KAPITEL 19

Ezars Geheimversteck enthielt einen Kasten mit Geld, barrayaranische Mark in Banknoten zu unterschiedlichen Nennwerten. Es enthielt auch eine Auswahl von Ausweisen, die auf Drou abgestimmt waren, und einige davon waren noch gültig. Cordelia brachte beides, Geld und Ausweise, zusammen und schickte Drou hinaus, einen gebrauchten Bodenwagen zu kaufen. Sie selbst wartete neben dem Versteck, während sich Bothari langsam aus seiner zusammengerollten Embryohaltung des Schmerzes löste und sich genügend erholte, um laufen zu können.

Aus Vorbarr Sultana wieder herauszukommen war immer der schwache Teil ihres Plans gewesen, fand Cordelia, vielleicht weil sie nie wirklich geglaubt hatte, daß sie so weit kommen würden. Reisen war streng eingeschränkt, da Vordarian verhindern wollte, daß die Stadt unter ihm zusammenbrach, falls ihre geängstigte Bevölkerung wegströmen sollte.

Für den Monorail brauchte man Pässe, und außerdem wurden dort Kontrollen durchgeführt. Leichtflieger waren absolut verboten, willkommene Ziele für schießwütige Wachen. Bodenwagen mußten immer wieder Straßensperren passieren. Eine Reise zu Fuß war zu langsam für ihre beladene und erschöpfte Gruppe. Es gab keine wirklich gute Wahl.

Nach einer Ewigkeit kam Drou zurück, ganz bleich im Gesicht, und führte sie hinaus durch die Tunnels in eine verborgene Seitenstraße. Die Stadt war von rußigem Schnee überstäubt. Aus der Richtung der Residenz, einen Kilometer entfernt, stieg eine dunklere Wolke auf und vermischte sich mit dem wintergrauen Himmel, das Feuer war anscheinend noch nicht unter Kontrolle. Wie lang würde Vordarians kopflose Kommandostruktur noch funktionieren? War das Gerücht von seinem Tod schon nach draußen gedrungen?

Wie sie instruiert worden war, hatte Drou einen sehr einfachen und unauffälligen Bodenwagen ausgesucht, obwohl sie genug Mittel hatten, um das luxuriöseste neue Fahrzeug zu kaufen, das es in der Stadt noch gab. Cordelia wollte diese Geldreserve für die Kontrollpunkte aufheben.

Aber diese Kontrollpunkte waren nicht so schlimm, wie Cordelia gefürchtet hatte. Tatsächlich war der erste unbesetzt, seine Wachmannschaft war abgezogen worden, vielleicht um das Feuer zu bekämpfen oder die Umgebung der Residenz abzuriegeln. Am zweiten wartete eine Menge Fahrzeuge mit ungeduldigen Fahrern. Die Kontrolleure arbeiteten nur oberflächlich, sie waren nervös, abgelenkt und halb zermürbt von weiß Gott was für Gerüchten, die aus der Innenstadt kamen. Ein dickes Bündel Geld, überreicht zusammen mit Drous perfekt gefälschtem Ausweis, verschwand in die Tasche eines Wächters. Er winkte Drou durch, die angeblich ihren ›kranken Onkel‹ heimfuhr.

Bothari sah gewiß krank genug aus, zusammengekauert unter einer Decke, die auch den Replikator verbarg. Am letzten Kontrollpunkt ›wiederholte‹ Drou eine wahrscheinliche Version eines Gerüchts von Vordarians Tod, und der beunruhigte Wächter desertierte auf der Stelle, warf seine Uniform zugunsten eines zivilen Mantels ab und verschwand in einer Seitenstraße.

Sie fuhren den ganzen Nachmittag im Zickzack über schlechte Seitenstraßen, um Vorinnis’ neutralen Distrikt zu erreichen, wo der altersschwache Bodenwagen nach einem Bruch der Kraftübertragung den Geist aufgab. Sie verließen ihn und wechselten jetzt zum Monorail-System über, wobei Cordelia ihre erschöpfte kleine Gruppe vorantrieb, im Wettlauf mit der Uhr in ihrem Kopf.

