Der Major setzte Gregor hinter sich, wo er durch die Bettrolle und die Satteltaschen bequem gepolstert war.
Cordelia stand vor einer weiteren Kletterei in jenes Folterinstrument für Menschen und Pferde, das Sattel genannt wurde. Ohne Bothari hätte sie es nie geschafft Der Major nahm diesmal ihre Zügel, und Rose und sein Pferd gingen Seite an Seite, und dabei gab es viel weniger Gezerre am Zaumzeug. Bothari setzte sich ans Ende und folgte ihnen wachsam.
»Also«, sagte der alte Mann nach einiger Zeit mit einem Seitenblick auf Cordelia, »Sie sind die neue Lady Vorkosigan.«
Cordelia, zerknittert und schmutzig, antwortete mit gequältem Lächeln: »Ja. Ach übrigens, Graf Piotr hat Ihren Namen nicht erwähnte, Major …?«
»Amor Klyeuvi, Mylady. Aber die Leute hier oben nennen mich einfach Kly.«
»Und … ah … was sind Sie?« Außer eine Art Bergkobold, den Piotr aus dem Boden hervorgezaubert hatte.
Er lächelte, was beim Zustand seiner Zahne eher abstoßend als anziehend wirkte. »Ich bin die Kaiserliche Post, Mylady. Ich reite die Runde durch diese Berge, von Vorkosigan Surleau aus, alle zehn Tage. Mache das jetzt schon achtzehn Jahre. Inzwischen sind aus Kindern Leute geworden und haben jetzt schon wieder eigene Kinder, und diese Leute kannten mich nie als was anderes als Kly von der Post.«
»Ich dachte, die Post käme in diese Gegend per Leichtflieger.«
»Sie werden stufenweise eingeführt. Aber die Flieger kommen nicht zu jedem Haus, sondern nur zu den zentralen Abwurfpunkten. Heutzutage ist da keine Höflichkeit mehr dabei.« Er spuckte Abscheu und Gummiblatt aus. »Aber wenn der General sie hier noch weitere zwei Jahre fernhält, dann mach ich meine letzten zwanzig Jahre voll, und dann bin ich dreimal zwanzig Jahre im Dienst. Ich bin nach zweimal zwanzig Jahren aus der Armee ausgeschieden.«
»Von welcher Waffengattung, Major Klyeuvi?«
»Kaiserliche Ranger.« Er schaute verstohlen nach ihrer Reaktion, sie belohnte ihn, indem sie beeindruckt die Augenbrauen hob. »Ich war ein Kämpfer, kein Techniker. Deshalb konnte ich es nicht weiter als bis zum Major bringen. Fing mit vierzehn Jahren an, in diesen Bergen, da tricksten wir mit dem General und Ezar die Cetagandaner aus. Seitdem bin ich nicht mehr in die Schule zurückgekehrt. Nur Trainingskurse. Mit der Zeit ging dann der Dienst an mir vorbei.«
»Nicht gänzlich, scheint es«, sagte Cordelia und blickte sich in der anscheinend menschenleeren Wildnis um.
»Nein …« Er seufzte mit geschürzten Lippen und blickte nachdenklich und besorgt über seine Schulter zurück auf Gregor.
»Hat Piotr Ihnen erzählt, was gestern nachmittag geschehen ist?«
»Ja. Ich habe den See vorgestern morgen verlassen. Hab die ganze Aufregung verpaßt. Ich nehme an, die Nachrichten werden mich noch vor dem Mittag einholen.«
»Wird … irgend etwas anderes uns bis dahin vielleicht auch einholen?«
»Wir müssen einfach abwarten.« Etwas zögernd fügte er hinzu: »Sie müssen diese Kleider ablegen, Mylady. Der Name VORKOSIGAN A. in großen Blockbuchstaben auf Ihrer Jakkentasche ist nicht sehr anonym.«
Cordelia schaute zerknirscht auf Arals schwarzes Arbeitshemd hinunter.
»Mylords Livree fällt auch auf wie eine Fahne«, fügte Kly hinzu und blickte zurück auf Bothari. »Aber in den richtigen Kleidern werden Sie gut durchkommen. Ich werde sehen, was ich tun kann, bald.«
Cordelia sackte fast zusammen, ihr Bauch schmerzte in Erwartung der Rast. Zuflucht. Aber um welchen Preis für diejenigen, die ihr Zuflucht gaben? »Wird es Sie gefährden, daß Sie uns helfen?«
Seine buschigen Augenbrauen hoben sich. »Vielleicht.« Sein Ton ermutigte nicht zu weiteren Anmerkungen zu diesem Thema.
Sie mußte ihren müden Geist irgendwie wieder auf die Reihe bringen, wenn sie für all die Leute um sie herum ein Aktivposten sein sollte und nicht nur eine Gefahrenquelle. »Ihr Gummiblatt da, wirkt das so ungefähr wie Kaffee?«
»Oh, besser als Kaffee, Mylady.«
»Kann ich mal probieren?«, fragte sie etwas leiser, aus Schüchternheit: vielleicht war diese Bitte zu vertraulich.
Seine Wangen verzogen sich zu einem trockenen Grinsen: »Nur Hinterwäldler wie ich kauen Gummiblatt, Mylady. Hübsche Vor-Damen aus der Hauptstadt würden sich um keinen Preis mit Gummiblatt zwischen ihren perlweißen Zähnen erwischen lassen.«
»Ich bin nicht hübsch, ich bin keine Dame, und ich bin nicht aus der Hauptstadt. Und für Kaffee würde ich jetzt sogar jemanden umbringen. Ich werde es mal probieren.«
Er ließ seine Zügel auf den Hals seines ruhig dahintrottenden Pferdes fallen, kramte in der Tasche seiner blaugrauen Jacke herum und holte seinen Beutel heraus. Er brach mit nicht sonderlich sauberen Fingern ein Stück ab und lehnte sich zu ihr herüber.
