KAPITEL 7

Cordelia hatte an einem Morgen der darauffolgenden Woche ein gemeinsames Frühstück mit Aral und Piotr in einem privaten Salon, von dem aus man den hinteren Garten überblickte. Aral winkte dem Burschen des Grafen, der sie bediente.

»Könnten Sie bitte Leutnant Koudelka für mich herbeiholen? Sagen Sie ihm, er soll diese Tagesordnung für heute vormittag mitbringen, die wir besprochen haben.«

»Oh, ich vermute, Sie haben es noch nicht erfahren, Mylord?«, murmelte der Mann. Cordelia hatte den Eindruck, seine Augen suchten den Raum nach einem Fluchtweg ab.

»Was erfahren? Wir sind gerade heruntergekommen.«

»Leutnant Koudelka wurde heute morgen ins Krankenhaus gebracht.«

»Krankenhaus? Guter Gott, warum hat man mir das nicht sofort gesagt? Was ist geschehen?«

»Uns wurde gesagt, Oberstleutnant Illyan würde einen vollständigen Bericht mitbringen. Der Kommandant der Wache … dachte, er sollte auf ihn warten.«

Bestürzung kämpfte mit Verstimmung auf Vorkosigans Gesicht. »Wie schlimm ist es? Es ist keine … verspätete Nachwirkung der Schallgranate, nicht wahr? Was ist ihm zugestoßen?«

»Er wurde zusammengeschlagen, Mylord«, sagte der Bursche ausdruckslos.

Vorkosigan lehnte sich mit leisem Zischen zurück. An seinem Kinn spannten sich die Muskeln. »Schicken Sie mir diesen Wachkommandanten her«, knurrte er.

Der Diener verschwand auf der Stelle, und Vorkosigan klopfte nervös und ungeduldig mit einem Löffel auf den Tisch. Seine Augen begegneten Cordelias erschrockenem Blick und er setzte ihr zuliebe ein leichtes, falsches Lächeln der Beruhigung auf. Selbst Piotr blickte erschrocken drein.

»Wer könnte denn wohl Kou zusammenschlagen wollen?«, fragte Cordelia verwundert. »Da kann einem ja übel werden. Er kann doch gar nicht richtig zurückschlagen.«

Vorkosigan schüttelte den Kopf: »Ich vermute, es ist jemand, der ein sicheres Opfer suchte. Wir werden es herausfinden. O ja, wir werden es herausfinden.«

Der grün uniformierte Wachkommandant des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes erschien und nahm Haltung an. »Sir.«

»Zu Ihrer künftigen Information, und Sie können das weitergeben, sollte einem meiner maßgebenden Stabsmitglieder irgendein Unfall zustoßen, so wünsche ich sofort informiert zu werden. Verstanden?«

»Jawohl, Sir. Es war sehr spät, als die Nachricht hier eintraf, Sir. Und da wir da schon wußten, daß beide überleben würden, sagte Oberstleutnant Illyan, ich könnte Sie schlafen lassen, Sir.«

»Ich verstehe.« Vorkosigan rieb sich sein Gesicht. »Beide?«

»Leutnant Koudelka und Sergeant Bothari, Sir.«

»Sie sind doch nicht in einen Streit geraten, oder?«, fragte Cordelia, die jetzt zutiefst erschrocken war.

»Ja. Oh — nicht miteinander, Mylady. Sie wurden überfallen.«

Vorkosigans Gesicht verdüsterte sich. »Sie sollten besser beim Anfang beginnen.«

»Jawohl, Sir. Hmm. Leutnant Koudelka und Sergeant Bothari gingen gestern abend aus. Nicht in Uniform. In die Gegend hinter der alten Karawanserei.«

»Mein Gott, wozu denn das?«

»Hmm.« Der Wachkommandant warf einen unsicheren Blick auf Cordelia. »Zur Unterhaltung, glaube ich, Sir.«

»Zur Unterhaltung?«

»Jawohl, Sir. Sergeant Bothari geht dort ungefähr einmal im Monat hin, an seinem dienstfreien Tag, wenn der Herr Graf in der Stadt ist. Es handelt sich offensichtlich um einen Ort, wo er schon seit Jahren hingeht.«

»In die Karawanserei?«, sagte Graf Piotr in ungläubigem Ton.

»Hmm«, der Wachkommandant warf dem Diener einen hilfeheischenden Blick zu.

»Sergeant Bothari ist nicht sehr wählerisch bei seiner Unterhaltung, Sir«, meldete sich der Diener unsicher zu Wort.

»Offensichtlich nicht!«, sagte Piotr.

Cordelia gab Vorkosigan mit den Augenbrauen ein fragendes Zeichen.

»Das ist eine ziemlich üble Gegend«, erklärte er. »Ich selbst würde dorthin nicht ohne eine Begleitpatrouille gehen. Und bei Nacht mit zwei Patrouillen. Und ich würde auf jeden Fall meine Uniform tragen, allerdings nicht meine Rangabzeichen … aber ich glaube, Bothari ist dort aufgewachsen. Ich stelle mir vor, daß er es anders sieht.«

»Warum so übel?«

»Die Gegend ist sehr arm. Dort war das Stadtzentrum in der Zeit der Isolation, und die Stadterneuerung hat dort noch nicht begonnen. Wasser ist dort knapp, es gibt keine Elektrizität, die Gegend erstickt förmlich im Müll …«

»Am meisten im menschlichen Müll«, fügte Piotr bissig hinzu.

»Arm?«, sagte Cordelia verblüfft. »Keine Elektrizität? Wie kann die Gegend dann ans Kommunikationsnetzwerk angeschlossen sein?«

»Ist sie natürlich nicht«, antwortete Vorkosigan.

»Wie bekommen dann die dort ihre Ausbildung?«

»Gar nicht.«

Cordelia machte große Augen, »Ich verstehe das nicht. Wie bekommen dann die Leute dort ihre Jobs?«

»Ein paar fliehen in den Militärdienst. Die restlichen rauben sich größtenteils gegenseitig aus.« Vorkosigan schaute sie voller Unbehagen an. »Habt ihr auf Kolonie Beta keine Armut?«

»Armut? Na ja, einige Leute haben natürlich mehr Geld als andere, aber … keine Kommunikationskonsolen?«

Vorkosigan war jetzt von seiner Befragung abgelenkt. »Ist das der niedrigste Lebensstandard, den du dir vorstellen kannst, wenn man keine Kommunikationskonsole hat?«, sagte er verwundert.