Um Mitternacht meldeten sie sich bei der ersten militärischen Einrichtung hinter der nächsten loyalistischen Grenze, einem Nachschubdepot. Drou mußte sich einige Minuten mit dem Nachdienstoffizier herumstreiten, bis sie ihn überreden konnte, 1. die Gruppe zu identifizieren, 2, sie hereinzulassen und 3. sie das militärische Kommunikationsnetz benutzen zu lassen, um in Basis Tanery anzurufen und ein Transportmittel anzufordern. An diesem Punkt wurde der Offizier vom Dienst erheblich effizienter. Ein Hochgeschwindig-keitsshuttle mit einem frischen Piloten wurde eilends losgeschickt, um sie abzuholen.

Als sie sich Basis Tanery im Morgengrauen aus der Luft näherten, erlebte Cordelia ein außerordentlich unangenehmes deja vu. Es glich alles so ihrer ersten Ankunft aus den Bergen, daß sie das Gefühl hatte, in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Vielleicht war sie gestorben und in die Hölle gekommen, und ihre ewige Qual würde darin bestehen, die Ereignisse der letzten drei Wochen immer wieder und wieder ohne Ende wiederholen zu müssen. Sie zitterte.

Droushnakovi beobachtete sie besorgt. Der erschöpfte Bothari schlummerte in der Passagierkabine des Shuttle. Illyans zwei Männer vom Sicherheitsdienst, die nach Cordelias Eindruck wie Zwillinge der Männer Vordarians aussahen, die sie in der Residenz getötet hatten, bewahrten nervöses Schweigen. Cordelia hielt den Uterusreplikator besitzergreifend auf ihrem Schoß. Der Plastikbeutel befand sich zwischen ihren Füßen. Sie war auf irrationale Weise unfähig, eines dieser beiden Objekte aus ihrer Sicht wegzugeben, obwohl es klar war, daß es Drou vorgezogen hätte, wenn der Beutel im Gepäckbereich befördert worden wäre.

Die Luftfähre kam elegant auf ihrer Landezone nieder, ihre Motoren heulten noch einmal auf und schwiegen dann.

»Ich möchte Hauptmann Vaagen sehen, und ich möchte ihn sofort sehen«, wiederholte Cordelia zum fünftenmal, als Illyans Männer sie unterirdisch in den Meldebereich des Sicherheitsdienstes führten.

»Jawohl, Mylady. Er ist schon unterwegs«, versicherte ihr der Sicherheitsoffizier erneut. Sie warf ihm einen finsteren, mißtrauischen Blick zu.

Vorsichtig nahmen die Sicherheitsleute ihnen ihr persönliches Waffenarsenal ab. Cordelia konnte sie dafür nicht tadeln, sie hätte ihrer wild aussehenden Mannschaft auch keine geladenen Waffen anvertraut.

Dank Ezars Geheimversteck waren die Frauen nicht schlecht gekleidet, allerdings war da nichts in Botharis Größe gewesen, und deshalb hatte er seine verräucherte und stinkende schwarze Arbeitsuniform angelassen. Glücklicherweise fielen die getrockneten Blutspritzer nicht sonderlich auf.

Aber ihrer aller Gesichter waren hohläugig, von Falten durchzogen und überschattet. Cordelia zitterte, Botharis Hände und Augenlider zuckten, und Droushnakovi hatte die beunruhigende Neigung, plötzlich und unvermittelt anzufangen, leise zu weinen, und dann ebenso plötzlich aufzuhören, wie sie begonnen hatte.

Endlich — es waren nur Minuten, sagte Cordelia sich selbst entschlossen — erschien Hauptmann Vaagen, mit einem Medizintechniker an seiner Seite. Er trug die grüne Interimsuniform und seine Schritte waren schnell, wieder die alte VaagenGeschwindigkeit. Das einzige Überbleibsel seiner Verletzungen schien die schwarze Augenklappe zu sein: sie sah an ihm gut aus und gab ihm das elegante Aussehen eines Piraten. Cordelia hoffte, daß die Klappe nur der vorübergehende Teil einer sich noch hinziehenden Behandlung war.

