KAPITEL 18

In der Stunde vor der Morgendämmerung war es in den Gassen der Karawanserei nicht so pechrabenschwarz wie in der Nacht in den Bergen. Der neblige Nachthimmel reflektierte ein schwaches gelbliches Glühen von der Stadt ringsum. Die Gesichter ihrer Freunde waren grau und verschwommen, wie auf den allerfrühesten der alten Photographien. Cordelia versuchte nicht zu denken: Wie die Gesichter von Toten.

Lady Vorpatril, gewaschen, gesättigt und ein paar Stunden ausgeruht, war zwar noch nicht allzu fest auf den Beinen, aber sie konnte alleine laufen.

Die Hausdame hatte ein paar überraschend unauffällige Kleider für sie beigesteuert, einen knöchellangen grauen Rock und ein paar Pullover gegen die Kälte. Koudelka hatte alle seine Militärsachen gegen eine weite Hose, alte Schuhe und eine Jacke ausgetauscht, letztere war der Ersatz für die Jacke, die durch ihren geburtshilflichen Einsatz unbrauchbar geworden war. Er trug das Baby, Lord Ivan, das jetzt mit provisorischen Windeln ausgestattet und warm eingepackt war und so das Bild einer scheuen kleinen Familie abrundete, die versuchte, sich aus der Stadt davonzumachen zu den Eltern der Frau auf dem Lande, bevor die Kämpfe begannen. Cordelia hatte Hunderte von Flüchtlingen genau wie sie vorüberziehen sehen, als sie nach Vorbarr Sultana unterwegs gewesen war.

Koudelka inspizierte seine kleine Gruppe und warf zuletzt einen kritischen Blick auf den Stockdegen in seiner Hand. Selbst wenn der nur als bloßer Gehstock gesehen wurde, dann sahen das Satinholz, die Stockzwinge aus poliertem Stahl und der mit Einlegearbeiten verzierte Griff nicht sehr nach Mittelklasse aus. Koudelka seufzte. »Drou, kannst du ihn irgendwie verstecken? Er ist höllisch auffällig bei dieser Verkleidung, und außerdem mehr Hindernis als Hilfe, wenn ich versuche, dieses Baby zu tragen.«

Droushnakovi nickte, kniete nieder und wickelte den Stock in ein Hemd und stopfte ihn in den Ranzen. Cordelia erinnerte sich daran, was das letztemal geschehen war, als Kou diesen Stock in die Karawanserei gebracht hatte, und sie blickte nervös in die Schatten. »Wie wahrscheinlich ist es, daß wir um diese Zeit von jemandem überfallen werden? Wir sehen sicherlich nicht reich aus.«

»Einige Leute würden Sie schon wegen Ihrer Kleider umbringen«, sagte Bothari düster, »wenn jetzt der Winter naht. Aber es ist sicherer als gewöhnlich. Vordarians Truppen haben dieses Viertel nach ›Freiwilligen‹ durchkämmt, die helfen sollen, diese Bombenunterstände in den Stadtparks zu graben.«

»Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal Sklavenarbeit gutheißen würde«, stöhnte Cordelia.

»Es sowieso Unsinn«, sagte Koudelka, »die Parks aufzureißen. Selbst wenn diese Arbeiten fertiggestellt würden, könnten da nicht genügend Menschen Schutz finden. Aber es sieht eindrucksvoll aus, und es prägt Lord Vorkosigan als Bedrohung in das Bewußtsein der Leute ein.«

»Außerdem«, Bothari hob seine Jacke, um das silberne Schimmern seines Nervendisruptors zu zeigen, »diesmal habe ich die richtige Waffe dabei.«

Das war’s dann. Cordelia umarmte Alys Vorpatril, die diese Umarmung erwiderte und murmelte: »Gott helfe dir, Cordelia. Und Gott lasse Vidal Vordarian in der Hölle schmoren.«

»Gute Reise. Ich sehe dich dann wieder auf Basis Ta-nery nicht wahr?« Cordelia blickte auf Koudelka. »Lebendig, und, zum Teufel, mit unseren Feinden.«

»Wir werden ver… wir werden es schaffen, Mylady«, sagte Koudelka. Ernst salutierte er vor Droushnakovi.

Es war keine Ironie in dieser militärischen Höflichkeitsbezeugung, jedoch vielleicht ein letzter Hauch von Neid. Sie erwiderte seinen Gruß mit einem langsamen, verständnisvollen Nicken. Keiner von beiden wollte den Augenblick durch weitere Worte stören. Die beiden Gruppen trennten sich in der feuchtkalten Finsternis. Drou beobachtete über ihre Schulter Koudelka und Lady Vorpatril, bis beide außer Sicht waren, dann setzte sie sich in Bewegung.

Sie kamen von dunklen Gassen in beleuchtete Straßen, von menschenleerer Dunkelheit zu gelegentlichen Gestalten anderer Menschen, die eilig ihren Geschäften an einem frühen Wintermorgen zustrebten. Jeder schien die Straßen zu überqueren, um jedem anderen aus dem Weg zu gehen, und Cordelia kam sich ein bißchen weniger auffällig vor. Sie erstarrte innerlich, als ein Bodenwagen der Stadtwache langsam an ihnen vorbeifuhr, aber er hielt nicht an.

Sie machten auf der anderen Straßenseite eine Pause, um sicher zu sein, daß das Haus, dem sie zustrebten, schon für den Morgen geöffnet war. Es war ein vielstöckiges Gebäude in dem zweckmäßigen Stil des Baubooms, der im Gefolge von Ezar Vorbarras Machtergreifung und der damit verbundenen Stabilität vor etwas mehr als dreißig Jahren ausgebrochen war. Es war ein Geschäftsgebäude, keine Regierungseinrichtung, sie durchquerten die Lobby, betraten die Liftröhre und fuhren ungehindert hinab.

Drou blickte wachsam über die Schulter, als sie das Subbasement erreichten. »Jetzt erscheinen wir fehl am Platze.« Bothari hielt Wache, als sie sich bückte und ein Schloß zu einem Versorgungstunnel aufbrach. Der Gang wurde offensichtlich oft benutzt, da die Lichter anblieben. Cordelia spitzte ihre Ohren nach anderen Schritten als den ihren.

Ein Einstiegsdeckel war an den Boden geschraubt. Droushnakovi lockerte ihn schnell. »Laßt euch hängen und fallen. Es ist nicht viel mehr als zwei Meter, Es wird wahrscheinlich naß sein.«

Cordelia glitt in den dunklen Kreis und landete mit einem Platschen. Sie schaltete ihr Handlicht an. Das Wasser reichte in dem Rohr aus Synthabeton bis zu den Knöcheln ihrer Stiefel, glitschig, schwarz und schimmernd. Es war eiskalt. Bothari folgte. Drou kniete sich auf seine Schultern, um den Deckel wieder an seinen Platz zu rücken und kam dann platschend neben Cordelia herab. »Dieser Abwasserkanal für Gewitterregen ist ungefähr einen halben Kilometer lang. Kommt weiter!«, flüsterte sie. So nah an ihrem Ziel mußte Cordelia niemand zur Eile drängen.