»Der erste Artikel in der Verfassung lautet: ›Der Zugang zu Informationen darf nicht beschränkt werden.‹«

»Cordelia … diese Leute haben kaum Zugang zu Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Sie haben ein paar Lumpen und Kochtöpfe, und sie nisten sich in Gebäuden ein, deren Renovierung oder Abriß sich noch nicht lohnt, während der Wind durch die Mauerritzen pfeift.«

»Gibt es dort keine Klimaanlagen?«

»Keine Heizung im Winter ist da das größere Problem.«

»Das denke ich mir. Hier bei euch gibt es ja keinen wirklichen Sommer … Wie rufen sie Hilfe herbei, wenn sie krank oder verletzt sind?«

»Was für eine Hilfe?«, sagte Vorkosigan grimmig. »Wenn sie krank sind, dann werden sie entweder wieder gesund oder sie sterben.«

»Sie sterben, wenn wir Glück haben«, murmelte Piotr, »die Würmer.«

»Macht ihr Witze?« Sie schaute abwechselnd Vater und Sohn an. »Das ist ja schrecklich … also, denkt an all die Begabungen, die euch da verloren gehen.«

»Ich bezweifle, daß uns da viele verloren gehen, von der Karawanserei«, bemerkte Piotr trocken.

»Warum nicht? Sie haben das gleiche genetische Potential wie ihr«, wies Cordelia auf das hin, was ihr einleuchtend erschien.

Der Graf erstarrte. »Mein liebes Mädchen! Das haben sie auf jeden Fall nicht! Meine Familie gehört sein neun Generationen zu den Vor.«

Cordelia hob ihre Augenbrauen: »Wie weißt du das, wenn ihr vor achtzig Jahren noch keine Gentypisierung hattet?«

Der Wachkommandant und der Diener nahmen einen eigentümlich starren Gesichtsausdruck an. Der Diener biß sich auf die Lippe.

»Außerdem«, fuhr sie mit ihrer Argumentation fort, »wenn ihr Vor nur halb soviel Erfolg hattet, wie die Geschichten andeuten, die ich gelesen habe, dann müssen neunzig Prozent der Bewohner dieses Planeten inzwischen Vor-Blut in sich haben. Wer weiß, wer eure Verwandten auf der väterlichen Seite sind?«

Vorkosigan biß zerstreut in seine Leinenserviette, sein Gesichtsausdruck erstarrte wie bei dem Diener, und er murmelte: »Cordelia, du kannst doch nicht … also wirklich, du kannst nicht hier am Frühstückstisch sitzen und andeuten, meine Vorfahren seien Bastarde gewesen. Das ist hierzulande eine tödliche Beleidigung.«

Wo sollte ich denn sitzen? »Oh, das werde ich vermutlich nie verstehen. Ach, mach dir nichts draus. Was ist mit Koudelka und Bothari?«

»Ganz recht. Fahren Sie fort, Kommandant.«

»Jawohl, Sir. Also, Sir, sie waren, wie man mir sagte, auf dem Rückweg, etwa eine Stunde nach Mitternacht, als sie von einer Bande lokaler Schläger überfallen wurden. Offensichtlich war Leutnant Koudelka zu gut gekleidet, und außerdem hat er diesen Gang und den Stock … jedenfalls hat er die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich kenne die Details nicht, Sir, aber es gab vier Tote und heute früh wurden drei ins Krankenhaus eingeliefert, abgesehen von denen, die davonkamen.«

Vorkosigan pfiff leicht durch die Zähne. »Welche Verletzungen haben Bothari und Koudelka?«

»Sie … ich habe keinen offiziellen Bericht, Sir. Ich weiß es nur vom Hörensagen.«

»Dann sagen Sie schon.«

Der diensthabende Offizier schluckte leicht. »Sergeant Bothari hat einen Arm gebrochen, einige Rippen gebrochen, innere Verletzungen und eine Gehirnerschütterung. Leutnant Koudelka hat beide Beine gebrochen und eine Menge … hm … Schockbrandwunden.« Seine Stimme verlor sich.

»Was?«

»Offensichtlich — so hörte ich — hatten die Angreifer einige Hochspannungsschockstöcke, und sie entdeckten, daß sie damit einige … besondere Effekte an seinen Nervenprothesen erzielen konnten. Nachdem sie ihm die Beine gebrochen hatten, verwendeten sie … ziemlich viel Zeit darauf, ihn zu bearbeiten. Das ist der Grund, warum Oberstleutnant Illyans Männer sie eingeholt haben. Sie sind nicht rechtzeitig abgehauen.«

Cordelia schob ihren Teller weg und saß zitternd da.

»Hörensagen, wie? Nun gut. Sie können gehen. Sorgen Sie dafür, daß Oberstleutnant Illyan sofort zu mir geschickt wird, wenn er eintrifft.« Vorkosigans blickte grimmig vor sich hin.

Piotr zeigte mürrische Genugtuung. »Würmer«, knurrte er, »man sollte sie alle ausräuchern.«

Vorkosigan seufzte. »Es ist leichter, einen Krieg zu beginnen, als ihn zu beenden. Nicht diese Woche, Sir.«

Innerhalb einer Stunde erschien Illyan bei Vorkosigan in der Bibliothek und erstattete mündlich einen vorläufigen Bericht. Cordelia gesellte sich zu ihnen, setzte sich nieder und hörte zu.

»Bist du sicher, daß du das hören willst?«, fragte Vorkosigan sie leise.

Sie schüttelte den Kopf. »Nach dir sind sie meine besten Freunde hier. Ich möchte lieber wissen als raten.«

Die Zusammenfassung des diensthabenden Offiziers erwies sich als leidlich genau, aber Illyan hatte mit Bothari und Koudelka im Kaiserlichen Militärkrankenhaus gesprochen, wohin sie gebracht worden waren, und konnte jetzt in ungeschminkten Worten eine Menge Details liefern.

»Ihr Sekretär war anscheinend vom Verlangen nach einer heißen Nummer gepackt«, begann er. »Warum er sich Bothari als einheimischen Führer ausgesucht hat, ist mir schleierhaft.«

»Wir drei sind die einzigen Überlebenden der General Vorkraft«, erwiderte Vorkosigan. »Es ist eine Bindung, vermute ich. Allerdings kamen Kou und Bothari immer gut miteinander aus. Er spricht vielleicht Botharis latente Vaterinstinkte an. Und Kou ist ein anständiger Junge — sagen Sie ihm nicht, daß ich das gesagt habe, er würde es als eine Beleidigung auffassen. Es ist gut zu wissen, daß es solche Leute noch gibt. Ich wünsche mir allerdings, er wäre zu mir gekommen.«

»Nun gut, Bothari tat sein Bestes«, sagte Illyan. »Nahm ihn in diese düstere Spelunke mit, die von Botharis Standpunkt aus einige Pluspunkte für sich hat. Es ist billig dort, es geht schnell, und niemand spricht mit ihm. Außerdem ist es weit entfernt von Admiral Vorrutyers alten Kreisen. Also keine unangenehmen Assoziationen. Er hat eine strikte Routine.