Sie betrachtete das Zeug einen Moment lang mißtrauisch, wie es da dunkel und blattartig in ihrer Hand lag. Stecken Sie nie fremde organische Stoffe in Ihren Mund, solange sie nicht vom Labor freigegeben sind.
Dann nahm sie es in den Mund. Das Stück war mit etwas Ahornsirup selbstklebend gemacht, aber nachdem ihr Speichel die erste überraschende Süße abgewaschen hatte, war der Geschmack angenehm bitter und adstringierend, Es schien den Belag abzulösen, der von der Nacht her an ihren Zähnen haftete, eine echte Verbesserung. Sie richtete sich auf.
Kly betrachtete sie nachdenklich. »Also, und was sind Sie, Nicht-Dame von einem anderen Planeten?«
»Ich war Astrokartographin. Dann Captain beim Astronomischen Erkundungsdienst. Dann Soldatin, dann Kriegsgefangene, dann Flüchtling. Und dann war ich Ehefrau, und schließlich war ich Mutter. Ich weiß nicht, was ich als nächstes sein werde«, antwortete sie offen, während sie das Gummiblatt kaute. Hoffentlich nicht Witwe.
»Mutter? Ich habe gehört, daß Sie schwanger waren, aber … haben Sie Ihr Baby nicht wegen dem Soltoxin verloren?« Er blickte verwirrt auf ihre Taille.
»Noch nicht. Es hat noch eine Chance zu kämpfen. Obwohl es ein bißchen unausgeglichen erscheint, ihn gerade jetzt gegen ganz Barrayar antreten zu lassen … Er ist eine Frühgeburt. Durch chirurgischen Eingriff.« (Sie entschied, nicht zu versuchen, den Uterusreplikator zu erklären.) »Er ist im Kaiserlichen Militärkrankenhaus. In Vorbarr Sultana. Das meines Wissens nach gerade von Vordarians Rebellentruppen eingenommen wurde…«
Sie zitterte. Vaagens Labor war geheim, nichts, das irgend jemands Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte. Miles ging es gut, ging es gut, ging es gut, und ein Riß in dieser dünnen Schale aus Überzeugung hätte Hysterie zur Folge … Aral, nun, Aral konnte für sich selbst sorgen, wenn das überhaupt jemand konnte. Und wie war er so überrumpelt worden, na wie? Keine Frage, der Sicherheitsdienst war mit Verrätern durchsetzt. Man konnte hier niemandem trauen, und wo war Illyan? Gefangen in Vorbarr Sultana? Oder war er Vordarians Kollaborateur? Nein … Abgeschnitten, viel wahrscheinlicher. Wie Kareen. Wie Padma und Alys Vorpatril. Das Leben im Wettlauf mit dem Tode …
»Keiner wird das Krankenhaus behelligen«, sagte Kly, der ihr Gesicht beobachtete.
»Ich — ja. Das stimmt.«
»Warum sind Sie von einem anderen Planeten nach Barrayar gekommen?«
»Ich wollte Kinder haben.« Ein unfrohes Lachen kam von ihren Lippen. »Haben Sie Kinder, Kly von der Post?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Sie waren sehr weise.«
»Oh …« Sein Gesichtsausdruck wurde abweisend. »Ich weiß nicht. Seit meine Alte gestorben ist, ist’s ziemlich still. Bei einigen Männern, die ich kenne, haben die Kinder ihnen große Schwierigkeiten gemacht. Ezar. Piotr. Ich weiß nicht, wer die Opfergaben an meinem Grab entzünden wird. Meine Nichte, vielleicht.«
Cordelia blickte auf Gregor, der auf den Satteltaschen ritt und zuhörte. Gregor hatte die Kerze für den großen Opferscheiterhaufen bei Ezars Begräbnis entzündet, Aral hatte dabei seine Hand geführt.
Sie ritten weiter die Straße hinauf, bergan. Viermal verschwand Kly auf Seitenpfaden, während Cordelia, Bothari und Gregor außer Sicht warteten.
Vom dritten dieser Zustellungsgänge kehrte Kly mit einem Bündel zurück, das einen alten Rock, ein Paar abgetragener Hosen und etwas Hafer für die müden Pferde enthielt. Cordelia, die immer noch fror, zog den Rock über ihre alten Hosen. Bothari tauschte seine auffälligen braunen Uniformhosen mit dem Silbersteifen an der Seite gegen die ausrangierten Hosen des Bergbewohners. Die Hosen waren zu kurz: sie endeten oberhalb der Knöchel und gaben ihm das Aussehen einer unheimlichen Vogelscheuche.
Botharis Uniform und Cordelias schwarzes Hemd wurden in einem leeren Postsack versteckt. Kly löste das Problem von Gregors fehlendem Schuh, indem er ihm den anderen einfach auszog und den Jungen barfuß gehen ließ, seinen allzu schönen blauen Spielanzug verbarg er unter einem übergroßen Männerhemd, dessen Ärmel er aufrollte. Mann, Frau, Kind: sie schauten aus wie eine abgehärmte, heruntergekommene Familie aus dem Bergland.