Nach dem halben Kilometer kletterten sie in eine dunkle Öffnung, hoch an der gewölbten Wand, und kamen zu einem viel älteren und kleineren Tunnel aus Backsteinen, die das Alter geschwärzt hatte. Knie und Rücken gebeugt, schlurften sie dahin. Das mußte für Bothari besonders schmerzvoll sein, überlegte Cordelia. Drou wurde langsamer und begann mit der Stahlzwinge von Koudelkas Stock an das Tunneldach zu klopfen.

Als aus dem ›Tick, tick‹ ein hohles ›Tock, tock‹ wurde, hielt sie an.

»Hier. Es geht nach unten auf. Achtung!« Sie zog das Schwert aus der Scheide und schob die Klinge sorgfältig zwischen eine Reihe von glitschigen Ziegeln. Es gab ein Klicken und das mit falschen Ziegeln besetzte Paneel klappte nach unten und krachte fast auf ihren Kopf. Sie steckte das Schwert wieder in seine Hülle. »Hinauf!« Sie zog sich selber hindurch.

Sie folgten und fanden sich in einem weiteren Abwasserkanal, der noch enger war. Er führte ziemlich steil nach oben. Sie gingen geduckt voran und streiften mit ihrer Kleidung an den Seitenwänden. Drou erhob sich plötzlich und kletterte über einen Haufen zerbrochener Ziegel in einen dunklen, mit Säulen versehenen Raum.

»Was ist das?«, flüsterte Cordelia. »Zu groß für einen Tunnel …«

»Die alten Ställe«, flüsterte Drou zurück. »Wir sind jetzt unter dem Boden der Residenz.«

»Das klingt für mich nicht so geheim. Sicherlich müssen sie auf alten Zeichnungen und Aufrissen erscheinen. Leute — der Sicherheitsdienst — müssen wissen, daß es das hier gibt.« Cordelia blickte in die düsteren, modrigen Nischen, vorbei an bleichen Bögen, die von ihren flackernden Handlichtern hervorgehoben wurden.

»Ja, aber das ist der Keller der alten alten Ställe. Nicht die von Dorca, sondern von Dorcas Großonkel. Er hielt über dreihundert Pferde. Die Ställe brannten von etwa zweihundert Jahren in einem spektakulären Feuer ab, und anstatt sie an dieser Stelle wieder aufzubauen, ebnete man sie ein und errichtete die neuen alten Ställe auf der Ostseite, auf der dem Wind abgekehrten Seite. Die wurden dann in Dorcas Tagen zu Bedienstetenwohnungen umgewandelt. Die meisten der Geiseln werden jetzt dort gefangen gehalten.« Drou schritt entschlossen voran, als befinde sie sich jetzt auf ihrem eigenen Territorium. »Wir sind jetzt im Norden des Hauptgebäudes der Residenz, unter den von Ezar entworfenen Gärten.

Ezar fand anscheinend diesen alten Keller und richtete diesen Gang vor dreißig Jahren mit Negri ein. Ein Schlupfloch, von dem selbst ihr eigener Sicherheitsdienst nichts wußte. Das ist Vertrauen, was?«

»Danke, Ezar«, murmelte Cordelia sarkastisch.

»Sobald wir aus Ezars Geheimgang heraus sind, wird es wirklich riskant«, erklärte das Mädchen.

Ja, jetzt konnten sie noch aus der Sache aussteigen, ihren eigenen Spuren zurück folgen, und dann wären sie nicht klüger als zuvor. Warum haben diese Leute so unbekümmert mir das Recht übertragen, ihr Leben zu riskieren? Gott, ich hasse es, zu befehlen. Irgend etwas hüpfte in der Dunkelheit, und irgendwo tropfte Wasser.

»Hier«, sagte Droushnakovi und richtete ihr Licht auf einen Stapel Kisten, »Ezars Geheimlager. Kleider, Waffen, Geld — Oberst Negri hatte mich gerade im letzten Jahr auch ein paar Frauen- und Kinderkleider dazugeben lassen, zur Zeit der Invasion in Escobar. Er war damals nervös wegen der Konflikte, die damit verbunden waren, aber die Unruhen kamen nicht bis hierher. Meine Kleider dürften allerdings ein bißchen groß für Sie sein.«

Sie legten ihre schlammverschmierten Straßenkleider ab. Droushnakovi holte saubere Kleider heraus, die für weibliche Bedienstete der Residenz taugten, deren Rang für die Uniformen des niederen Personals zu hoch war, sie selbst hatte sie bei genau diesem Dienst getragen. Bothari packte seine schwarze Arbeitsuniform wieder aus dem Ranzen, legte sie an und fügte die korrekten Abzeichen des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes hinzu.

Aus der Entfernung wirkte er wie ein echter Wachmann, obwohl er vielleicht etwas zu zerknittert war, um eine Inspektion aus der Nähe zu bestehen. Wie Drou versprochen hatte, lag eine komplette Auswahl von Waffen voll geladen in versiegelten Kästen. Cordelia wählte einen frischen Betäuber, ebenso Drou. Ihre Blicke begegneten sich. »Kein Zögern diesmal, ja?«, murmelte Cordelia. Drou nickte grimmig. Bothari nahm von jeder Waffenart ein Exemplar, Betäuber, Nervendisruptor und Plasmabogen. Cordelia hoffte, er würde nicht klappern, wenn er ging.

»Sie können das Ding aber nicht innerhalb des Gebäudes abfeuern«, protestierte Droushnakovi mit Blick auf den Plasmabogen.

»Man weiß nie«, sagte Bothari mit einem Achselzucken.

Nach einem Augenblick der Überlegung fügte Cordelia den Stockdegen hinzu und befestigte seinen Griff an einer Schlaufe ihres Gürtels. Er war keine ernsthafte Waffe, aber es hatte sich als unerwartet nützliches Gerät auf dieser Reise erwiesen. Ein Glücksbringer! Dann holte Cordelia aus den letzten Tiefen des Ranzens das, was sie für die mächtigste Waffe von allen hielt.

»Ein Schuh?«, sagte Droushnakovi verständnislos.

»Gregors Schuh. Für den Fall, daß wir Kareen begegnen. Ich nehme an, daß sie den anderen noch hat.« Cordelia versteckte ihn tief in der inneren Tasche eines von Drous Boleros mit dem Wappen der Vorbarras, den sie über ihren Kleidern trug, um so das Bild einer Bediensteten der inneren Residenz zu vervollständigen.

