede Vorwarnung diese Gabe verloren haben sollte. Was das für Konsequenzen haben konnte, zeigten ihm die Ereignisse der letzten Minuten: Hätte er die Quorrl rechtzeitig gehört, wäre ihm dieses Blutbad womöglich erspart geblieben, denn dann wäre genug Zeit geblieben ihnen aus dem Weg zu gehen.

»Lass uns mit dem Pferd verschwinden«, sagte er. »Wir müssen sehen, dass wir uns so schnell wie möglich nach Nemesis durchschlagen.«

Esanna starrte ihn noch einen Moment bleich und anklagend an, dann wandte sie sich wortlos um und lief mit schnellen Schritten zu der Lichtung zurück, auf der der geköpfte Quorrl lag - und der Braune stand, ihre vielleicht einzige Chance noch rechtzeitig von hier wegzukommen. Skar atmete innerlich auf. Er war versucht gewesen auf Esannas Anschuldigungen einzugehen und sie mit schroffen Worten zurückzuweisen; und das, obwohl er wusste, dass ein Streit zu diesem Zeitpunkt nicht nur äußerst sinnlos war, sondern auch höchst gefährlich, nicht nur, weil er Zeit kostete, sondern ihn auch davon ablenkte, seiner Umgebung die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Es war mehr als nur ein vages Gefühl, das ihn dazu brachte, Esanna so schnell wie möglich zu folgen: Es war schon fast so etwas wie Gewissheit, dass sich neues Unheil über ihnen zusammenbraute.

»Wir können doch nicht zu dritt reiten«, sagte Esanna, nachdem er mit dem Nahrak auf dem Rücken das Pferd des toten Satais erreicht hatte und automatisch die Nüstern des zwar aufgeregten, aber erstaunlich gefassten Braunen streichelte; das Tier musste Kampflärm und Tod gewohnt sein, sonst hätte es mehr Schwierigkeiten gemacht.

Das Mädchen hatte sich bereits am Zaumzeug zu schaffen gemacht und sah ihm direkt in die Augen, wobei sie krampfhaft vermied den Blick zu dem Torso zu ihren Füßen schweifen zu lassen. Skar konnte es ihr nicht verübeln. Es war tatsächlich ein Anblick, den er sich auch selbst gerne erspart hätte.

»Wir legen Kama quer aufs Pferd«, sagte er. »Und du wirst hinter ihm aufsteigen. Ich laufe nebenher.«

»Das ist doch Quatsch.«

»Keinesfalls«, widersprach Skar, während er Kama vorsichtig von den Schultern gleiten ließ, um ihn mit dem Bauch auf dem teuren Leder des Satai-Sattels abzulegen, das Gesicht nach unten und von ihnen weggewandt, damit Esanna nicht die erschreckend aufgerissenen Augen des Nahrak bemerkte. »Und außerdem bin ich nicht bereit, darüber zu diskutieren. Du wirst jetzt ohne Widerrede das tun, was ich sage - oder ich reite auf dem Pferd und du läufst nebenher.«

Esanna starrte ihn fassungslos an. »Das würdest du tun?«

»Ja«, log Skar, »ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Und wenn ich nun ...«

Skar winkte ab und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Esanna verstand sofort. Gleich ihm wandte sie sich um, lauschend und gleichzeitig auf der Suche nach einer verdächtigen Bewegung, raschelndem Blätterwerk, knackenden Ästen oder anderen winzigen Anzeichen, die verrieten, dass sich jemand an sie anzuschleichen versuchte.