»Mylady!« Er brachte ein Lächeln zustande, das erste, das seit langer Zeit diese Gesichtsmuskeln verzogen hatte, empfand Cordelia. Sein eines Auge funkelte triumphierend. »Sie haben ihn!«

»Ich hoffe, Hauptmann.« Sie hielt den Replikator hoch, den zu berühren sie den Sicherheitsleuten verwehrt hatte. »Ich hoffe, wir sind noch rechtzeitig angekommen, Es leuchten noch keine roten Lichter auf, aber es gab schon ein warnendes Piepsen. Ich habe es abgeschaltet, es hätte mich verrückt gemacht.«

Er untersuchte den Deckel des Geräts und überprüfte die wichtigsten Anzeigen. »Gut, gut. Der Vorrat an Nährlösungen ist sehr niedrig, aber noch nicht leer. Die Filter funktionieren noch, der Harnsäurepegel ist hoch, aber noch nicht über dem Toleranzwert — ich denke, es ist alles in Ordnung, Mylady. Das heißt, am Leben. Was diese Unterbrechung für Auswirkungen auf meine Kalzifikationsbehandlung hatte, das zu bestimmen wird mehr Zeit erfordern. Wir werden im Lazarett sein. Ich dürfte innerhalb einer Stunde mit der Wartung beginnen können.«

»Haben Sie hier alles, was Sie brauchen? Vorräte?«

Seine weißen Zahne blitzten. »Lord Vorkosigan ließ mich einen Tag, nachdem Sie weggegangen waren, mit der Einrichtung eines Labors beginnen. Für alle Fälle, sagte er.«

Aral, ich liebe dich. »Danke sehr. Los, los!« Sie übergab den Replikator in Vaagens Hände, und er eilte damit hinaus.

Sie setzte sich wieder hin, wie eine Marionette, bei der die Fäden abgeschnitten worden waren. Nun konnte sie es sich erlauben, die volle Last ihrer Erschöpfung zu spüren. Aber sie konnte noch nicht ganz innehalten. Sie mußte noch eine sehr wichtige Information loswerden. Aber nicht an diese Trottel vom Sicherheitsdienst, die sie plagten — sie schloß die Augen und ignorierte sie demonstrativ und überließ es Drou, Antworten auf ihre törichten Fragen hervorzustammeln.

Verlangen lag im Kampf mit Furcht. Sie wollte Aral haben. Sie hatte Aral ganz offen herausgefordert. Hatte das seine Ehre berührt, sein — zugegebenermaßen ungewöhnlich flexibles — barrayaranisches männliches Ego über das Erträgliche hinaus verletzt? Würde sie für immer aus seinem Vertrauen ausgeschlossen sein? Nein, dieser Verdacht war sicher ungerecht. Aber seine öffentliche Glaubwürdigkeit unter seinesgleichen, Teil der heiklen Psychologie der Macht — hatte sie die beschädigt? Würden irgendwelche verdammten unvorhergesehenen politischen Konsequenzen aus all dem entstehen? Sorgte sie sich darum?

Ja, entschied sie traurig. Es war höllisch, so müde zu sein und sich doch Sorgen zu machen.

»Kou!«

Drous Ruf ließ Cordelia die Augen wieder aufreißen. Koudelka hinkte in das Meldebüro des Sicherheitsdienstes am Haupteingang. Guter Gott, der Mann war wieder in Uniform, rasiert und ordentlich. Nur die grauen Ringe unter seinen Augen entsprachen nicht der Vorschrift.

Kous und Drous Wiederbegegnung war, Cordelia stellte es mit Vergnügen fest, nicht im geringsten militärisch. Der Stabsoffizier war sofort von langem, schmuddeligem blondem Haar umhüllt, und sie tauschten gedämpfte unvorschriftsmäßige Grüße aus wie Liebling, Liebste, Gott sei Dank, sicher, süß … Die Sicherheitsleute wendeten sich irritiert von dem Ausbruch nackter Emotionen ab, die von den beiden Gesichtern ausstrahlten. Cordelia genoß die Szene. Eine viel vernünftigere Art, einen Freund zu begrüßen, als all das idiotische Salutieren.