Als sie ihre Vorbereitungen so weit wie möglich abgeschlossen hatten, führte Drou sie wieder in die dunkle Enge. »Jetzt sind wir direkt unter der Residenz«, flüsterte sie und wandte sich seitwärts. »Wir steigen diese Leiter zwischen den Wänden hoch. Sie wurde erst später hinzugefügt, und deshalb ist hier nicht viel Platz.«

Dies stellte sich als Untertreibung heraus. Cordelia holte Atem und kletterte hinter Drou her, flach eingeklemmt zwischen zwei Wänden, und bemühte sich, nicht anzustoßen oder dagegenzubumsen. Die Leiter war natürlich aus Holz gemacht. In ihrem Kopf pochte es vor Erschöpfung und Adrenalin. In Gedanken maß sie die Breite des Schachtes. Mit dem Uterusreplikator diese Leiter wieder hinabzuklettern würde eine heikle Sache werden. Sie ermahnte sich selbst hartnäckig, positiv zu denken, dann entschied sie, daß dies positiv war. Warum tue ich das? Ich könnte genau jetzt auf Basis Tannery bei Aral sein und es diesen Barrayaranern überlassen, sich den ganzen Tag lang gegenseitig umzubringen, wenn ihnen das Vergnügen bereitet

Über ihr trat Drou zur Seite auf eine Art kleinen Sims, ein bloßes Brett. Als Cordelia neben ihr heraufkam, machte sie eine Geste ›Halt!‹ und löschte ihr Handlicht aus. Drou berührte einen lautlosen Schnappschloßmechanismus, und ein Wandpaneel schwang vor ihnen nach außen. Offensichtlich war alles bis zu Ezars Tod gut geölt gehalten worden.

Sie blickten hinaus in das Schlafzimmer des alten Kaisers. Sie hatten erwartet, daß es leer wäre. Drous Mund öffnete sich in einem stimmlosen O der Bestürzung und des Schreckens.

Ezars riesiges altes geschnitztes Holzbett, dasselbe, in dem er — um Gottes willen! — gestorben war, war belegt. Ein abgeschirmtes Licht, zu einem gelben Glühen gedämpft, warf Licht und Schatten über zwei nackte schlafende Gestalten. Selbst aus dieser perspektivisch verzerrten Sicht erkannte Cordelia sofort das Tellergesicht und den Schnurrbart von Vidal Vordarian. Er lag ausgebreitet über vier Fünfteln des Bettes, sein schwerer Arm lag besitzergreifend auf Prinzessin Kareen. Ihr schwarzes Haar floß über das Kissen. Sie schlief zu einer kleinen, festen Kugel zusammengerollt in der oberen Ecke des Bettes, mit dem Gesicht nach außen und den weißen Armen vor der Brust zusammengezogen, und es sah fast so aus, als würde sie im nächsten Augenblick aus dem Bett fallen.

Nun gut, wir haben Kareen erreicht. Aber die Sache hat einen Haken.

Cordelia zitterte in dem Impuls, Vordarian im Schlaf zu erschießen. Aber die Energieentladung würde Alarm auslösen. Solange sie nicht Miles’ Replikator in der Hand hatte, war sie nicht bereit, wegzulaufen. Sie bedeutete mit einer Bewegung Drou, die Geheimtür wieder zu schließen und hauchte »Hinunter!« zu Bothari, der unter ihr wartete. Sie wiederholten ihre anstrengende Kletterei über vier Stockwerke in umgekehrter Richtung. Wieder im Tunnel drehte sich Cordelia um und blickte das Mädchen an, das still weinte.

»Sie hat sich an ihn verkauft«, flüsterte Droushnakovi, und dabei zitterte ihre Stimme vor Kummer und Widerwillen.

»Wenn Sie mir erklären, welche Machtbasis sie Ihrer Vorstellung nach hat, um diesem Mann gerade jetzt zu widerstehen, dann wäre ich interessiert, davon zu hören«, sagte Cordelia schroff. »Was erwarten Sie von ihr? Daß sie sich zum Fenster hinausstürzt, um einem Schicksal zu entgehen, das angeblich schlimmer als der Tod ist? Sie hatte mit Serg ein Schicksal, das schlimmer war als der Tod, und ich glaube, so etwas weckt keine Emotionen mehr in ihr.«

»Aber wenn wir nur eher hierhergekommen wären, dann hätte ich — hätten wir sie vielleicht noch gerettet.«

»Wir könnten es immer noch.«

»Aber sie hat sich an ihn verkauft.«

»Lügen Leute in ihrem Schlaf?«, fragte Cordelia. Auf Drous verwirrten Blick erklärte sie: »Sie sah für mich nicht wie eine Liebende aus. Sie lag da wie eine Gefangene. Ich habe versprochen, wir würden uns für sie einsetzen, und das werden wir auch.« Die Zeit! »Aber wir bemühen uns zuerst um Miles. Versuchen wir den zweiten Ausgang.«

.»Wir werden durch mehr überwachte Korridore gehen müssen«, warnte Droushnakovi.

»Das können wir nicht ändern. Wenn wir warten, dann wird dieses Haus aufwachen und wir werden auf noch mehr Leute stoßen.«

»Sie kommen gerade jetzt zum Dienst in die Küchen«, seufzte Droushnakovi. »An manchen Tagen bin ich dort zu Kaffee und heißen Pasteten eingekehrt.«

Aber leider konnte man ein Kommandounternehmen nicht für eine Frühstückspause unterbrechen. Das war es. Loslegen oder nicht loslegen? War es Mut oder Dummheit, was sie vorantrieb? Es konnte nicht Mut sein, ihr war übel vor Furcht, der gleiche heiße saure Ekel, wie sie ihn kurz vor den Kämpfen im Krieg um Escobar empfunden hatte. Die Vertrautheit mit dieser Empfindung half ihr nicht. Wenn ich nicht handle, wird mein Kind sterben. Sie mußte einfach ohne Mut auskommen.

»Jetzt«, entschied Cordelia. »Es wird keine bessere Chance geben.«

Wieder die Leiter hinauf. Das zweite Paneel öffnete sich im Privatbüro des alten Kaisers. Zu Cordelias Erleichterung blieb es noch dunkel, unbenutzt und unberührt, seit es nach Ezars Tod im letzten Frühling aufgeräumt und abgesperrt worden war. Das Schaltpult seiner Kommunikationskonsole mit all ihren Sicherheitsvorkehrungen, war abgehängt, der Geheimnisse entleert, tot wie sein Besitzer. Die Fenster waren noch dunkel an diesem trägen Wintermorgen.

Kous Stock stieß gegen Cordelias Knöchel, als sie durch den Raum schritt. Er sah seltsam aus: er war an ihrer Taille zu offensichtlich wie ein Schwert befestigt. Auf einer Kommode befand sich ein breites, altes Tablett mit einer flachen Keramikschale, typisch für die Nippsachen, die überall in der Residenz herumstanden. Cordelia legte den Stock auf das Tablett und hob es feierlich hoch, nach Art einer Dienerin.