»Hörst du es auch?«, flüsterte sie. »Da ist doch jemand.« Skar nickte nervös. »Steig auf«, sagte er leise. »Schnell.« Esanna gehorchte, aber ihre Bewegungen wirkten so fahrig, dass Skar sie an den Hüften packte und auf den Braunen setzte, bevor sie selber auch nur den Fuß in den Steigbügel setzen konnte. Das Pferd schnaubte und begann leicht zu tänzeln, verhielt sich aber ansonsten ruhig; offensichtlich war es so gut trainiert, dass es gleich ihnen die Situation instinktiv zu verstehen schien: Es scheuerte an dem Ledergurt, mit dem Skar es am Abend zuvor an den Baum angebunden hatte, als wollte es zum Aufbruch drängen. Skar band das Tier los und dirigierte es vorsichtig um den toten Quorrl herum, in Richtung des Weges, auf dem sie gestern auf den schwer verletzten Satai gestoßen waren. »Von wo kommt das Geräusch?«, flüsterte Esanna so leise, dass er den Sinn ihrer Worte mehr erriet als verstand. »Ich weiß nicht«, behauptete er, während ihm gleichzeitig ein eiskalter Schauer über den Rücken jagte - die Geräusche schienen von überall her zu ihnen zu dringen, beinahe so, als zögen die Quorrl einen Kreis um sie, immer enger und in der sicheren Gewissheit die Mörder ihrer vier Artgenossen damit in die Enge zu treiben. Das Gefühl in eine Falle geraten zu sein, aus der es keinen Ausweg mehr gab, verdichtete sich, als sie sich dem Weg näherten: Er hörte von dort Pferdegetrappel, leise Stimmen und das kaum wahrnehmbare Geklirr von Waffen.

Skar gab dem Braunen mit einem kurzen Ruck am Zügel zu verstehen, dass er anhalten sollte. Das Pferd schnaubte, senkte den Kopf und riss ihn wieder nach oben und Skar hatte das Gefühl, das Tier wollte ihm damit etwas sagen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Skar die Botschaft verstand.

Vor ihnen, hinter ihnen und zu beiden Seiten verdichteten sich die Geräusche zu einem bedrohlichen Singsang des Todes, zu dem eindeutigen Rascheln, Knistern und Stampfen, mit dem sich viel zu viele schwer bewaffnete Quorrl durch den Wald drängten, genau auf ihren Standort zu, als würden sie von einer unbekannten Kraft geradezu magisch zu ihnen geleitet, und während Skar sein Schwert zog und sich nach allen Seiten umsah, begriff er, dass die Bedrohung tatsächlich von allen Seiten kam, von allen Richtungen gleichzeitig...

Und dass er keine Chance haben würde, nicht diesmal. »Galoppier auf den Weg und brech durch«, sagte er gleichermaßen erregt wie leise zu Esanna. »Ich halte sie auf.«

»Und du...«

Skar versetzte dem Braunen einen Klaps aufs Hinterteil und stieß gleichzeitig einen schrillen Kriegsschrei aus.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Während der Braune mit einem erschreckten Sprung losstürmte und fast aus dem Stand heraus in einen so schnellen Galopp fiel, dass Esanna um ein Haar von seinem Rücken gerutscht wäre, schien der Wald um ihn herum zu explodieren.

Skar packte sein Schwert fester und glitt automatisch in den elastischen Falam-Stand. Zweige peitschten beiseite, Äste brachen, der Boden vibrierte unter seinen Füßen und dann spuckte der Wald die Quorrl aus, drei, vier, fünf, sechs Gestalten auf einmal, in seinem Rücken und vor ihm und zu beiden Seiten und es wurden immer mehr, finstere Gestalten, mit drohend erhobenen Zackenschwertern, die keine Sekunde zögern würden ihn niederzumachen, wenn er auch nur mit der Wimper zuckte.

Skars Erregung war plötzlich wie verschluckt und machte einer Ruhe Platz, in der sich all seine Energie sammelte, all seine Kampferfahrung vereinte zum letzten, nicht mehr rückgängig zu machenden Aufbäumen, mit dem er sich den geschuppten Giganten entgegenzustellen gedachte, um Esanna und Kama einen gehörigen Vorsprung zu verschaffen. Er wartete auf den Angriff, wartete verzweifelt auf ihn, um mit einer Flugrolle die erste Linie der Kolosse zu überspringen und in ihrem Rücken Tod und Verwirrung zu stiften ...

Doch die Reptilienkrieger griffen nicht an. Skar erkannte in ihren Augen wütendes Funkeln und das unbändige Verlangen ihn mit wenigen Hieben niederzustrecken, aber aus irgendeinem verdammten Grund griffen sie ihn nicht an, sondern beließen es dabei, ihn einzukesseln, eine erdrückende Mauer, die ihm nicht die geringste Chance zur Flucht ließ. Skar hatte sich darauf eingestellt, seine gesamten Energien auf einen Schlag zu aktivieren und spürte jetzt in seinen Knien ein leichtes Zittern; er wollte, er musste jetzt kämpfen, er konnte nicht mehr länger untätig stehen bleiben und darauf warten, bis sie einer unbekannten Strategie folgten, die er nicht verstand ...