Sie erreichten die Höhe des Amie-Passes und begannen dann mit dem Abstieg. Gelegentlich warteten am Straßenrand Leute auf Kly, er gab mündliche Botschaften weiter, die er — so schien es Cordelia — wortwörtlich herunterratterte. Er verteilte Briefe auf Papier und billige Vocodisks, deren Selbstplaybacks blechern und dünn klangen. Zweimal hielt er an, um anscheinend leseunkundigen Empfängern Briefe vorzulesen, einmal las er einem Blinden vor, der von einem kleinen Mädchen geführt wurde. Cordelia wurde mit jeder freundlichen Begegnung nervöser, entkräftet durch die Erschöpfung ihrer Nerven. Wird dieser Kerl uns verraten? Wie sehen wir für diese Frau aus? Der Blinde kann uns wenigstens nicht beschreiben …
Gegen Einbruch der Dämmerung kam Kly von einem seiner Abstecher zurück, blickte in beide Richtungen des stillen, dunklen Pfads durch die Wildnis und erklärte: »Diese Gegend wimmelt einfach von Leuten.« Es war ein Zeichen für Cordelias Überanstrengung, daß sie ihm innerlich zustimmte. Er betrachtete sie mit Sorge in seinem Blick: »Glauben Sie, daß Sie noch weitere vier Stunden weiterreiten können, Mylady?«
Was ist die Alternative? An dieser Schlammpfütze hocken bleiben und heulen, bis wir gefangen werden? Sie rappelte sich auf die Beine und erhob sich von dem gefällten Baumstamm, auf dem sie gehockt hatte, während sie auf die Rückkehr ihres Führers warteten. »Das hängt davon ab, was am Ende dieser vier Stunden kommt.«
»Mein Haus. Gewöhnlich verbringe ich diese Nacht bei meiner Nichte, hier in der Nähe. Meine Tour endet etwa zehn Stunden von hier, wenn ich meine Zustellungen erledige, aber wenn wir direkt weitergehen, können wir es in vier Stunden schaffen. Ich kann morgen früh hierher zurückkommen und meinen Plan wie gewohnt einhalten. Ganz unauffällig, ohne daß irgend jemand was bemerkt.«
Was bedeutet ›direkt‹? Aber Kly hatte recht: ihre ganze Sicherheit lag in ihrer Anonymität, ihrer Unsichtbarkeit. Je eher sie außer Sicht waren, um so besser. »Gehen wir weiter, Major.«
Es dauerte sechs Stunden. Botharis Pferd begann kurz vor ihrem Ziel zu lahmen. Er stieg ab und zog es hinter sich her. Es hinkte und warf seinen Kopf umher. Auch Cordelia ging zu Fuß, um ihre wundgeriebenen Beine zu schonen und sich in der frostigen Dunkelheit warm und wach zu halten. Gregor schlief ein und fiel vom Pferd, schrie nach seiner Mutter und schlief dann wieder ein, als Kly ihn vor sich setzte, um ihn besser im Griff zu haben. Der letzte Aufstieg raubte Cordelia den Atem und ließ ihr Herz wild schlagen, obwohl sie sich zur Erleichterung an Roses Steigbügel hängte. Beide Pferde bewegten sich wie alte Weiber mit Arthritis und stapften ruckelnd dahin: nur der angeborene Herdentrieb der Tiere ließ sie weiter Klys zähem Schekken folgen.
Der Aufstieg wurde plötzlich zu einem Abstieg über einen Hügelkamm in ein großes Tal hinab. Die Wälder wurden dünner und offener, Bergwiesen waren dazwischen gestreut. Cordelia konnte die freien Räume um sich herum spüren, die jetzt der Größenordnung echter Berge entsprachen, weite Abgründe voll Dunkelheit, riesige Massen aus Stein, schweigend wie die Ewigkeit. Drei Schneeflocken schmolzen auf ihrem Gesicht, als sie nach oben blickte. Am Rand einer nur verschwommen erkennbaren Baumgruppe hielt Kly an: »Endstation, Leute.«
Cordelia trug den schlafenden Gregor in die winzige Hütte, tastete sich zu einer Bettstelle und rollte ihn darauf. Er wimmerte in seinem Schlaf, als sie die Decken über ihn zog. Sie stand schwankend da, wie betäubt, dann streifte sie in einem letzten Aufflackern von Geistesklarheit ihre Hausschuhe ab und stieg neben Gregor ins Bett. Seine Füße waren eiskalt. Während sie sie an ihrem Leib wärmte, ließ sein Zittern allmählich nach, und er fiel in einen tieferen Schlaf. Undeutlich bekam sie noch mit, daß Kly — Bothari — irgend jemand ein Feuer im Kamin entzündet hatte.
Armer Bothari, er war genauso lang wach gewesen wie sie. Im militärischen Sinn war er ihr Untergebener, sie müßte darauf achten, daß er aß, seine Füße versorgte, schlief … sie müßte … sie müßte …
Cordelia schreckte aus dem Schlaf hoch und entdeckte, daß die Bewegung, die sie geweckt hatte, von Gregor ausgegangen war, der sich neben ihr aufgesetzt hatte und sich verschlafen und verwirrt die Augen rieb. Licht strömte durch zwei schmutzige Fenster an beiden Seiten der hölzernen Vordertür herein. Das Häuschen oder die Hütte bestand nur aus einem einzigen Raum, zwei der Wände schienen aus übereinandergeschichteten ganzen Baumstämmen zu bestehen. An der Feuerstelle aus grauen Steinen am einen Ende standen auf einem Rost über einem Bett aus glühenden Kohlen ein Kessel und ein zugedeckter Topf. Cordelia rief sich wieder in Erinnerung, daß Holz hier Armut und nicht Wohlstand bedeutete. Sie mußten tags zuvor an zehn Millionen Bäumen vorbeigekommen sein.
Sie setzte sich auf und keuchte vor Schmerz wegen der Milchsäure, die sich in ihren Muskeln aufgebaut hatte. Sie streckte ihre Beine aus. Das Bett bestand aus einem Netz aus Seilen, das auf einen Rahmen gespannt war und zuerst eine mit Stroh gefüllte Matratze und darüber eine mit Federn gefüllte trug. Sie und Gregor waren zumindest warm in ihrem Nest. Die Luft in dem Raum roch nach Staub, vermischt mit dem angenehmen Aroma des Rauchs eines Holzfeuers.