Droushnakovi nickte zustimmend. »Tragen Sie es auf halber Höhe zwischen Ihrer Taille und Ihrer Brust«, flüsterte sie, »und halten Sie Ihr Rückgrat gerade, wie man es mir immer gesagt hat.«

Cordelia nickte. Sie schlossen die Wandtäfelung, richteten sich auf und betraten den unteren Korridor des Nordflügels.

Zwei weibliche Bedienstete der Residenz und ein Sicherheitsmann. Auf den ersten Blick sahen sie in diesem Aufzug völlig natürlich aus, sogar in diesen unruhigen Zeiten. Ein Korporal, der am Fuß der Kleinen Treppe am Westende des Korridors Wache stand, nahm Haltung an, als er Botharis Sicherheits- und Rangabzeichen sah, sie salutierten voreinander. Die drei entfernten sich schon aus seinem Gesichtskreis, die Treppenbiegung hinauf, als er noch einmal genauer hinschaute. Cordelia zwang sich, nicht panisch loszurennen. Ein subtiler Fall von Irreführung: die beiden Frauen konnten keine Bedrohung bedeuten, denn sie wurden ja schon bewacht.

Daß ihr Wächter eine Bedrohung darstellen könnte, mochte dem Korporal noch für Minuten entgehen.

Sie bogen in den oberen Korridor ein. Da. Hinter dieser Tür, bewahrte Vordarian nach den Berichten der Loyalisten den erbeuteten Replikator auf. Direkt unter seinen Augen. Vielleicht als einen menschlichen Schild: jede Bombe, die auf Vordarians Quartier geworfen wurde, müßte ebenso den winzigen Miles töten. Hielt der Barrayaraner ihr geschädigtes Kind überhaupt für einen Menschen?

Ein weiterer Wächter stand vor dieser Tür. Er betrachtete sie mißtrauisch, seine Hand berührte seine Seitenwaffe. Cordelia und Droushnakovi gingen an ihm vorbei, ohne den Kopf zu wenden. Botharis militärischer Gruß ging fließend in einen Schlag gegen das Kinn des Mannes über, und dessen Kopf knallte gegen die Wand. Bothari fing den Wächter auf, bevor er zu Boden fiel. Sie rissen die Tür auf und schleiften den Mann nach drinnen, Bothari nahm seinen Platz auf dem Korridor ein. Drou schloß schweigend die Tür.

Cordelia bückte gehetzt in dem kleinen Raum umher und suchte nach automatischen Monitoren. Hier war früher vielleicht ein Schlafzimmer gewesen von der Art, wo die Leibdiener schliefen, um ihren Vor-Herren nahe zu sein, oder vielleicht eine ungewöhnlich große Garderobe, es gab nicht einmal ein Fenster, von dem aus man in irgendeinen langweiligen Innenhof hätte schauen können. Der tragbare Uterusreplikator stand auf einem tuchbedeckten Tisch genau in der Mitte des Raums. Seine Lichter glühten noch in beruhigendem Grün und Gelb. Noch kein alarmierendes Rot, das vor einer Fehlfunktion warnte. Als Cordelia das Gerät sah, entrang sich ihr ein Seufzer, halb aus Qual, halb aus Erleichterung.

Droushnakovi blickte unglücklich in dem Raum umher.

»Was ist los, Drou?«, flüsterte Cordelia.

»Zu einfach«, murmelte das Mädchen.

»Wir haben es noch nicht geschafft. Sagen Sie in einer Stunde ›einfach‹.« Sie leckte sich die Lippen, erschüttert durch geheime, unterbewußte Zustimmung zu Droushnakovis Einschätzung. Aber man konnte es nicht ändern. Den Replikator nehmen und abhauen.

Schnelligkeit, nicht Geheimhaltung, war jetzt ihre Hoffnung.

Sie setzte das Tablett auf dem Tisch ab, streckte die Hand nach dem Tragegriff des Replikators aus und hielt inne. Irgend etwas, irgend etwas stimmte nicht … sie blickte näher auf die Anzeigen. Der Monitor des Oxyge-nerators funktionierte überhaupt nicht. Obwohl sein Indikatorlicht grün leuchtete, wurde der Stand der Nährflüssigkeit mit 00.00 angezeigt.

Leer.

Cordelias Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Ihr Magen drehte sich um. Sie neigte sich noch näher an das Gerät und verschlang mit den Augen das ganze unlogische Durcheinander falscher Anzeigen. Der Alptraum, der sie verfolgt hatte, war plötzlich und schrecklich Wirklichkeit geworden — hatten sie den Inhalt auf den Boden geschüttet, in einen Abwasserkanal, in eine Toilette? War Miles schnell gestorben, aus Mitleid erschlagen, mit dem Absatz zermalmt, oder hatten sie das winzige Kind, seiner Lebensunterstützung beraubt, sich in Schmerzen zu Tode zucken lassen, während sie zuschauten? Vielleicht hatten sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, zuzuschauen …

Die Seriennummer. Schau auf die Seriennummer! Eine hoffnungslose Hoffnung, aber … sie zwang ihren verschwimmenden Blick zur Schärfe, ihre sich überschlagenden Gedanken zur Erinnerung. Sie hatte diese Nummer damals in Vaagens und Henris Labor nachdenklich befingert und dabei über dieses Stück Technologie und die ferne Welt, auf der es geschaffen worden ward, nachgesonnen — und diese Nummer hier stimmte nicht. Es war nicht derselbe Replikator, nicht der von Miles!

Einer der sechzehn anderen, als Köder für diese Falle benutzt.

Ihr sank das Herz. Wieviele andere Fallen waren gelegt? Sie sah sich verrückt von Replikator zu Replikator rennen, wie ein verzweifeltes Kind auf der Suche in einem grausamen Versteckspiel … Ich werde gleich verrückt.

Nein. Wo auch immer der echte Replikator sich befand, er war in der Nähe von Vordarians Person. Dessen war sie sicher. Sie kniete neben dem Tisch nieder und stützte für einen Moment ihren Kopf auf, um die blutleeren schwarzen Blasen zurückzudrängen, die ihren Blick trübten und ihrem Geist das Bewußtsein zu rauben drohten. Sie hob das Tuch hoch.

Da! Ein Drucksensor. War dies Vordarians eigene schlaue Idee? Raffiniert und tückisch. Drou bückte sich auf ihren Wink hin.