Es war nur der Gedanke an Esanna, der ihn davon abhielt, selbst zum Angriff überzugehen. Je länger dieser unhaltbare Zustand anhielt, je mehr Zeit verstrich, bis er tot und verstümmelt am Boden lag, umso größer waren ihre Chancen zu entkommen. Dabei machte er sich durchaus nichts vor: Die Quorrl hatten auch den durch den Wald führenden Weg in die Zange genommen und würden nichts unversucht lassen, um sie sofort und kompromisslos abzufangen. Aber einer einzelnen, geschickten Reiterin mochte es gelingen, den relativ schwerfälligen Kolossen zu entkommen ...

Für einen Moment schien es, als springe ein Funken zwischen den Quorrl und ihm über; in den schmalen Reptilienaugen versprach ein wildes Funkeln Kampf und Vernichtung und die fast lippenlosen Fischgesichter verzogen sich zu einer Grimasse des Hasses und des Versprechens auf einen schnellen, aber grausamen Tod. Aber erst jetzt, im Angesicht der unvermeidlichen Auseinandersetzung, fiel ihm auf, wie sehr sich diese Quorrl von denen unterschieden, die er früher kennen gelernt hatte - und auch von den Kriegern Górs, die das Digger-Dorf überfallen hatten. Die riesigen, verzerrten Schatten wirkten in ihrer Kriegskluft so barbarisch wie auch alle anderen ihm bekannten Quorrl, aber die Kettenhemden, die ihre Oberkörper verhüllten, die gewaltigen Zweihandschwerter, die sie in den Händen hielten, die Beinschilde und schließlich ihre gezackten Helme, die nach oben hin in einen spitzen Dorn ausliefen - das alles konnte nichts anderes sein als eine ihm unbekannte Uniform.

»Nicht!«

Es war eine metallisch klingende Stimme, die zwischen den Bäumen erschallte und von einem mehrfachen, wenn auch schwachen Echo zurückgeworfen wurde. Der Quorrl, der ihm am nächsten stand, stieß ein tiefes Knurren aus und Skar musste an Esanna denken, die die Quorrl als wilde Tiere beschrieben hatte.

Vielleicht hatte sie nicht einmal Unrecht. Wenn das so war, dann waren aber auch Menschen wilde Tiere: blutrünstig, grausam und zur Vernichtung ihrer eigenen Artgenossen fähig, wann immer es in ein übergeordnetes Konzept zu passen schien.

Die vor ihm stehenden Quorrl schienen einen Moment zu zögern, kämpften offensichtlich gegen den Impuls an ihn niederzumachen und damit den Tod ihrer Artgenossen zu rächen. Zu seiner Verblüffung und Enttäuschung wichen sie aber plötzlich einen halben Schritt vor ihm zurück - er wollte kämpfen, er brannte darauf und alles in ihm schrie danach, es nun endlich, endlich hinter sich zu bringen -, um jemandem Platz zu machen, der ganz offensichtlich das Recht beanspruchte dieser Quorrl-Meute Befehle zu erteilen.

Es war kein Quorrl. Es war ein Mensch. Ein Satai, um genau zu sein.

Die Gestalt zwängte sich durch die Quorrl und blieb in der Mitte zwischen zwei Giganten stehen; so selbstverständlich, wie Skar vor unendlichen Zeiten mit seinem Quorrl-Freund Titch umgegangen war, der für die Reptilienkrieger mehr als nur ein Feldherr gewesen war, sondern fast schon ein Gott.

Skar erkannte den Satai trotz - oder gerade wegen - seiner goldenen Maske in der Form eines Wolfsschädels sofort wieder.

»Marna«, ächzte er.

»Skarissa Marna, um genau zu sein«, sagte Marna.