Stiefelschritte erklangen auf den Brettern der Veranda draußen, und Cordelia packte Gregors Arm in plötzlicher Panik. Sie konnte nicht laufen — der schwarze Feuerhaken dort drüben würde nur eine ziemlich armselige Waffe abgeben gegen einen Betäuber oder Nervendis-ruptor —, aber es waren Botharis Schritte. Er schlüpfte durch die Tür zusammen mit einem Hauch von frischer Luft. Seine grob genähte gelbbraune Stoffjacke mußte er von Kly geborgt haben, nach der Art zu schließen, wie seine knochigen Handgelenke aus den umgeschlagenen Ärmelaufschlägen herausragten. Man konnte ihn leicht für einen Bergbewohner halten, solange er seinen Mund hielt und nicht seinen Stadtakzent verriet.
Er nickte ihnen zu: »Mylady! Euere Majestät!« Er kniete an der Feuerstelle nieder, guckte unter den Topfdeckel und prüfte die Temperatur des Kessels, indem er seine große Hand ein paar Zentimeter über dem Kessel wölbte. »Es gibt Hafergrütze und Sirup«, sagte er, »heißes Wasser, Kräutertee, getrocknete Früchte, keine Butter.«
»Was passiert eigentlich?« Cordelia rieb sich das Gesicht und schwang ihre Beine aus dem Bett in der Absicht, zum Kräutertee zu stolpern.
»Nicht viel. Der Major hat sein Pferd etwas ausruhen lassen, dann ist er vor dem Morgengrauen losgeritten, um seinen Zeitplan einzuhalten. Es war seitdem wirklich ruhig.«
»Haben Sie schon etwas geschlafen?«
»Ein paar Stunden, glaube ich.«
Der Tee mußte warten, während Cordelia den Kaiser hinab zu Klys Aborthäuschen begleitete. Gregor rümpfte die Nase und beäugte nervös den Sitz in Erwachsenengröße. Als sie wieder auf der Veranda vor der Hütte waren, überwachte Cordelia das Waschen von Händen und Gesicht über einem verbeulten Metallbecken.
Nachdem sie ihr Gesicht getrocknet hatte und wieder klar sehen konnte, genoß Cordelia den phantastischen Ausblick von der Veranda. Die Hälfte des Distrikts der Vorkosigans schien dort unten ausgebreitet, die braunen Hügel am Fuß der Berge, die grün- und gelbgefleckten besiedelten Ebenen dahinter. »Ist das unser See?« Cordelia nickte in Richtung auf ein silbernes Glitzern in den Hügeln, das sie gerade noch sehen konnte.
»Ich glaube schon«, sagte Bothari, der seine Augen zusammenkniff.
So weit, wenn man so schnell zu Fuß gekommen war. So schrecklich nah, in einem Leichtflieger … Nun ja, wenigstens konnte man von hier aus alles sehen, was sich da nähern mochte.
Die Hafergrütze mit Sirup, serviert auf einem abgesplitterten weißen Teller, schmeckte großartig. Cordelia trank Unmengen von Kräutertee und erkannte, daß sie schon gefährlich ausgetrocknet gewesen war. Sie versuchte Gregor zum Trinken zu ermuntern, aber er mochte den adstringierenden Geschmack des Tees nicht. Bothari schien vor Scham fast zu versinken, daß er nicht auf seines Kaisers direkten Wunsch Milch aus der Luft zaubern konnte. Cordelia löste das Problem, indem sie den Tee mit Sirup süßte und ihn somit annehmbar machte.
Als sie das Frühstück beendet, die wenigen Utensilien und Teller gewaschen und das bißchen Waschwasser über das Geländer der Veranda geschüttet hatte, war inzwischen die Veranda in der Morgensonne genügend warm geworden, daß man draußen sitzen konnte.
»Warum übernehmen Sie nicht das Bett, Sergeant. Ich werde Wache halten. Ach übrigens … gab Ihnen Kly irgendeinen Rat, was wir tun sollten, wenn ein Feind uns hier überrascht, bevor er zurückkommt? Es sieht fast so aus, als hätten wir keine Orte mehr, wohin wir flüchten könnten.«
»Nicht ganz, Mylady. Es gibt ein Netz von Höhlen, dort oben in dem Waldstück da hinten. Ein altes Guerillaversteck. Kly nahm mich in der Nacht mit dorthin und zeigte mir den Eingang.«
Cordelia seufzte: »Das ist gut. Schlafen Sie ein wenig, Sergeant, wir werden Sie bestimmt später noch brauchen.«
Sie setzte sich in die Sonne auf einen der Holzstühle und ließ ihren Leib ausruhen, allerdings nicht ihren Geist. Ihre Augen und Ohren warteten angespannt auf das Jaulen eines fernen Leichtfliegers oder eines schweren Luftwagens. Sie umwickelte Gregors Füße mit behelfsmäßigen Schuhen aus Lumpen, und er wanderte umher und untersuchte alles, was er fand.
Sie begleitete ihn bei einem Besuch im Stall, um nach den Pferden zu sehen. Das Tier des Sergeanten lahmte noch sehr und Rose bewegte sich so wenig wie möglich, aber sie hatten Futter in einer Raufe und Wasser von einem kleinen Bach, der am Ende ihrer Umfriedung vorbeifloß. Klys anderes Pferd, ein schlanker Fuchs, der gesund und munter aussah, schien das Eindringen der anderen Pferde zu ertragen und biß nur nach Rose, wenn sie sich zu nah an seine Seite der Heuraufe drängte.
Cordelia und Gregor saßen auf den Stufen der Veranda, als die Sonne den Zenith erreichte, und jetzt war es angenehm warm. Der einzige Laut in dem weiten Tal außer dem Wind in den Zweigen war Botharis Schnarchen, das durch die Hüttenwände drang. Jetzt waren sie so entspannt, wie sie es unter diesen Umständen überhaupt sein konnten, entschied Cordelia und sie wagte endlich, Gregor nach seinem Eindruck — ihrem einzigen Augenzeugenbericht — über den Putsch in der Hauptstadt auszufragen. Es war keine große Hilfe, Gregors Augen, die eines Fünfjährigen, sahen das Was gut genug, aber das Warum entging ihm. Auf einer höheren Ebene hatte sie das gleiche Problem, gab Cordelia vor sich selbst enttäuscht zu.