»Eine Falle«, flüsterte Cordelia. »Wenn man den Replikator hebt, dann wird der Alarm ausgelöst.«

»Wenn wir ihn lahmlegen …«

»Nein, verschwenden Sie daran keinen Gedanken. Das ist nur ein Köder. Nicht der richtige Replikator. Der hier ist leer, und man hat an den Kontrollen herumgepfuscht, um den Eindruck zu erwecken, daß er in Betrieb wäre.« Cordelia versuchte trotz des Pochens in ihrem Schädel klar zu denken. »Wir müssen den gleichen Weg zurückgehen. Wieder hinunter, und dann wieder hinauf. Ich hatte nicht erwartet, dort auf Vordarian zu stoßen. Aber ich garantiere, er wird wissen, wo Miles ist. Ein kleines altmodisches Verhör. Wir werden gegen die Zeit arbeiten. Wenn der Alarm losgeht …«

Schritte auf dem Korridor, dann folgten Rufe. Das zirpende Summen eines Schusses aus dem Betäuber. Fluchen. Bothari kam rückwärts durch die Tür. »Jetzt ist’s passiert. Sie haben uns entdeckt.«

Wenn der Alarm losgeht, dann ist alles vorbei, ergänzten Cordelias Gedanken in einem Schwindelgefühl des Verlustes. Kein Fenster, nur eine einzige Tür, und gerade hatten sie die Kontrolle über ihren einzigen Ausweg verloren. Vordarians Falle hatte schließlich doch funktioniert.

Vidal Vordarian soll in der Hölle schmoren …

Droushnakovi griff nach ihrem Betäuber. »Wir werden Sie nicht ausliefern, Mylady. Wir werden bis zum Ende kämpfen.«

»Unsinn«, versetzte Cordelia, »es gibt nichts, was unser Tod hier erkaufen würde, außer dem Tod von ein paar mehr von Vordarians Schlägern. Das ist sinnlos.«

»Sie meinen, wir sollten einfach aufgeben?«

»Der Ruhm des Selbstmords ist der Luxus der Unverantwortlichen. Wir geben nicht auf. Wir warten auf eine bessere Gelegenheit, um zu gewinnen. Die wir nicht wahrnehmen können, wenn wir betäubt oder von Nervenfeuer getroffen sind.« Natürlich, wenn dies der echte Replikator gewesen wäre, da auf dem Tisch … sie war jetzt wahnsinnig genug, das Leben dieser Leute für das Leben ihres Sohnes zu opfern, überlegte Cordelia reumütig, aber noch nicht verrückt genug, sie gegen nichts zu tauschen. Sie war noch keine Barrayaranerin geworden.

»Sie geben sich Vordarian als Geisel in die Hand«, warnte Bothari.

»Vordarian hält mich als Geisel, seit dem Tag, wo er Miles genommen hat«, sagte Cordelia traurig. »Das ändert nichts.«

Ein paar Minuten laut durch die Tür geführter Verhandlungen vollendeten ihre Kapitulation, obwohl die Nerven der Sicherheitsleute aufs äußerste gespannt waren. Sie warfen ihre Waffen hinaus. Die Wachen machten sicherheitshalber eine Überprüfung mit dem Energiescanner, dann drängten sich vier von ihnen in den kleinen Raum, um ihre neuen Gefangenen zu durchsuchen. Zwei weitere warteten zur Verstärkung draußen. Cordelia machte keine plötzlichen Bewegungen, um sie nicht zu verwirren. Einer der Wächter runzelte irritiert die Stirn, als der interessante Klumpen in Cordelias Weste sich als ein bloßer Kinderschuh herausstellte. Er legte ihn auf den Tisch neben das Tablett.

Der Kommandant, ein Mann in der kastanienbraungoldenen Livree der Vordarians, sprach in sein Kom-Link am Handgelenk. »Ja, wir sind hier sicher. Sagen Sie es Mylord. Nein, er hat gesagt, man solle ihn wecken. Wollen Sie erklären, warum Sie es nicht getan haben? Danke.«

Die Wachen führten sie nicht hinaus auf den Korridor, sondern warteten. Der noch bewußtlose Mann, den Bothari niedergeschlagen hatte, wurde hinausgeschleift. Die Wachen stellten Cordelia mit zur Wand ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen in eine Reihe mit Bothari und Droushnakovi. Sie war benommen vor lauter Verzweiflung. Aber Kareen würde irgendwann zu ihr kommen, selbst wenn Cordelia gefangen war. Mußte zu ihr kommen. Alles, was sie brauchte, waren dreißig Sekunden mit Kareen, vielleicht sogar weniger. Wenn ich Kareen begegne, bist du ein toter Mann, Vordarian. Du magst herumgehen und reden und Befehle geben und dir wochenlang deines Ablebens nicht bewußt sein, aber ich werde dein Schicksal so sicher besiegeln, wie du das meines Sohnes besiegelt hast.

Der Grund für das Warten erschien schließlich auf der Bildfläche: Vordarian selbst, in grünen Uniformhosen und Hausschuhen und mit nackter Brust, bahnte sich seinen Weg durch die Tür. Hinter ihm folgte Prinzessin Kareen, die sich in einen dunkelroten Morgenmantel aus Samt gehüllt hatte. Cordelias Herz pochte doppelt so schnell, jetzt?

»So, so. Die Falle hat funktioniert«, begann Vordarian selbstgefällig, fügte jedoch ein »Was?« echter Überraschung hinzu, als sich Cordelia von der Wand abstieß und sich umwandte, um ihn anzublicken. Ein Zeichen mit der Hand hielt einen der Wächter davon ab, sie wieder in ihre Stellung zurückzuschieben. Die Überraschung auf Vordarians Gesicht wich einem wölfischen Grinsen. »Mein Gott, hat das aber funktioniert! Ausgezeichnet! « Kareen, die hinter ihm stand, blickte in Bestürzung und Staunen auf Cordelia.

MEINE Falle hat funktioniert, dachte Cordelia, überwältigt von ihrer Gelegenheit. Schau mich nur an …

»Die Sache ist so, Mylord«, sagte der Livrierte keineswegs glücklich. »Es hat nicht funktioniert. Wir haben diese Gruppe nicht im Außenbereich der Residenz aufgespürt und dann ihren Weg verfolgt, sondern sie tauchten verdammt noch mal hier auf — ohne irgendeinen Alarm auszulösen. Das hätte nicht passieren dürfen. Wenn ich nicht vorbeigekommen wäre, um nach Roget zu suchen, hätten wir sie vielleicht nicht entdeckt.«

Vordarian zuckte die Achseln, viel zu erfreut von der Bedeutung seiner Beute, als daß er jetzt seine Zeit mit einem Tadel vertrödelt hätte. »Behandeln Sie das Püppchen da mit SchnellPenta«, er zeigte auf Droushnakovi, »und Sie werden meiner Meinung nach herausfinden, wie die hereinkamen. Sie hat im Sicherheitsdienst der Residenz gearbeitet.«

Droushnakovi warf über ihre Schulter einen finsteren Blick auf Prinzessin Kareen, gekränkt und anklagend, Kareen zog unbewußt den Morgenmantel enger um ihren Hals, ihre dunklen Augen blickten ebenso gekränkt und fragend.