Sie ließen nur voneinander ab, um sich gegenseitig noch besser sehen zu können, und hielten dabei immer noch die Hände. »Du hast es geschafft«, gluckste Droushnakovi. »Wie lang bist du — ist Lady Vorpatril …?«

»Wir sind nur etwa zwei Stunden vor euch eingetroffen«, sagte Kou atemlos und holte Luft nach einem heroischen Kuß. »Lady Vorpatril und der junge Lord liegen im Lazarett. Der Doktor sagt, sie leidet vor allem an Stress und Erschöpfung. Sie war unglaublich. Wir hatten ein paar schlimme Momente als wir an Vordarians Sicherheitsleuten vorbeikamen.Aber sie ist nicht zusammengebrochen. Und du — Du hast es geschafft! Ich bin an Vaagen auf dem Korridor vorbeigekommen, er hatte den Replikator — du hast Mylords Sohn gerettet!«

Droushnakovis Schultern sackten zusammen. »Aber wir haben Prinzessin Kareen verloren.«

»Oh.« Er berührte ihre Lippen. »Erzähl mir nichts — Lord Vorkosigan hat mich angewiesen, euch alle zu ihm zu bringen, sobald ihr eingetroffen seid. Erzählt alles zuerst ihm, vor allen anderen. Ich nehme euch jetzt mit zu ihm.« Er scheuchte die Sicherheitsleute wie Fliegen weg, etwas, das Cordelia schon hatte tun wollen.

Bothari mußte ihr beim Aufstehen helfen. Sie hob den gelben Plastikbeutel hoch. Sie bemerkte mit Ironie, daß er den Namen und das Logo eines der exklusivsten Damenbekleidungshäuser der Hauptstadt trug. Kareen umzingelt dich noch zuletzt, du Mistkerl.

»Was ist das?«, fragte Kou.

»Ja, Leutnant«, warf der aufdringliche Sicherheitsmann ein, »bitte — sie hat sich geweigert, uns das irgendwie untersuchen zu lassen. Nach den Vorschriften dürften wir sie das nicht in die Basis tragen lassen.«

Cordelia zog den Beutel oben auf und hielt ihn Kou zur Überprüfung hin. Er guckte hinein.

»Scheiße!« Die Sicherheitsleute drängten sich nach vorn, als Koudelka zurücksprang. Er winkte sie beiseite. »Ich … ich verstehe«, er schluckte. »Ja, Admiral Vorkosigan wird das sicherlich sehen wollen.«

»Leutnant, was soll ich auf meine Kontrolliste schreiben?«, sagte der Sicherheitsmann — quengelnd, entschied Cordelia, war sein Ton. »Ich muß es registrieren, wenn es hineingebracht wird.«

»Bringen Sie ihn endlich zum Schweigen, Kou«, seufzte Cordelia.

Kou schaute nochmal in den Beutel und seine Lippen verzogen sich zu einem listigen Grinsen. »Geht in Ordnung. Tragen Sie es ein als ein Winterfest-Geschenk für Admiral Vorkosigan. Von seiner Frau.«

»O Kou«, Drou hielt ihm sein Schwert hin, »ich habe das gerettet. Aber wir haben leider die Hülle verloren.«

Kou nahm es, schaute auf den Sack, erkannte die Verbindung zwischen beiden und trug das Schwert sorgsamer. »Das ist … das ist in Ordnung. Danke sehr.«

»Ich nehme es noch mal zu Siegling und lasse ein Duplikat der Hülle anfertigen«, versprach Cordelia.

Der Sicherheitsmann gab Admiral Vorkosigans oberstem Adjutanten den Weg frei. Kou führte Cordelia, Bothari und Drou in die Basis. Cordelia zog die Schnur fest zu und ließ den Beutel von ihrer Hand baumeln.

»Wir gehen hinab auf die Stabsebene. Der Admiral ist seit einer Stunde in einer absolut geheimen Sitzung. Zwei von Vordarians obersten Offizieren sind gestern abend heimlich hier eingetroffen. Sie verhandeln darüber, ihn zu verraten. Der beste Plan zur Rettung der Geiseln beruht auf ihrer Kooperation.«

»Wußten sie schon davon?« Cordelia hielt den Beutel hoch.

»Ich glaube nicht, Mylady. Sie haben gerade alles verändert.« Er grinste grimmig, und seine ungleichen Schritte wurden länger.