Nach Kous Aussage ist die Frau, deren Stammkunde Bothari ist, fast so häßlich wie er. Bothari mag sie, scheint es, weil sie nie Geräusche von sich gibt. Was das bedeutet, darüber möchte ich nicht nachdenken.

Sei es, wie es mag, Kou hatte Probleme mit einer der anderen Angestellten, die ihm einen Schrecken einjagte. Bothari sagt, er habe das beste Mädchen für Kou verlangt — kaum ein Mädchen, eine Frau, was auch immer —, und anscheinend wurden Kous Bedürfnisse mißdeutet. Jedenfalls war Bothari schon fertig und wartete ungeduldig, während Kou noch versuchte, höfliche Konversation zu machen und ein Sortiment von Vergnügungen für abgestumpfte Geschmäcker angeboten bekam, von denen er noch nie zuvor gehört hatte. Er gab auf und floh schließlich über die Treppe nach drunten, wo Bothari zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich vollgetankt war. Wie es scheint, nimmt er gewöhnlich nur einen Drink und geht dann.

Kou, Bothari und diese Hure gerieten dann in einen Streit über die Bezahlung: er habe soviel Zeit verbraucht wie sonst vier Kunden, sagte sie, dagegen hielten die Männer — das meiste hiervon wird nicht im offiziellen Bericht enthalten sein, ist das in Ordnung? —, sie habe seinen Motor nicht in Gang gebracht. Kou blechte dann eine Teilzahlung — Bothari brummt immer noch darüber, wieviel das war, soweit er mit seinem Mund in diesem Zustand heute überhaupt sprechen kann —, und sie machten einen unordentlichen Rückzug, nachdem es für alle Beteiligten miserabel verlaufen war.«

»Die erste offensichtliche Frage, die sich stellt«, sagte Vorkosigan, »ist: Wurde der Angriff von irgend jemandem aus jenem Etablissement befohlen?«

»Meines Wissens nicht. Ich ließ den ganzen Ort abriegeln, nachdem wir ihn gefunden hatten, und verhörte jeden, der drin war, unter Schnell-Penta. Ich habe ihnen allen einen höllischen Schrecken eingejagt, und das freut mich. Sie sind an Graf Vorbohns städtische Wachen gewöhnt, die sie bestechen oder von denen sie erpreßt werden, und umgekehrt. Wir haben eine Menge Informationen über Bagatellverbrechen bekommen, von denen keine uns irgendwie interessiert — wünschen Sie, daß wir sie an die Stadtbehörden weitergeben?«

»Hm. Wenn die Leute an dem Überfall unschuldig sind, dann legen Sie die Informationen einfach zu den Akten. Vielleicht möchte Bothari eines Tages wieder dort hingehen. Wissen sie, warum sie verhört wurden?«

»Sicher nicht! Ich bestehe darauf, daß meine Männer sauber arbeiten. Wir sind dazu da, Informationen zu sammeln, nicht sie auszuteilen.«

»Verzeihung, Oberstleutnant. Ich hätte es wissen sollen. Fahren Sie fort.«

»Also, sie verließen den Ort etwa eine Stunde nach Mitternacht, zu Fuß, und haben sich irgendwo verlaufen. Bothari regt sich deshalb ziemlich auf. Er denkt, es ist seine Schuld, weil er sich so betrunken hatte. Bothari und Koudelka sagen beide, daß sie etwa zehn Minuten vor dem Überfall Bewegungen in den Schatten wahrnahmen. So hat man sie anscheinend verfolgt, bis sie in eine enge Gasse mit hohen Mauern manövriert waren und auf einmal sechs Leute vor sich und sechs hinter sich sahen.

Bothari zog seinen Betäuber und feuerte — er traf drei, bevor sie über ihn herfielen. Irgend jemand dort drunten ist heute morgen um einen guten Armeebetäuber reicher. Kou hatte seinen Stockdegen, aber sonst nichts.

Sie haben sich zuerst an Bothari herangemacht. Er machte zwei weitere fertig, nachdem er den Betäuber verloren hatte. Sie betäubten ihn, dann versuchten sie ihn zu Tode zu prügeln, nachdem er am Boden lag. Kou hatte bis dahin seinen Stock als Kampfstab benutzt, aber an diesem Punkt ließ er die Hülle abfallen. Er sagt jetzt, er wünscht, er hätte das nicht getan, denn da gab es ein allgemeines Geraune: ›Vor!‹ und es wurde jetzt erst recht schlimm.

Er stach zwei nieder, bis jemand das Schwert mit einem Schockstab schlug und seine Hand Krämpfe bekam. Die fünf, die noch übrig waren, setzten sich auf ihn und brachen seine beiden Beine an den Knien nach hinten. Er bat mich, Ihnen zu sagen, daß es nicht so schmerzhaft war, wie es klingt. Er sagt, sie hätten so viele Nervenleitungen gebrochen, daß er fast empfindungslos war. Ich weiß nicht, ob das stimmt.«

»Bei Kou weiß man nie so recht«, sagte Vorkosigan. »Er hat schon so lange Schmerzen verheimlicht, daß dies fast zu seiner zweiten Natur geworden ist. Fahren Sie fort.«

»Ich muß jetzt ein bißchen zurückgehen. Mein Mann, der auf Kou angesetzt war, folgte ihnen selbst in dieses Labyrinth hinein. Er war vermutlich keiner von denen, die mit dieser Gegend vertraut sind, und er war auch nicht entsprechend gekleidet — Kou hatte zwei Reservierungen für irgendeine Musikveranstaltung gestern abend, und bis drei Stunden vor Mitternacht dachten wir, er würde dorthin gehen. Mein Mann ging in das Gebäude hinein und verschwand, zwischen der ersten und zweiten stündlichen Kontrollmeldung. Das ist es, was mich heute früh beschäftigt. Wurde er ermordet? Oder entführt? Beraubt und ausgeplündert? Oder war er ein Spitzel, ein Eingeschleuster, ein Doppelagent? Wir werden es nicht wissen, bis wir ihn finden, so oder so.