»Nun gut«, sagte Vordarian, immer noch Cordelia anlächelnd, »hat Mylord Vorkosigan so wenig Truppen, daß er seine Frau schickt, um deren Arbeit zu tun? Wir können nicht verlieren.« Er lächelte seinen Wachen zu, die das Lächeln erwiderten.

Verdammt, ich wünsche mir, ich hätte diesen Flegel im Schlaf erschossen. »Was haben Sie mit meinem Sohn gemacht, Vordarian?«

Vordarian sagte durch seine Zähne: »Ein Weibsstück von einem anderen Planeten wird nie die Macht auf Barrayar gewinnen, indem sie intrigiert, um einem Mutanten die Kaiserherrschaft zu geben. Das garantiere ich.«

»Ist das jetzt die offizielle Linie? Ich will keine Macht. Ich bin nur dagegen, daß Idioten die Macht über mich haben.«

Hinter Vordarian zuckte Kareen mit den Lippen, ja, hören Sie mir zu, Kareen!

»Wo ist mein Sohn, Vordarian?«, wiederholte Cordelia hartnäckig.

»Er ist jetzt Kaiser Vidal«, bemerkte Kareen, während ihr Blick zwischen den beiden hin- und herging, »wenn er sich halten kann.«

»Das werde ich«, versprach Vordarian. »Aral Vorkosigan hat keinen besseren Anspruch aufgrund seines Blutes als ich selbst. Und ich werde schützen, wo Vorkosigans Partei versagt hat. Das echte Barrayar schützen und bewahren.« Er drehte den Kopf, anscheinend war diese Erklärung über seine Schulter an Kareen gerichtet.

»Wir haben nicht versagt«, flüsterte Cordelia und begegnete mit ihren Augen Kareens Blick. Jetzt. Sie hob den Schuh vom Tisch und streckte ihren Arm damit aus, Kareens Augen weiteten sich. Sie stürzte vor und griff danach. Cordelias Hand krampfte sich zusammen wie die Hand eines sterbenden Läufers, der den Stab in einem tödlichen Staffellauf weitergab.

Wilde Gewißheit loderte wie Feuer in ihrem Herzen auf. Jetzt habe ich dich, Vordarian. Die plötzliche Bewegung fand ein Echo in der Überraschung der Wachen. Kareen prüfte den Schuh mit leidenschaftlicher Gründlichkeit und drehte ihn in ihren Händen hin und her. Vordarian hob verblüfft seine Augenbrauen, dann zog er seine Aufmerksamkeit von Kareen ab und wandte sich an seinen livrierten Wachkommandanten.

»Wir werden diese Gefangenen alle drei hier in der Residenz festhalten. Ich werde persönlich an den Verhören mit SchnellPenta teilnehmen. Das ist eine spektakuläre Gelegenheit …«

Kareens Gesicht war, als sie wieder zu Cordelia blickte, furchtbar vor Hoffnung. Ja, dachte Cordelia. Du wurdest betrogen. Belogen. Dein Sohn lebt, du mußt dich wieder bewegen, denken und fühlen, nichts mehr von der wandelnden Stumpfheit eines toten Geistes jenseits aller Schmerzen. Was ich dir gebracht habe, ist kein Geschenk. Es ist ein Fluch.

»Kareen«, sagte Cordelia sanft, »wo ist mein Sohn?«

»Der Replikator ist auf einem Bord in dem eichernen Wandschrank, im Schlafzimmer des alten Kaisers«, erwiderte Kareen ruhig und blickte Cordelia fest in die Augen. »Und wo ist mein Sohn?«

Cordelias Herz schmolz in Dankbarkeit für ihren Fluch, den lebendigen Schmerz. »Sicher und wohlauf, wie ich ihn das letztemal gesehen habe, solange dieser Thronräuber«, sie machte mit ihrem Kopf einen Ruck in Richtung von Vordarian, »nicht herausfindet, wo. Du fehlst Gregor sehr. Er schickt dir liebe Grüße.« Ihre Worte waren wie Dornen, die in Kareens Leib getrieben wurden.

Das weckte Vordarians Aufmerksamkeit. »Gregor ist auf dem Grund eines Sees, getötet beim Absturz eines Fliegers mit dem Verräter Negri«, sagte er hart. »Die hinterhältigste Lüge ist die, die du zu hören wünschst. Paß auf dich auf, Mylady Kareen. Ich konnte ihn nicht retten, aber ich werde ihn rächen. Das verspreche ich dir.«

Ach nein, warte, Kareen. Cordelia biß sich auf die Lippen. Nicht hier. Zu gefährlich. Warte auf deine beste Gelegenheit. Warte wenigstens, bis der Mistkerl schläft — aber wenn selbst eine Betanerin zögerte, ihren Feind im Schlaf zu erschießen, um wieviel weniger eine Vor? Sie ist eine echte Vor …

Ein unfreundliches Lächeln kräuselte Kareens Lippen. Ihre Augen leuchteten. »Dieser Schuh war nie unter Wasser«, sagte sie sanft.

Cordelia hörte die mörderischen Untertöne wie eine Glocke läuten, Vordarian hörte anscheinend nur den Hauch eines mädchenhaften Kummers. Er blickte auf den Schuh, ohne dessen Botschaft zu begreifen, und schüttelte den Kopf, als müßte er ihn von statischen Störungen befreien. »Du wirst eines Tages einen anderen Sohn gebären«, versprach er ihr gütig. »Unseren Sohn.«

Warte, warte, warte, schrie Cordelia innerlich.

»Niemals«, flüsterte Kareen. Sie trat zurück neben den Wächter am Eingang, schnappte seinen Nervendisruptor aus seinem offenen Halfter, zielte direkt auf Vordarian und feuerte.

Der verblüffte Wächter schlug ihre Hand nach oben, der Schuß ging weit daneben und prasselte in die Decke. Vordarian warf sich hinter dem Tisch, dem einzigen Möbelstück in dem Raum, in Deckung und rollte zu Boden. Sein Livrierter griff in einer reinen Reflexbewegung nach seinem Nervendisruptor und feuerte. Kareens Gesichtsmuskeln verkrampften sich im Todeskampf, während das blaue Feuer ihren Kopf umfloß, ihr Mund öffnete sich zu einem letzten lautlosen Schrei. Warte! schrie Cordelias Gedanke.

Vordarian, der aufs äußerste erschrocken war, bellte: »Nein!«, rappelte sich auf und riß einem anderen Wächter dessen Disruptor aus der Hand. Der Livrierte, der die Ungeheuerlichkeit seines Fehlers erkannte, warf seine Waffe weg, als wollte er sich von seiner Tat distanzieren. Vordarian erschoß ihn.