»Die Soldaten kamen. Ein Oberst befahl Mama und mir, mit ihm zu gehen. Einer von unseren Livrierten kam herein. Der Oberst schoß auf ihn.«
»Mit einem Betäuber oder einem Nervendisruptor?«
»Mit einem Nervendisruptor. Blaues Feuer. Er fiel hin. Sie nahmen uns zum Marmorhof. Sie hatten Luftwagen. Dann rannte Negri mit ein paar Männern herein. Ein Soldat packte mich, und Mama packte mich wieder, und dabei passierte das mit meinem Schuh. Er ging ab und sie hielt ihn in der Hand. Ich hätte … ihn fester zubinden sollen, am Morgen. Dann schoß Oberst Negri auf den Soldaten, der mich trug, und einige Soldaten schossen auf Oberst Negri …«
»Mit Plasmabögen? Wurde er dabei so schrecklich verbrannt?«, fragte Cordelia. Sie versuchte, in ganz ruhigem Ton zu sprechen.
Gregor nickte stumm. »Einige Soldaten nahmen Mama, die anderen, nicht die von Negri. Negri nahm mich hoch und rannte weg. Wir liefen durch die Tunnel, unter der Residenz und kamen in einer Garage heraus. Wir stiegen in den Leichtflieger. Sie schossen auf uns. Oberst Negri sagte zu mir, ich soll den Mund halten, ich soll still sein. Wir flogen und flogen, und er schrie immer, ich soll still sein, aber ich war still. Und dann landeten wir am See.« Gregor zitterte wieder.
»Mm.« Kareen wirbelte in lebhaften Bildern durch Cordelias Vorstellung, trotz der Einfachheit von Gregors Bericht. Jenes heitere Gesicht, jetzt verzerrt im Aufschrei von Zorn und Schrecken, als man den Sohn, den sie auf die schwere barrayaranisehe Art und Weise geboren hatte, von ihr riß und ihr … nichts übrigließ als einen Schuh, von all ihrem unsicheren Leben und all ihrem illusorischen Besitz. Vordarians Truppen hatten also Kareen. Als Geisel? Oder Opfer? Lebendig oder tot?
»Glaubst du, daß es Mama gutgeht?«
»Sicher.« Cordelia rückte verlegen hin und her. »Sie ist eine sehr wertvolle Dame. Man wird ihr nichts antun.« Bis es ihnen zweckmäßig erscheint, ihr doch etwas anzutun.
»Sie hat geweint.«
»Ja.« Sie konnte das gleiche Knäuel in ihrem eigenen Bauch spüren. Der geistige Blitz, vor dem sie gestern den ganzen Tag zurückgescheut war, explodierte in ihrem Gehirn. Stiefel, die eine gesicherte Labortür aufstießen. Die Pulte und Tische umstießen. Keine Gesichter, nur Stiefel.
Gewehrkolben, die zerbrechliche Glasbehälter und Computermonitore von Arbeitstischen fegten, zu einem wirren Scherbenhaufen auf dem Boden.
Ein Uterusreplikator, der grob aufgerissen wurde, dessen sterile Verschlüsse aufgeschlitzt wurden, dessen feuchter Inhalt herausgefetzt und auf die Fliesen geschüttet wurde … nicht einmal die Notwendigkeit für die traditionelle Methode des Kindermordes, wo das Kind bei den Füßen gepackt und sein Kopf gegen die nächste Betonmauer geschleudert wurde, Miles war so klein, daß die Stiefel nur auf ihn zu treten brauchten, um ihn zu Brei zu zermalmen … Sie holte tief Luft.
Miles geht es gut. Er ist anonym, genau wie wir. Wir sind sehr klein und sehr still und sicher. Schweige, sei still, Kind. Sie umarmte Gregor fest.
»Mein kleiner Sohn ist auch in der Hauptstadt, wie deine Mama. Und du bist bei mir. Wir werden aufeinander aufpassen. Ganz sicher!«
Nach dem Abendessen, als es immer noch kein Zeichen von Kly gab, sagte Cordelia: »Zeigen Sie mir die Höhle, Sergeant.« Kly bewahrte auf seinem Kaminsims eine Schachtel mit Kaltlichtern auf. Bothari brach eins auf und führte Cordelia und Gregor auf einem kaum sichtbaren steinigen Pfad hinauf in die Wälder. Er wirkte wie ein bedrohliches Irrlicht mit dem hellen, grünlich gefärbten Licht, das aus dem Rohr zwischen seinen Fingern leuchtete.
Der Platz vor dem Höhleneingang zeigte Anzeichen dafür, daß man hier einmal gerodet hatte, obwohl inzwischen die wild wuchernde Vegetation schon wieder bis zur Höhle vorgerückt war. Der Gang war keineswegs verborgen: ein gähnendes schwarzes Loch, dessen Höhe der doppelten Größe von Bothari entsprach und das breit genug war, daß man einen Leichtflieger hindurchschieben konnte. Unmittelbar hinter dem Eingang hob sich die Höhlendecke und Wände ragten auf und bildeten eine große, staubige Höhle. Ganze Patrouillen konnten hier drinnen kampieren und hatten das auch in ferner Vergangenheit getan, nach dem uralten Abfall zu schließen, der herumlag. Nischen für Schlafkojen waren in den Fels gemeißelt, Namen, Initialen, Daten und derbe Kommentare bedeckten die Wände.