»Ich nehme an, daß dieses Kommandounternehmen noch notwendig ist«, seufzte Cordelia. »Selbst im Zusammenbruch ist Vordarians Seite noch gefährlich. Vielleicht noch gefährlicher, in ihrer Verzweiflung.« Sie dachte an jenes Hotel im Zentrum von Vorbarr Sultana, wo Botharis kleine Tochter Elena immer noch, soweit sie wußte, untergebracht war.

Geringere Geiseln. Konnte sie Aral dazu überreden, für geringere Geiseln noch etwas mehr Kräfte einzuteilen? Leider hatte sie wahrscheinlich noch nicht einmal jetzt all die Soldaten arbeitslos gemacht. Ich habe es versucht. Mein Gott, ich habe es versucht.

Sie gingen hinab und immer weiter hinab, ins Nervenzentrum von Basis Tanery. Sie kamen zu einem hochgesicherten Konferenzraum, davor stand eine bis zu den Zähnen bewaffnete Gruppe Soldaten kerzengerade Wache.

Koudelka hieß sie zur Seite treten. Die Türen glitten auf und schlossen sich wieder hinter ihnen.

Cordelia nahm die Szene in sich auf, wo jeder innehielt, um von dem polierten Tisch zu ihr aufzuschauen. Aral war in der Mitte, natürlich.

Illyan und Graf Piotr flankierten ihn auf beiden Seiten. Premierminister Vortala war da und Kanzian und ein paar andere hohe Stabsoffiziere, alle in der formellen grünen Uniform. Die beiden Doppelspieler mit ihren Adjutanten saßen auf der Gegenseite. Ganze Rudel von Zeugen. Sie wollte mit Aral allein sein, ohne die ganze verdammte Bande. Bald.

Arals Blicke trafen die ihren in schweigendem Schmerz. Seine Lippen kräuselten sich zu einem äußerst ironischen Lächeln. Das war alles, und doch wurde es ihr wieder innerlich warm vor Zuversicht, sie war sich seiner sicher. Kein Frost. Es würde alles gut sein. Sie waren wieder im Gleichschritt, und selbst eine Sturzflut von Worten und heftigen Umarmungen hätte das nicht besser mitteilen können. Umarmungen würden jedoch kommen, das versprachen die grauen Augen. Ihre eigenen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, zum erstenmal seit — wann?

Graf Piotrs Hand schlug hart auf den Tisch. »Guter Gott, Frau, wo bist du gewesen?«, schrie er zornig.

Eine morbide Verrücktheit ergriff von ihr Besitz. Sie lächelte ihn grimmig an und hielt den Beutel hoch. »Einkaufen.«

Eine Sekunde lang glaubte ihr der alte Mann fast, widerstreitende Gefühle zeichneten sich auf seinem Gesicht ab: Erstaunen, Zweifel, dann Ärger, als ihm klar wurde, daß er auf den Arm genommen wurde.

»Willst du sehen, was ich gekauft habe?«, fuhr Cordelia fort, die sich immer noch treiben ließ. Sie riß den Beutel auf und rollte Vordarians Kopf heraus, über den Tisch. Glücklicherweise hatte er schon vor ein paar Stunden aufgehört zu bluten. Er kam mit dem Gesicht nach oben vor Piotr zum Halt, mit grinsenden Lippen und starren, austrocknenden Augen.

Piotr blieb der Mund offen stehen, Kanzian sprang auf, die Stabsoffiziere fluchten, und einer von Vordarians Verrätern schreckte so sehr zurück, daß er von seinem Stuhl fiel. Vortala schürzte die Lippen und hob die Augenbrauen. Koudelka, der grimmigen Stolz empfand ob seiner Schlüsselrolle in der Inszenierung dieser historischen Vorführung der Kunst, den anderen immer voraus zu sein, legte den Stockdegen als weiteres Beweisstück auf den Tisch. Illyan schnaufte vernehmlich, dann wich seine Überraschung einem triumphierenden Grinsen.

Aral war perfekt. Seine Augen weiteten sich nur für einen Moment, dann stützte er sein Kinn in die Hände und blickte über die Schultern seines Vaters mit einem Ausdruck kühlen Interesses. »Aber natürlich«, sagte er leise, »jede Vor-Lady geht in die Hauptstadt zum Einkaufen.«

»Ich habe aber zu viel dafür bezahlt«, gestand Cordelia.

»Auch das entspricht der Tradition.« Ein sardonisches Lächeln verzog seine Lippen.