Cordelia war es, als kippte der ganze Raum um sie herum um. Ihre Hand umklammerte das Heft des Stockdegens und löste den Mechanismus aus, der die Scheide gegen den Kopf eines der Wächter fliegen ließ, dann ließ sie die Klinge hart auf das Gelenk von Vordarians Waffenhand niedersausen. Er schrie auf, Blut spritzte, und der Nervendisruptor flog zur Seite. Droushnakovi sprang schon nach dem ersten weggeworfenen Disruptor. Bothari erledigte sein Ziel mit nur einem tödlichen Handkantenschlag in den Nacken. Cordelia drängte sich nach vorn und schlug die Tür vor den Wachen im Korridor zu. Eine Ladung aus einem Betäuber zischte in die Wände, dann erledigten drei blaue Blitze, die Droushnakovi in rascher Folge abfeuerte, die letzten von Vordarians Leuten.

»Packen Sie ihn«, schrie Cordelia Bothari zu. Vordarian, der am ganzen Leib zitterte und mit seiner linken Hand sein halb durchtrenntes rechtes Handgelenk umklammert hielt, war in einer denkbar schlechten Verfassung für Widerstand, obwohl er um sich schlug und schrie. Sein Blut lief herab in der Farbe von Kareens Morgenmantel. Bothari umfaßte Vordarians Kopf mit einem festen Griff und preßte ihm den Nervendisruptor an den Schädel.

»Raus hier«, stieß Cordelia hervor und stieß die Tür wieder auf. »Zum Schlafzimmer des Kaisers.« Zu Miles! Vordarians andere Wächter, die bereit waren zu feuern, hielten sich beim Anblick ihres Herrn zurück.

»Haut ab!«, brüllte Bothari, und die Wachen zogen sich von der Tür zurück. Cordelia packte Droushnakovi am Arm und sie stiegen über Kareens Körper. Ihre elfenbeinernen Glieder lagen übereinander in dem roten Stoff, abstrakt schöne Formen selbst noch im Tod. Die Frauen hielten Bothari und Vordarian zwischen sich und Vordarians Leuten und zogen sich den Korridor hinab zurück.

»Ziehen Sie diesen Plasmabogen aus meinem Halfter und fangen Sie zu feuern an«, instruiertes Bothari Cordelia grimmig. Ja, Bothari war es gelungen, diese Waffe in dem Durcheinander wiederzufinden, vielleicht war deshalb die Zahl seiner Opfer nicht höher.

»Sie können doch nicht die Residenz in Brand stecken«, keuchte Drou erschrocken.

Ein Vermögen an Antiquitäten und historischen barrayaranischen Kunstwerken war ohne Zweifel allein schon in diesem Flügel untergebracht. Cordelia grinste wild, packte die Waffe und feuerte zurück in den Korridor. Holzmöbel, Holzparkett und altersdürre Tapisserien explodierten in einer Flammenhölle, als die sengenden Finger des Plasmastrahls sie berührten.

Brenne nur. Brenne für Kareen. Häufe ein Totenopfer auf, das ihrem Mut und ihrer Qual entspricht, lodere immer höher und höher empor … Als sie die Tür zum Schlafzimmer des alten Kaisers erreichten, feuerte sie sicherheitshalber auch noch in die andere Richtung des Korridors. DAS ist für das, was du mir angetan hast, und meinem Jungen … Die Flammen sollten die Verfolgung für ein paar Minuten aufhalten. Es kam ihr vor, als schwebte ihr Körper, leicht wie Luft.

Ist es das, was Bothari empfindet, wenn er tötet?

Droushnakovi ging zur der Wand, um die Täfelung zur geheimen Leiter zu öffnen. Sie funktionierte jetzt ganz ruhig, als gehörten ihre Hände zu einem anderen Körper als ihr tränenverschmiertes Gesicht. Cordelia ließ das Schwert auf das Bett fallen und rannte direkt auf den riesigen alten geschnitzten eichernen Kleiderschrank zu, der an der vorderen Wand stand und riß seine Türen auf. Grüne und gelbe Lichter glühten in der düsteren Nische des mittleren Bords. Gott, laß nicht zu, daß das auch nur ein Köder ist … Cordelia schlang ihre Arme um den Kanister und hob ihn heraus ins Licht. Das richtige Gewicht, diesmal, schwer mit den Nährlösungen, die richtigen Anzeigen, die richtigen Nummern. Der richtige Replikator!

Dank dir, Kareen. Ich hatte nicht vor, dich zu töten. Sicherlich war sie verrückt. Sie fühlte gar nichts, keinen Kummer, kein Bedauern, obwohl ihr Herz jagte und ihr Atem keuchend ging. Eine heftige Kampfesstimmung, eine Art Euphorie, dieser unsterbliche Impuls, der Menschen gegen Maschinengewehre anstürmen läßt. Das war es also, hinter was die Kriegssüchtigen her waren.

Vordarian sträubte sich noch gegen Botharis Griff und fluchte entsetzlich. »Ihr werdet nicht entkommen!« Dann unterbrach er sein Bocken und suchte Cordelias Blick. Er holte tief Atem. »Bedenken Sie, Lady Vorkosigan. Sie werden es nie schaffen. Sie müssen mich als Schild haben, aber Sie können mich nicht tragen, wenn ich betäubt bin. Solange ich bei Bewußtsein bin, werde ich jeden Meter des Weges gegen euch kämpfen. Meine Männer werden überall um euch herum sein, dort draußen.« Sein Kopf ruckte in Richtung auf das Fenster. »Sie werden uns alle betäuben und euch als Gefangene nehmen.«

Seine Stimme nahm den Ton des Überredens an. »Ergebt euch jetzt, und ich werde euer Leben retten. Auch dessen Leben, wenn es Ihnen so viel bedeutet«, er nickte dem Replikator zu, den Cordelia in ihren Armen hielt. Ihre Schritte waren jetzt schwerer als die von Alys Vorpatril.

»Ich gab nie diesem Narren Vorhalas Befehle, Vorkosigans Erben zu töten«, fuhr Vordarian verzweifelt in ihr Schweigen hinein fort. Blut tröpfelte ständig von seinen Fingern. »Es ging nur um seinen Vater mit seiner fatalen progressiven Politik, die Barrayar bedrohte. Ihr Sohn hätte mit meiner Zustimmung die Grafschaft von Piotr erben können. Piotr hätte nie von der Partei seiner wahren Loyalität getrennt werden sollen. Es ist ein Verbrechen, was Lord Aral Piotr zugefügt hat!«

So. Du warst es also. Sogar ganz am Beginn. Blutverlust und Schock machten aus Vordarians üblicher gewandter Darlegung politischer Argumente eine alberne Parodie. Es war, als empfinde er, er könnte sich auf seine Weise aus der Vergeltung herausreden, wenn er nur die richtigen Stichwörter traf. Irgendwie bezweifelte Cordelia aber, daß er sie treffen würde. Vordarian war nicht auf pompöse Weise böse, wie Vorrutyer es gewesen war, nicht persönlich pervertiert wie Serg, doch nichtsdestoweniger war von ihm Böses ausgegangen, nicht von seinen Lastern, sondern von seinen Tugenden: dem Mut seiner konservativen Überzeugungen, seiner Leidenschaft für Kareen. Cordelias Kopf tat scheußlich weh.