Eine kalte Feuergrube in der Mitte hatte ihre Entsprechung in einem rauchgeschwärzten Lüftungsloch in der Decke, durch das einst der Rauch entwichen war. Vor Cordelias geistigem Auge erschien eine geisterhafte Schar von Bergbewohnern, Guerillakriegern, die aßen, scherzten, Gummiblatt ausspuckten, ihre Waffe reinigten und ihren nächsten Oberfall planten. Späher und Kundschafter kamen und gingen, Gespenster unter den Gespenstern, um ihre wertvollen, mit Blut erkauften Informationen ihrem jungen General vorzutragen, der seine Landkarten auf dem flachen Fels dort drüben ausgebreitet hatte … Sie schüttelte die Vision aus ihrem Kopf, nahm das Licht und erforschte die Nischen. Mindestens fünf passierbare Ausgänge führten aus der Höhle fort, von denen drei allem Anschein nach häufig benutzt worden waren.
»Hat Kly gesagt, wohin die führen, wo sie herauskommen, Sergeant?«
»Nicht genau, Mylady. Er sagte, die Gänge führten kilometerweit in die Hügel. Er war schon spät dran und hatte es eilig, weiterzukommen.«
»Ist das ein vertikales oder horizontales System? Was hat er gesagt?«
»Verzeihung, Mylady?«
»Sind alle auf ein und derselben Ebene, oder gibt es unerwartete tiefe Abstürze? Gibt es viele Sackgassen? Welchen Weg sollten wir nehmen? Gibt es unterirdische Wasserläufe?«
»Ich glaube, er erwartet, daß er uns führt, falls wir hier reingehen. Er fing an zu erklären, sagte dann aber, es sei zu kompliziert.«
Sie runzelte die Stirn und erwog die Möglichkeiten. Sie hatte ein bißchen Höhlenausbildung bei ihrem Training für den Erkundungsdienst mitbekommen, und zwar genug, um zu begreifen, was der Ausdruck Achtung vor den Gefahren bedeutete. Luftlöcher, Abstürze, Felsspalten, labyrinthische Quergänge … dazu, hier, das unerwartete Steigen und Fallen von Wasser, worüber man sich auf Kolonie Beta nicht viele Sorgen zu machen brauchte. Es hatte in der vergangenen Nacht geregnet. Sensoren waren keine große Hilfe, wenn es darum ging, einen verlorenen Höhlenforscher zu finden. Und wessen Sensoren? Wenn das System so ausgedehnt war, wie Kly angedeutet hatte, dann konnte es Hunderte von Suchenden verschlucken … Ihr Stirnrunzeln wandelte sich langsam zu einem Lächeln.
»Sergeant, heute nacht kampieren wir hier!«
Die Höhle gefiel Gregor, besonders als Cordelia die Geschichte des Ortes beschrieb. Er tobte in der Höhle herum, wobei er kriegerische Selbstgespräche führte wie: »Zack, zack, zack!«, kletterte in alle Nischen und versuchte, die derben Worte herauszubringen, die in die Wände geritzt waren. Bothari entzündete ein kleines Feuer in der Grube, breitete eine Bettrolle für Gregor und Cordelia aus und übernahm selbst die Nachtwache. Cordelia rollte ein zweites Bettzeug um Proviant für einen Marsch und legte das Bündel griffbereit in die Nähe des Eingangs. Sie breitete das schwarze Arbeitshemd mit dem Namen VORKOS1GAN A. kunstvoll in einer Nische aus, als sei es zum Draufsitzen benutzt und dann vorübergehend vergessen worden, als der Sitzende aufgestanden war.
Zuletzt brachte Bothari ihre lahmenden und nutzlosen Pferde herauf, neu gesattelt und mit Zügeln versehen, und band sie direkt vor der Höhle fest.
Cordelia kam aus dem weitesten Gang zurück, wo sie in etwa einem Viertel Kilometer Entfernung ein fast verbrauchtes Kaltlicht über ein Zehnmeterabhang hatte fallen lassen, der von einem Seil überspannt war.
Das Seil war aus Naturfasern, sehr alt und spröde. Sie hatte sich entschlossen, es nicht zu testen.
»Ich verstehe das nicht ganz, Mylady«, sagte Bothari. »Mit den Pferden dort draußen, wenn jemand kommt und nach uns schaut, dann finden sie uns sofort und wissen genau, wohin wir gegangen sind.«
»Finden, ja«, sagte Cordelia, »wissen, wohin wir gegangen sind, nein. Ohne Kly werde ich Gregor auf keinen Fall in dieses Labyrinth hinabnehmen. Aber die beste Methode, um den Eindruck zu erwecken, wir seien hier, ist, tatsächlich ein bißchen hier zu bleiben.«
In Botharis ausdruckslosen Augen leuchtete endlich Verstehen auf, als er auf die fünf schwarzen Eingänge auf ihren verschiedenen Ebenen blickte.
»Ach so!«
»Das bedeutet, wir müssen noch ein wirkliches Schlupfloch finden. Irgendwo oben in den Wäldern, wo wir uns zu dem Pfad durchschlagen können, über den Kly uns gestern hochgebracht hat. Ich wünsche mir, wir hätten das schon bei Tageslicht getan.«
»Ich verstehe, was Sie meinen, Mylady. Ich werde es mal auskundschaften.«
»Bitte, tun Sie das, Sergeant.«
Er nahm ihr Proviantbündel und verschwand in die dunklen Wälder.
Cordelia steckte Gregor ins Bett und dann hockte sie sich draußen zwischen die Felsen über dem Höhleneingang und hielt Wache. Sie konnte das Tal sehen, das sich grau unter den Baumwipfeln ausdehnte, und sie konnte das Dach von Klys Hütte erkennen. Kein Rauch stieg jetzt aus seinem Schornstein auf. Unter dem Stein würde kein ferner Wärmesensor ihr neues Feuer finden, obwohl dessen Geruch in der kühlen Luft hing und für nahe Nasen erkennbar war. Sie schaute nach sich bewegenden Lichtern am Himmel, bis sie die Sterne mit tränenden Augen nur noch verschwommen sah.