Dreißig Minuten nach der ausgebliebenen Kontrollmeldung schickten meine Leute einen anderen Beschatter hin. Aber der hielt Ausschau nach dem ersten Mann. Kou war drei ganze verfluchte Stunden letzte Nacht unbeobachtet, bevor mein Nachtschichtleiter zum Dienst kam und sich dieser Tatsache bewußt wurde. Glücklicherweise verbrachte Kou den größten Teil dieser Zeit in Botharis Hurenaltersheim, Mein Nachtschichtmann, auf den ich große Stücke halte, dirigierte den vor Ort eingesetzten Agenten um und ließ außerdem noch eine Flugpatrouille starten. Als unser Mann dann schließlich auf diese widerliche Szene traf, konnte er fast sofort einen Flieger herbeirufen und ein halbes Dutzend meiner uniformierten Schläger hinkommen und die Party platzen lassen. Diese Geschichte mit den Schockstäben — das war schlimm, aber nicht so schlimm, wie es hätte es sein können. Kous Angreifern fehlte offensichtlich die Art von … hm … Erfindungsreichtum, die etwa der verstorbene Admiral Vorrutyer in einer solchen Situation gehabt hätte. Oder vielleicht hatten sie bloß nicht die Zeit, wirklich raffiniert zu werden.«

»Gott sei Dank«, murmelte Vorkosigan. »Und die Toten?«

»Zwei waren Botharis Werk, saubere Schläge, einen erledigte Kou — schlitzte ihm den Hals auf — und einen, fürchte ich, tötete ich. Der Bursche geriet in einen anaphylaktischen Schock in einer allergischen Reaktion auf Schnell-Penta. Wir brachten ihn ins Kaiserliche Militärkrankenhaus, aber sie brachten ihn nicht wieder auf die Beine. Mir gefällt das nicht. Jetzt wird an ihm eine Autopsie vorgenommen, um herauszufinden, ob das natürliche Ursachen hatte oder ob ein eingepflanztes Verteidigungsmittel gegen Verhöre schuld ist.«

»Und die Bande?«

»Scheint eine völlig gesetzmäßige — wenn das der richtige Ausdruck ist — genossenschaftliche Unterstützungsgesellschaft der Karawanserei zu sein. Laut den Überlebenden, die wir schnappten, entschieden sie sich für Kou, weil er ›komisch‹ ging. Reizend. Obwohl ja Bothari auch nicht eben auf einer geraden Linie lief. Keiner von denen, die wir verhaftet haben, hat für jemanden anderen gehandelt als für sich selbst. Über die Toten kann ich nichts sagen. Ich habe die Verhöre persönlich überwacht und kann darauf schwören. Sie waren ganz schön geschockt darüber, daß sich plötzlich der Kaiserliche Sicherheitsdienst für sie interessierte.«

»Sonst noch etwas?«, fragte Vorkosigan.

Illyan gähnte hinter vorgehaltener Hand und entschuldigte sich: »Das war eine lange Nacht. Mein Mann von der Nachtschicht hat mich nach Mitternacht aus dem Bett geholt. Ein guter Mann mit gutem Urteilsvermögen. Nein, ich glaube, das war’s für heute, abgesehen von Kous Motivation, überhaupt dort hinzugehen. Er drückte sich sehr unklar aus und fing an, nach Schmerzmitteln zu fragen, als wir auf dieses Thema kamen. Ich hoffte, Sie hätten vielleicht eine Idee, die meine paranoiden Anwandlungen besänftigen könnte. Kou zu verdächtigen verursacht mir einen steifen Hals.« Er gähnte wieder.

»Ich habe eine«, sagte Cordelia, »aber nur für Ihre Paranoia, nicht für Ihren Bericht, einverstanden?«

Illyan nickte.

»Ich denke, er hat sich in jemanden verliebt. Schließlich probiert man ja etwas nur aus, wenn man vorhat, es zu gebrauchen. Unglücklicherweise war sein Versuch eine mittlere Katastrophe. Ich befürchte, er wird eine ganze Zeit lang ziemlich deprimiert und empfindlich sein,«

Vorkosigan nickte verständnisvoll.

»Haben Sie eine Vermutung, um wen es geht?«, fragte Illyan automatisch.

»Ja, aber ich glaube nicht, daß Sie das etwas angeht. Vor allem, wenn nichts draus wird.«

Illyan akzeptierte diese Antwort mit einem Achselzucken und verließ sie, um sein verlorenes Schaf zu suchen, den fehlenden Mann, der ursprünglich auf Koudelka angesetzt gewesen war.

Innerhalb von fünf Tagen war Sergeant Bothari wieder im Palais Vorkosigan, allerdings noch nicht wieder im Dienst: seinen gebrochenen Arm trug er in einer Plastikumhüllung. Er rückte keine Informationen über das brutale Geschehen heraus und entmutigte neugierige Fragesteller mit einem sauren Blick und nichtsagendem Brummen.

Droushnakovi stellte keine Fragen und gab keine Kommentare. Aber Cordelia sah, wie sie gelegentlich in der Bibliothek einen gequälten Blick auf die unbesetzte Kommunikationskonsole mit ihren doppelt gesicherten Verbindungen zur Kaiserlichen Residenz und zum Hauptquartier des Generalstabs warf, an der Koudelka gewöhnlich saß und arbeitete, wenn er im Palais Vorkosigan war. Cordelia fragte sich, wie viele Einzelheiten von den Ereignissen jener Nacht wohl Drou zu Ohren gekommen waren.

Leutnant Koudelka kehrte im darauffolgenden Monat in den Dienst zu eingeschränkten, leichteren Aufgaben zurück, anscheinend ganz fröhlich und unberührt von dem, was er durchgemacht hatte. Aber auf seine Art war er genauso wenig mitteilsam wie Bothari. Bothari zu befragen war wie die Befragung einer Wand gewesen. Koudelka zu befragen war wie Sprechen mit einem Wasserlauf: man erhielt als Echo Geplätscher, oder kleine Strudel von Witzen, oder Anekdoten, die die Strömung des Gesprächs unerbittlich vom ursprünglichen Thema abzogen. Cordelia reagierte auf seine sonnige Heiterkeit mit automatischer Bereitwilligkeit und spielte bei seinem offensichtlichen Wunsch mit, über die Angelegenheit so leicht wie möglich hinwegzugehen. Innerlich hegte sie viel mehr Zweifel.

Ihre eigene Stimmung war nicht die beste. Ihre Vorstellung kehrte immer wieder zu den Schrecken des Attentats vor sechs Wochen zurück und beschäftigte sich unbehaglich mit dem Schicksal, das ihr fast Vorkosigan genommen hätte. Nur wenn er bei ihr war, fühlte sie sich ganz beruhigt, und er war doch jetzt mehr und mehr von zu Hause weg. Irgend etwas war im Kaiserlichen Hauptquartier am Kochen: er war viermal zu Sitzungen gegangen, die die ganze Nacht hindurch dauerten, und hatte eine Reise ohne sie unternommen, eine Fluginspektion militärischer Angelegenheiten, über die er ihr keine Details mitteilte und von der er bleich und mit müden Augen zurückkehrte. Der Fluß von militärischem und politischem Klatsch und Tratsch, mit dem er sie bisher gern bei den Mahlzeiten oder beim Ausziehen unterhalten hatte, versickerte zu einem unkommunikativen Schweigen, obwohl er ihre Gegenwart nicht weniger zu brauchen schien.