»Kareen ist tot. In dem Handgemenge erschossen. Ich konnte sie nicht retten.«

Aral öffnete seine Hand, als ob er den aufkeimenden schwarzen Humor durch seine Finger fallen ließe. »Ich verstehe.« Er hob wieder seinen Blick zu ihr, als fragte er: Bist du heil davongekommen? und fand anscheinend die Antwort: Nein.

»Meine Herren. Würden Sie sich bitte eine paar Minuten nach draußen begeben? Ich möchte mit meiner Frau allein sein.«

In dem Durcheinander von Stühlerücken und Aufstehen hörte Cordelia jemanden murmeln: »Tapferer Mann …«

Sie faßte Vordarians Männer fest ins Auge, als sie vom Tisch zurücktraten. »Meine Herren Offiziere, ich empfehle Ihnen, daß Sie sich, sobald diese Konferenz fortgesetzt wird, bedingungslos der Gnade von Lord Vorkosigan ergeben. Vielleicht hat er sie noch.« Ich sicherlich nicht mehr, war die unausgesprochene Botschaft. »Ich bin Ihres dummen Krieges müde. Beenden Sie ihn.«

Piotr schob sich an ihr vorbei. Sie lächelte ihn bitter an. Er verzog verlegen das Gesicht. »Es scheint, als hätte ich dich unterschätzt«, murmelte er.

»Komm mir niemals mehr … in die Quere. Und halte dich von meinem Sohn fern.«

Ein Blick von Vorkosigan hielt sie davon ab, ihren Zorn über ihn zu ergießen. Sie und Piotr nickten sich vorsichtig zu, es war, als tauschten zwei Duellanten rudimentäre Verbeugungen aus.

»Kou«, sagte Vorkosigan und blickte nachdenklich auf das gräßliche Objekt, das neben seinem Ellbogen lag, »sorgen Sie bitte dafür, daß dieses Ding in die Leichenhalle der Basis gebracht wird. Ich schätze es nicht als Tischdekoration. Es muß aufbewahrt werden, bis es mit dem Rest von ihm bestattet werden kann. Wo immer das auch sein mag.«

»Sind Sie sicher, daß Sie es nicht hierlassen wollen, um Vordarians Offiziere zu inspirieren, endlich mit uns einig zu werden?«, sagte Kou.

»Nein«, sagte Vorkosigan bestimmt. »Es hatte schon einen ausreichend heilsamen Effekt.«

Kou nahm vorsichtig den Beutel von Cordelia und benutzte ihn, um Vordarians Kopf an sich zu nehmen, ohne ihn tatsächlich zu berühren.

Aral betrachtete ihr müdes Team, Droushnakovis Kummer, Botharis zwanghaftes Zucken. »Drou, Sergeant. Sie können gehen, um sich zu waschen und zu essen. Berichten Sie mir später in meinem Quartier, wenn wir hier fertig sind.«

Droushnakovi nickte, der Sergeant salutierte, und sie folgten Koudelka nach draußen.

Cordelia fiel in Arals Arme, als sich die Tür seufzend schloß, in seinen Schoß, als sie ihn umfing, wie er gerade für sie aufstand. Sie beide landeten mit soviel Wucht, daß beinahe der Stuhl umgekippt wäre. Sie umarmten sich so fest, daß sie wieder ein Schritt zurücktreten mußten, um einen Kuß fertigzubringen.

»Mach nie wieder«, sagte er mit heiserer Stimme, »einen solchen Trick.«

»Laß ihn nie wieder notwendig werden.«

»Einverstanden.«

Er hielt ihr Gesicht ein Stück weg, zwischen seinen Händen, und verschlang sie mit den Augen. »Ich hatte solche Angst um dich, daß ich vergaß, Angst für deine Feinde zu haben. Ich hätte mich erinnern sollen, lieber Captain.«

»Allein hätte ich überhaupt nichts fertiggebracht. Drou war mein Auge, Bothari mein rechter Arm, Koudelka unser Fuß. Du mußt Kou verzeihen, daß er sich unerlaubt von Dienst entfernt hat. Wir haben ihn praktisch gekidnappt.«