Es dauerte ziemlich lange, bis Bothari zurückkehrte. »Ich habe einen Platz gefunden. Gehen wir sofort dorthin?«
»Noch nicht. Kly könnte noch auftauchen.« Zuerst.
»Dann sind Sie jetzt mit Schlafen an der Reihe, Mylady.«
»O ja.« Die Anstrengungen des Abends hatte die saure Müdigkeit nur teilweise aus ihren Muskeln vertrieben. Sie verließ Bothari, der im Sternenlicht wie ein bizarres Schutzwesen auf dem Kalksteinfelsen hockte, und kroch zu Gregor ins Bett. Schließlich schlief sie ein.
Sie erwachte beim grauen Licht der Morgendämmerung, das aus dem Höhleneingang ein leuchtendes nebliges Oval machte. Bothari bereitete heißen Tee zu, und sie teilten unter sich die kalten Fladen von Pfannenbrot auf, die noch vom vergangenen Abend übrig waren, und knabberten getrocknetes Obst.
»Ich werde noch etwas Wache schieben«, bot Bothari an. »Ich kann ohne meine Medikamente nicht so gut schlafen.«
»Medikamente?«, sagte Cordelia.
»Ja, ich habe meine Pillen in Vorkosigan Surleau gelassen. Ich merke allmählich, wie mein Organismus sie ausscheidet. Die Dinge erscheinen schärfer.«
Cordelia schwemmte einen plötzlich sehr klumpigen Bissen Brot mit einem Schluck heißen Tees hinunter. Aber waren seine psychoaktiven Drogen wirklich therapeutisch, oder in ihrer Auswirkung nur politisch?
»Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben, Sergeant«, sagte sie vorsichtig.
»Bis jetzt noch nicht. Außer, daß es schwieriger wird zu schlafen. Sie unterdrücken die Träume.« Er nahm seinen Tee und wanderte zurück auf seinen Posten.
Cordelia unterließ es bewußt, ihren Lagerplatz aufzuräumen. Sie begleitete Gregor zum nächsten Flüßchen, wo sie sich Hände und Gesicht wuschen.
Sie rochen sicher bald wie echte Bergbewohner. Dann kehrten sie zur Höhle zurück, wo Cordelia sich eine Weile auf dem Bett ausruhte. Sie mußte darauf bestehen, daß Bothari bald abgelöst wurde. Wenn doch Kly käme…
Botharis angespannte leise Stimme hallte in der Höhle wider:
»Mylady. Majestät. Zeit zu gehen.«
»Kly?«
»Nein.«
Cordelia rollte auf ihre Füße, stieß einen vorbereiteten Erdhaufen über die letzten Kohlen ihres Feuers, packte Gregor und verfrachtete ihn aus der Höhle hinaus. Er sah plötzlich erschrocken und kränklich aus. Bothari zog die Zügel von den Pferden los, lockerte sie und warf die Geschirre auf einen Haufen mit den Sätteln. Cordelia kletterte ein Stück neben der Höhle hoch und warf einen Blick über die Baumwipfel. Ein Flieger war vor Klys Hütte gelandet. Zwei schwarzuniformierte Soldaten umkreisten sie von beiden Seiten. Ein dritter verschwand unter dem Dach der Veranda. Schwach und verzögert kam aus der Ferne das Geräusch, das verriet, daß Klys Vordertür eingetreten wurde. Nur Soldaten waren in dem Flieger, keine Bergbewohner, weder als Führer noch als Gefangene. Kein Zeichen von Kly.
Bothari nahm Gregor hoch und trug ihn huckepack, und so rannten sie in die Wälder, Rose machte Anstalten, ihnen zu folgen, und Cordelia drehte sich um, winkte mit den Armen und flüsterte verzweifelt: »Nein! Geh weg, du dummes Vieh!«, um sie zu verscheuchen.
Rose zögerte, dann machte sie kehrt, um bei ihrem lahmenden Gefährten zu bleiben.
Sie lief gleichmäßig, ohne Panik. Bothari hatte den Weg gut ausgesucht und nutzte schützende Felsen und Bäume und vom Wasser gegrabene Stufen aus. Sie krabbelten hinauf, hinunter, wieder hinauf, aber als Cordelia gerade dachte, ihre Lungen würden bersten und ihre Verfolger müßten sie aufspüren, da verschwand Bothari an einer steilen Felswand.
»Hierher, Mylady!«
Er hatte eine dünne horizontale Spalte in dem Felsen gefunden, einen halben Meter hoch und drei Meter tief. Sie rollte neben ihm hinein und sah, daß die Nische auf allen Seiten von solidem Fels abgeschirmt wurde, außer auf der Vorderseite, und die war von herabgestürzten Steinen fast blockiert. Ihr Bettzeug und ihr Proviant warteten schon auf sie.
»Kein Wunder«, keuchte Cordelia, »daß die Cetagandaner hier oben Schwierigkeiten hatten.« Ein Wärmesensor mußte direkt in die Höhle gerichtet werden, damit er sie ausfindig machen konnte, und zwar von einem Punkt zwanzig Meter in der Luft über der Schlucht. Und an dieser Stelle gab es Hunderte ähnlicher Spalten.