Wo würde sie ohne ihn sein? Eine schwangere Witwe, ohne Familie oder Freunde, die ein Kind zur Welt bringen sollte, auf das sich schon jetzt dynastische Wahnvorstellungen konzentrierten und das ein Erbe der Gewalt antreten würde. Könnte sie den Planeten verlassen?

Und wenn sie könnte, wohin würde sie dann gehen? Würde Kolonie Beta sie je zurückkehren lassen?

Selbst der Herbstregen und die anhaltende grüne Üppigkeit der Stadtparks gefiel ihr inzwischen nicht mehr. Ach, was gäbe sie jetzt für einen Atemzug von wirklich trockener Wüstenluft, für den vertrauten alkalischen Geruch, für die endlosen, ebenen Weiten! Würde ihr Sohn je wissen, was eine wirkliche Wüste war? Die Horizonte hier, dicht gesäumt mit Gebäuden und Vegetation, schienen sich manchmal um sie herum zu erheben wie eine hohe Mauer. An wirklich schlimmen Tagen schien die Mauer nach innen einzustürzen.

Sie hatte sich an einem regnerischen Nachmittag in der Bibliothek verkrochen, zusammengekuschelt auf einem alten Sofa mit hoher Lehne, und las zum dritten Mal eine Seite in einem alten Band aus den Bücherregalen des Grafen. Das Buch war ein Relikt der Druckerkunst aus der Zeit der Isolation. Es war auf Englisch geschrieben, aber gedruckt in einer abgewandelten Variante des kyrillischen Alphabets, das mit seinen insgesamt sechsundvierzig Zeichen einst für alle Sprachen auf Barrayar benutzt worden war. Ihr Geist schien heute ungewohnt zerstreut und unempfänglich dafür zu sein. Sie schaltete das Licht aus und ließ ihre Augen einige Minuten ausruhen. Mit Erleichterung beobachtete sie, wie Leutnant Koudelka die Bibliothek betrat und sich steif und bedachtsam an der Kommunikationskonsole niedersetzte. Ich werde ihn nicht unterbrechen, wenigstens er hat echte Arbeit zu erledigen, dachte sie und kehrte noch nicht zu ihrer Seite zurück, aber sie fühlte sich dennoch getröstet durch seine unabsichtliche Gesellschaft.

Er arbeitete nur ein paar Augenblicke lang, dann schaltete er die Maschine mit einem Seufzer ab, starrte geistesabwesend auf die leere, mit Steinmetzarbeiten verzierte Feuerstelle, die ursprünglich der Mittelpunkt des Raumes gewesen war, und bemerkte sie immer noch nicht. Also bin ich nicht die einzige hier, die sich nicht konzentrieren kann. Vielleicht ist es dieses seltsame graue Wetter. Es scheint eine deprimierende Wirkung auf die Leute zu haben …

Er nahm seinen Stockdegen und ließ eine Hand an der glatten Scheide entlanggleiten. Er klickte sie auf, wobei er sie festhielt und die Feder schweigend und langsam losließ. Er blickte die schimmernde Klinge an, die in dem dämmerigen Raum fast mit einem eigenen Licht zu glühen schien, und drehte sie, als dächte er über ihr Muster und ihre exzellente Qualität nach. Dann wendete er sie um, die Spitze über seine linke Schulter und das Heft weg von sich. Er wickelte ein Handtuch als Halt um die Klinge und drückte sie, sehr sanft, gegen die Seite seines Halses über der Halsschlagader. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war kühl und nachdenklich, sein Griff an der Klinge so leicht wie der eines Liebhabers.

Plötzlich spannte sich seine Hand.

Ihr vernehmliches Einatmen, die erste Hälfte eines Schluchzens, ließ ihn aus seiner Träumerei aufschrecken. Er blickte auf und sah sie erst jetzt, seine Lippen preßten sich aufeinander und sein Gesicht rötete sich. Er senkte die Klinge. Sie ließ eine weiße Linie auf seinem Hals zurück, wie eine Halskette, und ein paar rote Tropfen Blut quollen daran hervor.

»Ich … habe Sie nicht gesehen, Mylady«, sagte er heiser. »Ich … machen Sie sich keine Gedanken über mich. Ich habe nur ein bißchen herumgespielt.«

Sie blickten sich schweigend an. Gegen ihren Willen kamen ihr ihre Worte über die Lippen: »Ich hasse diesen Ort! Ich habe jetzt immerzu Angst.«

Sie drehte ihr Gesicht zu der hohen Lehne des Sofas und begann zu ihrem eigenen Entsetzen zu weinen. Hör damit auf! Von allen Leuten nicht vor Koudelka! Der Mann hat schon genügend echte Schwierigkeiten, ohne daß du deine eingebildeten bei ihm ablädst.

Er stand auf und hinkte zu ihrer Couch. Er sah beunruhigt aus. Vorsichtig setzte er sich neben sie. »Hm …«, begann er, »weinen Sie nicht, Mylady. Ich habe nur herumgespielt, wirklich.« Er klopfte ihr unbeholfen auf die Schulter.

»Unfug«, erwiderte sie ihm mit erstickter Stimme, »Sie haben mir einen höllischen Schreck eingejagt.« In einem Impuls nahm sie ihr tränenverschmiertes Gesicht von dem kalten Seidenstoff des Sofas und lehnte es an die rauhe Wärme der Schulter seiner grünen Uniform. Dies provozierte ihn zu gleicher Offenheit.

»Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist«, flüsterte er heftig. »Die anderen bemitleiden mich alle, wissen Sie? Sogar er.« Mit einem unbestimmten Ruck seines Kopfes wies er auf Vorkosigan hin. »Das ist hundertmal schlimmer als Verachtung. Und das wird immer so weitergehen.«

Sie schüttelte den Kopf. Angesichts dieser unzweifelhaften Wahrheit gab es keine Antwort.

»Ich hasse diesen Ort auch«, fuhr er fort, »genauso, wie er mich haßt. Und an manchen Tagen noch mehr. Also sehen Sie, Sie sind nicht allein.«

»So viele Leute versuchen, ihn umzubringen«, flüsterte sie zurück und verachtete sich dabei ob ihrer Schwäche. »Völlig Fremde … einer von ihnen wird am Ende auch Erfolg haben. Ich denke jetzt die ganze Zeit daran.« Würde es eine Bombe sein? Ein Gift? Ein Plasmabogen, der Arals Gesicht wegbrannte und nicht einmal Lippen übrigließ, die sie zum Abschied küssen könnte?

Koudelkas Aufmerksamkeit wurde schmerzlich von seinem Kummer auf den ihren gelenkt. Er zog irritiert seine Augenbrauen zusammen.