»Das habe ich schon gehört.«

»Hat er dir von deinem Cousin Padma erzählt?«

»Ja«, antwortete Aral mit einem traurigen Seufzer. Er starrte in die Vergangenheit. »Padma und ich haben als einzige von Prinz Xavs Nachkommen das Massaker von Yuri dem Wahnsinnigen an jenem Tag überlebt. Ich war elf jähre alt, Padma war ein einjähriges Baby … Ich habe seitdem von ihm immer als dem Baby gedacht. Versuchte, auf ihn aufzupassen … Nun bin ich der einzige, der übrig ist. Yuris Werk ist fast vollendet.«

»Botharis Elena. Sie muß gerettet werden. Sie ist viel viel wichtiger als der ganze Stall voller Grafen in der Residenz.«

»Wir arbeiten gerade daran«, versprach er. »Höchste Priorität, nachdem du jetzt dafür gesorgt hast, daß man Kaiser Vidal nicht mehr in Betracht ziehen muß.« Er machte eine Pause und lächelte bedächtig. »Ich fürchte, du hast meine Barrayaraner geschockt, Liebste.«

»Warum? Dachten sie, sie hätten ein Monopol auf Barbarei. Vordarians letzte Worte waren: ›Sie sind eine Betanerin. Sie können das nicht tun.‹«

»Was tun?«

»Das hier, hätte er wohl gesagt, nehme ich an. Wenn er die Chance gehabt hätte.«

»Da hast du ja eine unheimliche Trophäe im Monorail mit dir geführt. Stell dir vor, jemand hätte dich gebeten, den Beutel zu öffnen?«

»Ich hätte es getan.«

»Bist du … ganz in Ordnung, Liebste?« Sein Mund war ernst, unter seinem Lächeln.

»Meinst du damit, ob ich meinen gesunden Menschenverstand verloren habe? Ja, ein bißchen. Mehr als ein bißchen.« Ihre Hände zitterten noch, wie sie es schon einen Tag lang getan hatten, ein anhaltender Tremor, der nicht verging. »Es erschien mir … notwendig, Vordarians Kopf mitzubringen. Ich hatte nicht wirklich daran gedacht, ihn an der Wand im Palais Vorkosigan neben den Jagdtrophäen deines Vaters zu befestigen, obwohl das eine Idee wäre. Ich glaube nicht, daß mir bewußt klar war, warum ich ihn nicht zurückließ, bis ich diesen Raum betrat. Wenn ich hier mit leeren Händen hereingestolpert wäre und all diesen Männern erklärte hätte, ich hätte Vordarian getötet, und hätte dann ihren Krieg für erledigt erklärt, wer hätte mir geglaubt? Außer dir.«

»Illyan vielleicht. Er hat dich schon vorher in Aktion gesehen. Die anderen … da hast du ganz recht.«

»Ich glaube, ich hatte auch irgendeinen Gedanken im Kopf aus der alten Geschichte. Pflegte man nicht die Leichen erschlagener Herrscher öffentlich zur Schau stellen, um falsche Thronbewerber unmöglich zu machen? Das schien angemessen. Obwohl von meinem Standpunkt aus gesehen Vordarian fast eine Nebensache war.«

»Der Sicherheitsmann, der dich begleitet hat, hat mir berichtet, daß du den Replikator zurückgebracht hast, Hat er noch funktioniert?«

»Vaagen hat ihn jetzt und überprüft ihn. Miles lebt. Schaden noch unbekannt. Ach ja, es sieht aus, als hätte Vordarian bei Evon Vorhalas die Hand im Spiel gehabt. Nicht direkt, sondern durch einen Mittelsmann.«

»Illyan hatte schon den Verdacht.« Seine Arme umschlangen sie fest.