»Schließlich stamme ich in direkter Linie vom Großen Skar ab.«

Skar stand eine Sekunde wie erstarrt da, bevor er seine Chancen abwog: Marna war ein Satai, aber dennoch ihm möglicherweise deutlich unterlegen, und wenn er ihn überraschte, konnte er ihn wahrscheinlich töten, bevor die Quorrl eingriffen. Erst dann begriff er, was der Mann gesagt hatte: dass er vom Großen Skar abstammte. Konnte es tatsächlich sein, dass Marna ein Nachfahre von ihm war, getrennt durch mehr als zehn Generationen - und doch sein Fleisch und Blut?

»Wie kommt es, dass du mit den Quorrl gemeinsame Sache machst?«, fragte er. Seine Stimme war plötzlich ganz leise, aber es war jene gläserne Schärfe darin, die nur wenige Menschen zu hören bekommen hatten, ohne sich voller Schrecken für den Rest ihres Lebens daran zu erinnern.

Marna schien durchaus die Drohung darin zu verstehen, denn er schob sich ein Stück hinter die Quorrl-Linie, mit einem leichten, eleganten und dennoch kraftvollen Schritt. Eine solche Reaktion war eines Satais eigentlich unwürdig - und dennoch: Sie zeugte von Vernunft und der realistischen Einschätzung eines potenziellen, in die Enge getriebenen Gegners.

Vielleicht hatte sich Skar in ihm getäuscht, vielleicht war der goldene Satai trotz seines manierierten Gehabes wesentlich geschickter, als er vermutet hatte. Doch zumindest hatte er den einen Vorteil, dass der Wolfsgesichtige seine Identität nicht kannte - und ihn schon allein aus diesem Grund unterschätzen mochte.

»Ich mache keine gemeinsame Sache mit den Quorrl«, sagte Marna verächtlich. Seine Stimme klang durch den Helm mit dem goldenen Gesichtsschutz verzerrt. Skars Eindruck, dass dieser Satai so überhaupt nicht in das ihm bekannte Schema passte, verstärkte sich zunehmend. »Ich treibe lediglich unsere eigene Sache voran - mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.« Als Skar etwas sagen wollte, machte er eine herrische Handbewegung, mit der er ihm wohl das Wort abschneiden wollte. »Schweig jetzt. Wir werden später noch genug Gelegenheit finden uns auszusprechen. Jetzt leg erst einmal deine Waffen nieder.«

Skars Augen verengten sich, wurden zu schmalen Schlitzen. Wenn es ihm gelänge, Marna als Geisel zu nehmen - dann hatte er vielleicht noch eine Chance. Es konnte durchaus sein, dass die Quorrl vor einem Angriff zurückschreckten, wenn er Marnas Hals mit seiner Klinge ritzte.

Der Satai mit der Wolfsmaske blickte ihm ruhig entgegen und fast hatte Skar das Gefühl, er wüsste, was in ihm vorging. »Du kannst es natürlich auch auf einen Kampf ankommen lassen«, sagte er ruhig. »Du kannst mich vielleicht sogar töten - ich habe dich schon einmal kämpfen gesehen und die vier toten Quorrl hinter uns sprechen ein deutliche Sprache. Ja, ich fordere dich gerade heraus es zu versuchen.«

»Du tust... was?«, ächzte Skar.

»Ich fordere dich auf mich anzugreifen«, sagte Marna leichthin. »Allerdings solltest du dabei ins Kalkül ziehen, dass die Quorrl dann sofort das Mädchen und diesen vorwitzigen Waldmenschen töten werden.«

Seine Worte versetzten Skar einen feinen, aber spürbaren Stich ins Herz. Bislang hatte er tief in seinem Inneren noch gehofft, Marna würde sich auf seine Seite stellen. Doch seine Drohung ließ diese Illusion wie eine Seifenblase platzen. »Ihr habt sie in eurer Gewalt?«

»Selbstverständlich«, nickte Marna. »Ich habe mich selbst davon überzeugt, bevor ich zu dir gekommen bin.« Die Augen hinter den schmalen Sehschlitzen schienen aufzuleuchten, als sich der Mann in der goldenen Maske ein Stück vorbeugte. »Ich werde doch dem Großen Skar nicht gegenübertreten, ohne ein paar Trumpfkarten im Ärmel zu haben.«

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