»O Kou«, sprach sie weiter und streichelte seinen Ärmel, »ganz gleich, wie weh es tut, tun Sie ihm das nicht an. Er liebt Sie … Sie sind wie ein Sohn für ihn, gerade die Art Sohn, die er immer wollte. Das«, sie deutete mit einem Nicken auf das Schwert, das auf der Couch lag und mehr glänzte als die Seide, »würde ihm das Herz zerschneiden. Diese Welt hier schüttet jeden Tag Wahnsinn über ihn aus und verlangt, daß er Gerechtigkeit zurückgibt. Er kann das nur mit einem ganzen Herzen tun. Oder er muß schließlich beginnen, den Wahnsinn zurückzugeben, wie jeder seiner Vorgänger. Und«, fügte sie in einem Ausbruch unkontrollierbarer Unlogik hinzu, »es ist so verdammt feucht hier! Es wird nicht meine Schuld sein, wenn mein Sohn mit Kiemen geboren wird!«

Seine Arme umfaßten sie in einer gütigen Umarmung. »Haben Sie … Angst vor der Geburt?« fragte er, mit einer zarten und unerwarteten Empfindsamkeit.

Cordelia verstummte, plötzlich konfrontiert mit ihren fest unterdrückten Ängsten. »Ich vertraue euren Ärzten nicht«, gab sie unsicher zu.

Er lächelte in bitterer Ironie: »Dafür kann ich Sie nicht tadeln.«

Ein Lachen stieg in ihr auf, sie erwiderte seine Umarmung und hob die Hand, um die winzigen Bluttropfen von der Seite seines Halses zu wischen. »Wenn man jemanden liebt, dann ist es, als ob die eigene Haut die des anderen bedeckt. Jede Wunde ist doppelt. Und ich liebe Sie so, Koudelka. Ich wünschte, Sie ließen mich Ihnen helfen.«

»Therapie, Cordelia?« Vorkosigans Stimme war kalt und schneidend wie ein herabprasselnder Hagelschauer. Sie blickte überrascht auf und sah ihn vor ihnen stehen mit einem Gesicht, das so kalt war wie seine Stimme.

»Mir wird bewußt, daß du eine hübsche Portion betanischer … Fachkenntnis in solchen Dingen hast, aber ich bitte dich, dieses Vorhaben jemandem anderen zu überlassen.«

Koudelka errötete und prallte von ihr zurück. »Sir«, begann er und verstummte dann, ebenso erschrocken wie Cordelia über den eisigen Zorn in Vorkosigans Augen. Vorkosigans Blick huschte über ihn hinweg, und sie preßten beide die Zähne aufeinander.

Cordelia atmete tief ein und wollte etwas erwidern, aber sie gab nur ein wütendes »Oh!« gegen Vorkosigans Rücken von sich, als er sich umdrehte und hinausschritt, das Rückgrat steif wie Koudelkas Schwertklinge.

Koudelka, der noch rot im Gesicht war, zog sich von ihr zurück und stemmte sich auf die Beine, wobei er sein Schwert als Stütze verwendete und sein Atem zu schnell ging. »Mylady, ich bitte Sie um Verzeihung.«

Die Worte schienen ganz ohne Bedeutung.

»Kou«, sagte Cordelia, »Sie wissen, daß er es nicht so schlimm meinte. Er hat gesprochen, ohne zu denken. Ich bin sicher, er tut nicht, tut nicht …«

»Ja, ich sehe es ein«, erwiderte Koudelka mit ausdruckslosem Blick. »Man weiß allgemein, daß ich völlig ungefährlich bin für jedermanns Ehe, glaube ich. Aber wenn Sie mich entschuldigen wollen — Mylady — ich habe so etwas wie eine Arbeit zu erledigen.«

»Oh!« Cordelia wußte nicht, auf wen sie am meisten Wut hatte, auf Vorkosigan, Koudelka oder sich selbst. Erregt sprang sie auf und verließ den Raum, und über die Schulter rief sie zurück: »Verdammt, zur Hölle mit allen Barrayaranern!«

Droushnakovi begegnete ihr mit einem schüchternen »Mylady?«

»Und Sie, Sie nutzloses … Püppchen«, fauchte Cordelia, deren Wut sich jetzt hilflos in alle Richtungen entlud. »Warum können Sie Ihre eigenen Angelegenheiten nicht regeln? Ihr barrayaranischen Frauen scheint zu erwarten, daß man euch euer Leben auf einem Tablett serviert. So funktioniert das nicht!«

Das Mädchen wich verwirrt einen Schritt zurück. Cordelia zügelte ihren Ausbruch und fragte vernünftiger: »Wohin ist Aral gegangen?«

»Warum … nach oben, denke ich, Mylady.«

Ein Anflug ihres alten und arg mitgenommenen Humors kam jetzt Cordelia zu Hilfe: »Und hat er zufällig zwei Stufen auf einmal genommen?«

»Hm … tatsächlich drei«, erwiderte Drou zaghaft.

»Ich glaube, ich sollte besser gehen und mit ihm reden«, sagte Cordelia und fuhr sich mit den Händen durch ihr Haar. Sie fragte sich, ob es irgendeinen praktischen Nutzen hätte, wenn sie sich ihre Haare ausreißen würde. »Scheißkerl.« Sie wußte selbst nicht, ob dies als Kraftausdruck oder als Beschreibung gemeint war. Und wenn ich daran denke, daß ich nie geflucht habe.

Sie trottete hinter ihm her, und während sie die Treppe hinaufstieg, versickerte ihre Wut zusammen mit ihrer Energie. Diese Schwangerschaftssache macht mich gewiß langsam.

Sie kam an einem Wachtposten im Korridor vorbei. »Wohin ist Lord Vorkosigan gegangen?«, fragte sie ihn.

»In seine Räume, Mylady«, antwortete der Mann und blickte ihr neugierig nach. Großartig. Das hab ich gern, dachte sie wütend. Der erste echte Streit der alten Jungvermählten wird eine Menge automatischer Zuhörer haben. Diese alten Wände sind nicht schalldicht. Ich bin gespannt, ob ich meine Lautstärke mäßigen kann. Aral hat da keine Probleme: wenn er wild wird, dann flüstert er.

Sie betrat ihrer beider Schlafzimmer und fand ihn, wie er auf der Seite des Bettes saß und mit heftigen, ruckartigen Bewegungen sich seiner Uniformjacke und seiner Stiefel entledigte. Er blickte auf, und sie starrten einander wütend an. Cordelia eröffnete das Feuer, wobei Sie dachte: Bringen wir es hinter uns.