»Wir haben nie bewiesen, daß Sie hinter Evon Vorhalas steckten«, sagte sie ruhig. »Danke für die Information.«

Das ließ ihn für einen Moment verstummen. Seine Augen wanderten unruhig zu der Tür, die bald nach innen bersten würde, entzündet von dem Inferno dahinter.

»Wenn ich tot bin, bin ich für Sie nicht mehr nützlich als Geisel«, sagte er und straffte sich würdevoll.

»Sie sind für mich überhaupt nicht mehr nützlich, Kaiser Vidal«, sagte Cordelia offen. »Bis jetzt hat es in diesem Krieg mindestens fünftausend Tote gegeben. Jetzt, da Kareen tot ist — wie lange wollen Sie noch weiterkämpfen?«

»Immer weiter«, knurrte er bleich. »Ich werde Kareen rächen — werde sie alle rächen …«

Die falsche Antwort, dachte Cordelia mit einer seltsam euphorischen Traurigkeit. »Bothari!« Er war sofort an ihrer Seite. »Heben Sie das Schwert auf!« Er tat es. Sie setzte den Replikator auf dem Boden ab und legte ihre Hand kurz auf seine, die das Heft des Schwertes umschlossen hielt. »Bothari, richten Sie diesen Mann für mich hin, bitte.« Der Ton ihrer Stimme klang in ihren eigenen Ohren auf unheimliche Weise heiter und gelassen, als hätte sie gerade Bothari gebeten, ihr die Butter zu reichen. Mord brauchte wirklich keine Hysterie.

»Jawohl, Mylady«, erwiderte Bothari und hob die Klinge. Seine Augen funkelten freudig.

»Was?«, kreischte Vordarian überrascht. »Sie sind eine Betanerin! Sie können das nicht …«

Der blitzende Schwertschlag schnitt seine Worte, seinen Kopf und sein Leben ab. Es war wirklich außerordentlich glatt und sauber gegangen, trotz der letzten Blutspritzer aus seinem Halsstumpf. Vorkosigan hätte Botharis Dienste an dem Tag in Anspruch nehmen sollen, als sie Carl Vorhalas hinrichteten. Diese ganze Kraft des Oberkörpers, verbunden mit diesem außerordentlichen Stahl … sie schreckte aus diesen Wendungen ihrer Gedanken wieder in die Realität, als Bothari neben Vordarians Leichnam auf die Knie fiel, das Schwert fallen ließ und sich an den Kopf faßte. Er schrie. Es war, als käme Vordarians Todesschrei aus Botharis Mund.

Sie ließ sich neben ihm nieder und hatte plötzlich wieder Angst, obwohl sie unempfindlich gegenüber Furcht gewesen war, seit Kareen nach dem Nervendisruptor gegriffen und dieses ganze Chaos ausgelöst hatte. Von ähnlichen Stimuli erregt, hatte Bothari die verbotene Rückerinnerung, vermutete Cordelia, an jene aufrührerischen Enthauptungen, über die das barrayaranische Oberkommando entschieden hatte, daß er sie vergessen müßte. Sie verwünschte sich selbst dafür, daß sie diese Möglichkeit nicht vorhergesehen hatte. Würde ihn das umbringen?

»Diese Tür ist schon höllisch heiß«, berichtete Droushnakovi, die bleich und zitternd neben dem Eingang stand. »Mylady, wir müssen von hier jetzt verschwinden.«

Bothari keuchte heftig und preßte noch seine Hände gegen seinen Kopf, aber noch während sie ihn beobachtete, wurde sein Atem etwas ruhiger. Sie verließ ihn und kroch blind auf dem Boden umher. Sie brauchte etwas, etwas Wasserfestes … Da, am Boden des Kleiderschranks, lag ein robuster Plastikbeutel, der einige Paare von Kareens Schuhen enthielt, die zweifellos hastig von einer Dienerin hierhergebracht worden waren, als Vordarian angeordnet hatte, daß Kareen in seine Gemächer ziehen sollte.

Cordelia leerte die Schuhe aus, stolperte zurück um das Bett herum und hob Vordarians Kopf von der Stelle auf, wo er hingerollt war. Er war schwer, aber nicht so schwer wie der Uterusreplikator. Sie zog die Verschlußschnüre fest zu.

»Drou. Sie sind in der besten Verfassung. Tragen Sie den Replikator. Beginnen Sie mit dem Abstieg. Lassen Sie ihn nicht fallen.« Wenn sie selbst Vordarian fallen ließe, sagte sich Cordelia, so würde ihm das kaum noch Schaden zufügen.

Droushnakovi nickte und nahm sowohl den Replikator wie das weggeworfene Schwert auf. Cordelia war sich nicht sicher, ob Drou das Schwert wegen seines neu erworbenen historischen Wertes aufhob oder aus einem Gefühl der Verpflichtung für eines von Kous Besitztümern.

Cordelia redete Bothari zu, er solle aufstehen. Kühle Luft kam aus der Öffnung in der Wandtäfelung heraufgeströmt, angezogen von dem Feuer auf der anderen Seite der Tür. Das würde eine schöne Feueresse geben, bis die brennende Wand einstürzen und den Eingang blockieren würde.

Vordarians Leute würden viel zu rätseln haben, wenn sie die Asche durchsuchten und sich fragten, wohin die Gesuchten verschwunden wären.

Der Abstieg war alptraumhaft in dem engen Zwischenraum, wobei Bothari zu ihren Füßen wimmerte. Sie konnte den Beutel weder neben sich noch vor sich tragen, so mußte sie ihn auf einer Schulter balancieren und einhändig gehen, wobei ihre Handfläche auf die Sprossen herabklatschte und ihr Handgelenk schmerzte.

Als sie ebenen Boden erreicht hatten, trieb sie den weinenden Bothari rücksichtslos voran und erlaubte ihm nicht stehenzubleiben, bis sie wieder zu Ezars Geheimversteck im Keller der alten Ställe kamen.

»Ist er in Ordnung?«, fragte Droushnakovi nervös, als Bothari sich hinsetzte und den Kopf zwischen seine Knie steckte.

»Er hat Kopfschmerzen«, sagte Cordelia. »Es kann eine Zeit dauern, bis die vorbei sind.«

Droushnakovi fragte noch zaghafter: »Sind Sie in Ordnung, Mylady?«

Cordelia konnte nichts dagegen tun, sie mußte lachen. Sie würgte die Hysterie hinunter, als Drou wirklich erschrocken dreinzublicken begann.

»Nein.«

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