»Noch besser«, Bothari holte aus der Rolle mit ihrem Bettzeug einen uralten Feldstecher, den er aus Klys Kabine hatte mitgehen lassen, »wir können sie sehen.«
Das Fernglas bestand aus nichts anderem als zwei miteinander verbundenen Röhren mit verstellbaren Glaslinsen, also aus völlig passiven Lichtkollektoren. Es mußte noch aus der Zeit der Isolation stammen. Die Vergrößerung war schwach im Vergleich zum modernen Standard, es gab keine UV- oder InfrarotVerstärkung, keinen Entfernungsmesser-Impuls … also auch keine Stromzelle, die aufspürbare Energiespuren hinterlassen konnte. Flach auf dem Bauch liegend, mit dem Kinn im Geröll, konnte Cordelia den fernen Höhleneingang erspähen, auf dem Abhang, der sich jenseits der Schlucht und eines scharfen Felskamms erhob. Als sie sagte: »Jetzt müssen wir sehr leise sein«, rollte sich Gregor, der ganz bleich im Gesicht war, in Embryohaltung zusammen.
Die schwarzgekleideten Männer fanden schließlich die Pferde, obwohl sie eine Ewigkeit dafür zu brauchen schienen. Dann fanden sie den Höhleneingang. Die kleinen Figuren gestikulierten aufgeregt miteinander, liefen hinein und heraus, und riefen den Flieger, der dann vor dem Eingang landete, wobei viel Gebüsch niedergewalzt wurde. Vier Männer gingen hinein, einer kam wieder heraus. Nach einiger Zeit landete ein weiterer Flieger. Dann kam ein Luftlaster und entlud eine ganze Patrouille.
Der Eingang zum Berg nahm alle auf. Ein weiterer Luftlaster kam, und es wurden Lichter aufgestellt, ein Feldgenerator, Funkgeräte.
Cordelia machte im Bettzeug ein Nest für Gregor, fütterte ihn mit kleinen Happen und ließ ihn aus ihrer Wasserflasche trinken, Bothari streckte sich an der Rückwand der Nische aus, wobei er nur die dünnste Decke zusammengefaltet unter den Kopf legte, ansonsten schien er gegen den Stein unempfindlich zu sein. Während Bothari schlummerte, zählte Cordelia sorgfältig, wieviele Jäger eintrafen. Am späten Nachmittag waren nach ihrer Rechnung schon etwa vierzig Männer in die Höhlen hinabgegangen und nicht wieder hochgekommen.
Zwei Männer wurden auf Schwebebahren festgegurtet herausgebracht, in einen Sanitätstransporter geladen und weggeflogen. Ein Leichtflieger baute inmitten des Gewimmels eine Bruchlandung, kippte hangabwärts um und prallte gegen einen Baum. Aber noch mehr Männer wurden eingesetzt, um ihn herauszuziehen, aufzurichten und zu reparieren. Gegen Abend waren schon über sechzig Männer in das Höhlensystem hinabgestiegen.
Eine ganze Kompanie, die von der Hauptstadt abgezogen worden war, keine Flüchtigen mehr verfolgte, nicht verfügbar war zur Aufdeckung der Geheimnisse des Militärkrankenhauses … Aber es reichte gewiß nicht aus, um die Lage grundsätzlich zu ändern. Aber es war ein Anfang.
In der Abenddämmerung schlüpften Cordelia, Bothari und Gregor aus der Felsnische, durchquerten die Schluchten und suchten sich schweigend ihren Weg durch die Wälder. Es war schon völlig dunkel, als sie zum Waldrand kamen und auf Klys Pfad stießen. Als sie den Hügelkamm überquerten, der das Tal einschloß, schaute Cordelia zurück. Das Gebiet um den Höhleneingang war von Suchscheinwerfern markiert, die wie leuchtende Dolche durch den Dunst nach oben stießen. Leichtflieger jaulten über dem Platz.
Auf der anderen Seite des Bergkamms schlitterten die drei den Abhang hinab, der Cordelia beim Aufstieg fast umgebracht hätte, als sie vor zwei Tagen an Roses Steigbügeln hing. Volle fünf Kilometer bergab, in einer felsigen Gegend mit baumlosem Gebüsch, hielt Bothari abrupt an. »Pst, Mylady, horchen Sie mal.«
Stimmen. Männerstimmen, nicht weit weg, aber seltsam hohl klingend. Cordelia starrte in die Dunkelheit, aber dort bewegten sich keine Lichter. Nichts bewegte sich. Sie kauerten sich neben dem Pfad nieder, alle Sinne waren angespannt.
Bothari kroch davon, mit schräg geneigtem Kopf, auf das Geräusch zu. Nach einigen Augenblicken folgten ihm Cordelia und Gregor vorsichtig.
Sie fanden Bothari neben einem gefurchten Felsbuckel kniend. Er winkte ihr, näher heranzukommen. »Das ist ein Loch«, flüsterte er, »hören Sie mal!«
Die Stimmen waren jetzt viel klarer, scharfe Töne, ärgerliche Kehllaute, durchsetzt mit Flüchen in zwei oder drei Sprachen.
»Verdammt noch mal, ich weiß, wir sind an der dritten Biegung nach links gegangen.«
»Das war nicht die dritte Biegung, das war die vierte.«
»Wir haben wieder den Wasserlauf überquert.«
»Das war nicht derselbe Scheißwasserlauf, sabaki!«
»Merde. Perdu!«
»Leutnant, Sie sind ein Idiot!« — »Korporal, Sie vergessen sich!«
»Dieses Kaltlicht hält nicht eine Stunde durch. Schauen Sie, es wird schon schwächer.«
»Na, dann schütteln Sie es nicht, Sie Trottel, wenn es heller leuchtet, dann ist es schneller am Ende.«
»Geben Sie mir das …«
Botharis Zähne schimmerten in der Dunkelheit. Es war das erste Lächeln, das Cordelia seit Monaten auf seinem Gesicht gesehen hatte. Er salutierte schweigend. Sie stahlen sich leise auf den Zehenspitzen davon, in die kalte Nacht der Dendarii-Berge.
Als sie wieder auf dem Pfad waren, seufzte Bothari tief auf: »Wenn ich nur eine Granate gehabt hätte, um sie in dieses Loch hinabzuwerfen. Ihre Suchtrupps würden noch nächste Woche um diese Zeit aufeinander schießen.«