»Diese Bemerkung, die du vor Koudelka gemacht hast, war völlig fehl am Platz.«

»Was, ich komme herein und finde meine Frau, wie sie … mit einem meiner Offiziere schmust, und du erwartest, daß ich höfliche Konversation über das Wetter mache?«, erwiderte er.

»Du weißt, daß es nichts derartiges war.«

»Schön. Und wenn es nicht ich gewesen wäre? Wenn es einer von der Wache gewesen wäre, oder mein Vater. Wie hättest du es dann erklärt? Du weißt, was sie über die Betaner denken. Das wäre ein gefundenes Fressen für sie gewesen, und man hätte die Gerüchte nicht mehr aufhalten können. Und dann wäre es als politischer Tratsch wieder auf mich zurückgefallen. Jeder Feind, den ich dort draußen habe, wartet nur auf einen schwachen Punkt, um darauf loszugehen. Sie hätten so etwas gern.«

»Wie, zum Teufel, sind wir auf deine verdammte Politik gekommen? Ich spreche über einen Freund. Ich bezweifle, daß du mit einer noch verletzenderen Bemerkung hättest daherkommen können, wenn du ein Studienprojekt dafür finanziert hättest. Das war gemein, Aral! Was ist überhaupt mit dir los?«

»Ich weiß es nicht.« Er rieb sich müde sein Gesicht. »Es ist der verdammte Job, nehme ich an. Ich möchte es nicht auf dich abladen.«

Cordelia vermutete, daß diese Aussage einem Eingeständnis, daß er unrecht hatte, so nahe kam, wie sie gerade noch erwarten durfte, und sie akzeptierte sie mit einem leichten Nicken. Dabei ließ sie ihre eigene Wut verrauchen. Dann erinnerte sie sich, warum die Wut ihr so gut getan hatte, denn die Leere, die sie hinterließ, füllte sich wieder mit Angst.

»Ja, also gut … wieviel Lust hast du eigentlich darauf, eines Morgens seine Tür aufbrechen zu müssen?«

Vorkosigan runzelte die Stirn und wurde still. »Hast du … einen Grund zu der Annahme, daß er Selbstmordgedanken hegt? Er schien mir ganz zufrieden zu sein.«

»Das schien er — dir.« Cordelia ließ die Worte einen Moment im Raum stehen, um ihnen Nachdruck zu verleihen. »Ich denke, er ist etwa so nahe daran.« Sie hielt ihre Hand hoch, Daumen und Zeigefinger knapp einen Millimeter auseinander. Am Zeigefinger klebte noch ein bißchen Blut, sie blickte darauf mit trauriger Faszination.

»Er hat mit diesem verdammten Schwert herumgespielt. Ich wünsche mir, ich hätte es ihm nie geschenkt. Ich denke, ich könnte es nicht ertragen, wenn er sich damit seine eigene Kehle durchschneidet. Das — schien es zu sein, woran er dachte.«

»Oh.« Vorkosigan sah irgendwie kleiner aus, ohne seine glitzernde Militärjacke, ohne seinen Zorn. Er hielt ihr seine Hand entgegen, sie nahm sie und setzte sich neben ihn.

»Also, wenn du in diesem deinem … Dickschädel Visionen hast, König Arthur zu spielen gegenüber uns, Lancelot und Guinevere, dann vergiß es. Das zieht nicht.«

Er lachte endlich ein bißchen. »Meine Visionen waren näher an meinem Heim, fürchte ich, und beträchtlich schäbiger. Einfach ein alter schlechter Traum.«

»Ja, ich … nehme an, es traf einen Nerv, obendrein.« Sie fragte sich, ob der Geist seiner ersten Frau sich je bei ihm aufhielt und ihn mit Todeskälte anhauchte, wie es Vorrutyers Gespenst manchmal bei ihr tat. Er schaute totenähnlich genug aus. »Aber ich bin Cordelia, denk daran. Nicht … irgend jemand anderer.«

Er lehnte seine Stirn gegen die ihre. »Vergib mir, lieber Captain. Ich bin nur ein häßlicher, verängstigter alter Mann, und ich werde jeden Tag älter und häßlicher und furchtsamer.«

»Du auch?« Sie ruhte in seinen Armen. »Ich protestiere jedoch gegen die Ausdrücke alt und häßlich. Dickschädel bezog sich nicht auf deine äußere Erscheinung.«

»Danke sehr — ich beherzige es.«

Es gefiel ihr, ihn wenigstens ein bißchen zu belustigen. »Es ist der Job, nicht wahr?«, sagte sie. »Kannst du darüber überhaupt sprechen?«

Er preßte seine Lippen aufeinander. »Im Vertrauen — obwohl das dein natürlicher Zustand zu sein scheint, weiß ich nicht, warum ich mich damit aufhalte, es zu betonen — es sieht aus, als wären wir noch vor dem Ende des Jahres in einen neuen Krieg verwickelt. Und wir haben uns noch nicht einmal richtig erholt, nach Escobar.«

»Was! Ich dachte, die Kriegspartei wäre halb gelähmt.«

»Unsere schon. Die der Cetagandaner ist jedoch noch in gut funktionierendem Zustand. Unser Nachrichtendienst hat Hinweise, daß sie planten, das politische Chaos, das hier auf Ezar Vorbarras Tod folgen sollte, auszunutzen, um einen Zugriff auf jene umstrittenen Wurmloch-Sprungpunkte zu verbergen. Statt dessen bekamen sie mich und — nun ja, ich kann es wohl kaum Stabilität nennen, bestenfalls dynamisches Gleichgewicht. Jedenfalls nicht die Art von Zerrüttung, auf die sie gezählt hatten. Daher der kleine Vorfall mit der Schallgranate. Negri und Illyan sind sich jetzt zu siebzig Prozent sicher, das dies das Werk der Cetagandaner war.«

»Werden sie es … noch einmal versuchen?«

»Fast sicher. Aber ob mit mir oder ohne mich, im Stab ist man der einhelligen Meinung, daß sie vor Ende des Jahres in großer Zahl hier eindringen werden. Und wenn wir schwach sind — dann werden sie sich einfach weiter voranbewegen, bis sie gestoppt werden.«

»Kein Wunder, daß du so … geistesabwesend gewesen bist.«

»Ist das der höfliche Ausdruck dafür? Aber nein. Ich habe schon seit einiger Zeit über die Cetagandaner Bescheid gewußt. Etwas anderes kam heute zur Sprache, nach der Ratssitzung. Eine private Audienz. Graf Vorhalas kam zu mir, um eine Gunst zu erbitten.«

»Ich hätte gedacht, es würde dir ein Vergnügen bereiten, dem Bruder von Rulf Vorhalas einen Gefallen zu tun. Aber dem ist wohl nicht so?«

Er schüttelte unglücklich den Kopf. »Der jüngste Sohn des Grafen, ein hitzköpfiger junger Narr von achtzehn, den man auf eine Militärschule hätte schicken sollen — wie ich mich erinnere, hast du ihn bei der Ratssitzung zur Eidesleistung getroffen …«

»Lord Carl?«

»Ja. Er ist gestern abend bei einer Party in einen Streit zwischen Betrunkenen geraten.«

»Das ist eine universelle Tradition. Solche Dinge geschehen sogar auf Kolonie Beta.«

»Ganz richtig. Aber sie gingen nach draußen, um ihre Sache mit Waffen zu regeln, jeder von beiden, mit einem Paar stumpfer Schwerter, die Teil der Wanddekoration gewesen waren, und einigen Küchenmessern. Das machte das ganze genaugenommen zu einem Duell mit den zwei Schwertern.«

»O je. Ist dabei jemand verletzt worden?«

»Unglücklicherweise ja. Mehr oder weniger zufällig, nach dem, was ich gehört habe, fiel der Sohn des Grafen bei der Rauferei hin und brachte es dabei fertig, sein Schwert seinem Freund in den Bauch zu stoßen und ihm die Unterleibsaorta zu durchtrennen. Der Freund ist fast auf der Stelle verblutet. Als die Zuschauer endlich genügend zur Vernunft gekommen waren, um einen Notarzt zu holen, da war es schon viel zu spät.«

»Du lieber Gott!«

»Es war ein Duell, Cordelia. Es begann als eine Nachahmung, aber es endete in der Realität. Und deshalb gelten die Strafen für ein Duell.« Er stand auf und durchschritt dem Raum, hielt am Fenster inne und starrte hinaus in den Regen. »Sein Vater kam und bat mich um eine kaiserliche Begnadigung. Oder, falls ich die nicht gewähren könnte, ob ich nicht dafür sorgen könnte, daß die Anklage auf Totschlag abgeändert wird.

Wenn das ganze als Totschlag verhandelt würde, dann könnte der Junge auf Notwehr plädieren und käme mit einer bloßen Gefängnisstrafe davon.«

»Das scheint … ziemlich fair, nehme ich an.«

»Ja.« Er ging wieder auf und ab. »Eine Gefälligkeit für einen Freund. Oder … der erste Spalt in der Tür, um diese teuflische Sitte wieder in unsere Gesellschaft zurückkehren zu lassen. Was geschieht, wenn der nächste Fall mir vorgetragen wird, und dann der nächste, und wieder der nächste? Wo fange ich an, die Grenze zu ziehen? Was ist, wenn der nächste Fall einen meiner politischen Feinde betrifft, und nicht ein Mitglied meiner eigenen Partei? Sollen all die Toten, die es gekostet hat, diese Sache auszurotten, umsonst gestorben sein? Ich erinnere mich an die Duelle und wie damals alles war. Und schlimmer — ein Ansatzpunkt für eine Regierung durch Freunde, dann durch Cliquen. Man kann über Ezar Vorbarra sagen, was man will, in dreißig Jahren rücksichtloser Arbeit hat er die Regierung von einem Club der Vor-Klasse in so etwas wie eine Herrschaft des Gesetzes umgewandelt, ein Gesetz für alle.«

»Ich fange an, das Problem zu sehen.«

»Und ich — unter all den Männern muß ich diese Entscheidung treffen! Der ich vor zweiundzwanzig Jahren für genau das gleiche Verbrechen hätte öffentlich hingerichtet werden sollen!« Er blieb vor ihr stehen. »Die Geschichte von dem Vorfall gestern abend ist heute morgen in verschiedenen Varianten schon in der ganzen Stadt verbreitet. In ein paar Tagen wird sie überall bekannt sein. Ich ließ sie vom Informationsdienst unterdrücken, vorläufig, aber das war wie Spucken gegen den Wind. Es ist zu spät, um das Ganze zu vertuschen, selbst wenn ich das tun wollte. Also wen soll ich jetzt verraten? Einen Freund? Oder Ezar Vorbarras Vertrauen? Es gibt keinen Zweifel, welche Entscheidung er gefällt hätte.«

Er setzte sich wieder neben sie und nahm sie in die Arme. »Und das ist erst der Anfang. Jeden Monat, jede Woche wird es wieder irgendeine unmögliche Sache geben. Was wird von mir übrigbleiben, wenn das fünfzehn Jahre lang so weitergeht? Eine leere Hülle, wie das Ding, das wir vor drei Monaten beerdigt haben, nachdem wir bei seinem letzten Atemzug darum beteten, daß es keinen Gott geben möge? Oder eine von der Macht korrumpierte Monstrosität wie sein Sohn, der so infiziert war, daß er nur durch einen Plasmabogen sterilisiert werden konnte? Oder etwas noch Schlimmeres?«

Seine unverhüllte Qual erschreckte sie. Als Antwort hielt sie ihn fest umschlungen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Aber irgend jemand … irgend jemand hat schon immer diese Art von Entscheidungen getroffen, während wir in glücklicher Unwissenheit dahinspazierten und die Welt als gegeben nahmen. Und dieser Jemand war auch nur ein Mensch. Nicht besser, nicht schlechter als du.«

»Ein erschreckender Gedanke.«

Sie seufzte. »Du kannst nicht im Dunkeln mit Hilfe der Logik zwischen zwei Übeln wählen. Du kannst dich nur an die Sicherheitslinie eines Prinzips halten. Ich kann nicht deine Entscheidung treffen. Aber welche Prinzipien auch immer du jetzt wählst, die werden deine Sicherheitslinien sein, die dich voranbringen. Und um deines Volkes willen müssen sie konsequent sein.«

Er ruhte in ihren Armen. »Ich weiß. Es gab eigentlich keine wirkliche Frage über diese Entscheidung. Ich habe nur … noch ein bißchen um mich geschlagen, während ich zu Boden ging.« Er löste sich von ihr und stand wieder auf. »Lieber Captain, wenn ich in fünfzehn Jahren noch bei gesundem Verstand bin, dann wird das, glaube ich, dein Werk sein.«

Sie schaute zu ihm empor. »Und wie lautet deine Entscheidung?«

Die Qual in seinen Augen gab ihr die Antwort.

»O nein«, sagte sie unwillkürlich, dann biß sie sich auf die Lippe. Und ich habe versucht, so weise zu sprechen. Ich habe aber nicht das gemeint.

»Weißt du?«, sagte er sanft, resigniert. »Ezars Methode ist die einzige, die hier funktionieren kann. Letztlich stimmt es. Er herrscht noch von seinem Grab aus.« Er machte sich auf den Weg zum Bad, um sich zu waschen und die Kleider zu wechseln.

»Aber du bist nicht er«, flüsterte sie in den leeren Raum. »Kannst du nicht deine eigene Methode finden?«

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