»Wegen Bothari«, sagte sie. »Er ist in keiner guten Verfassung. Irgendwie überanstrengt. Er braucht echte Behandlung, eine medizinische, nicht eine politische. Diese Gedächtnislöschung war eine Horrorshow.«

»Zu jener Zeit hat sie ihm das Leben gerettet. Mein Kompromiß mit Ezar. Ich hatte damals keine Macht. Ich kann jetzt etwas besseres bewirken.«

»Das solltest du tun. Er ist auf mich fixiert wie ein Hund. Seine Worte. Und ich habe ihn wie einen Hund benutzt. Ich schulde ihm … alles. Aber er macht mir Angst. Warum mir?«

Vorkosigan sah sehr nachdenklich aus. »Bothari … hat kein gutes Selbstwertgefühl. Keine starke Mitte. Als ich ihn zuerst traf, als es ihm am schlechtesten ging, da war seine Persönlichkeit nahe daran, sich in viele Teile aufzulösen. Wenn er eine bessere Erziehung gehabt hätte und nicht so beeinträchtigt wäre, dann hätte er einen idealen Spion abgegeben, einen Maulwurf, der tief eindringen könnte. Er ist ein Chamäleon. Ein Spiegel.

Er wird, was auch immer man von ihm verlangt. Kein bewußter Prozeß, glaube ich. Piotr erwartet einen loyalen Gefolgsmann, und Bothari spielt die Rolle, todernst, wie man es von ihm wünscht. Vorrutyer wollte ein Monster haben, und Bothari wurde sein Folterer. Und Opfer. Ich verlangte einen guten Soldaten, und er wurde einer für mich. Du …« — seine Stimme wurde weich — »du bist die einzige Person, die ich kenne, die Bothari anschaut und einen Helden sieht. So wird er einer für dich. Er klammert sich an dich, weil du aus ihm einen größeren Mann machst, als er je in seinen Träumen war.«

»Aral, das ist verrückt.«

»So?« Er schnupperte an ihrem Haar. »Aber er ist nicht der einzige Mann, auf den du diese eigenartige Wirkung hast. Lieber Captain.«

»Ich fürchte, ich bin in keiner viel besseren Verfassung als Bothari. Ich habe es verpfuscht, und Kareen ist gestorben. Wer wird das Gregor sagen? Wenn es nicht um Miles gegangen wäre, dann hätte ich aufgegeben. Halte Piotr fern von mir, oder ich schwöre, daß ich ihn das nächstemal in der Luft zerreiße.« Sie zitterte wieder.

»Pst.« Er schaukelte sie ein wenig. »Ich denke, du kannst wenigstens das Aufräumen mir überlassen, oder? Wirst du mir wieder vertrauen? Wir müssen etwas aus diesen Opfern machen. Sie sollen nicht vergeblich sein.«

»Ich fühle mich schmutzig. Ich fühle mich krank.«

»Ja, den meisten seelisch gesunden Menschen geht es so, wenn sie von einem Kampfauftrag zurückkommen. Es ist ein vertrauter Geisteszustand.« Er machte eine Pause. »Aber wenn eine Betanerin so barrayaranisch werden kann, dann ist es vielleicht nicht so unmöglich für Barrayaraner, ein bißchen mehr betanisch zu werden. Veränderung ist möglich.«

»Veränderung ist unvermeidlich«, betonte sie. »Aber du kannst sie nicht mit Ezars Methode bewirken. Das ist nicht mehr Ezars Ära. Du mußt deinen eigenen Weg finden. Mache diese Welt zu einer, in der Miles überleben kann. Und Elena. Und Ivan. Und Gregor.«

»Wie Sie wünschen, Mylady.«

Am dritten Tag nach Vordarians Tod fiel die Hauptstadt an loyale kaiserliche Truppen, wenn auch nicht ohne Schießen, so zumindest nicht auf annähernd so blutige Weise, wie Cordelia gefürchtet hatte. Nur zwei Widerstandsnester, in der Sicherheitszentrale und in der Residenz selbst, mußten von Bodentruppen eingenommen werden. Das Hotel im Stadtzentrum mit seinen Geiseln wurde von seiner Besatzung kampflos übergeben, nach Stunden intensiver geheimer Verhandlungen. Piotr gab Bothari einen Tag Urlaub, damit er sein Kind und dessen Pflegemutter holen und nach Hause begleiten konnte. Cordelia schlief in dieser Nacht zum erstenmal seit ihrer Rückkehr durch.

Evon Vorhalas hatte für Vordarian in der Hauptstadt Bodentruppen befehligt, er war verantwortlich für die letzte Verteidigung des Weltraumkommunikationszentrums im Komplex des militärischen Hauptquartiers. Er starb in den letzten Zuckungen der Kämpfe, erschossen von seinen eigenen Leuten, als er ein Angebot der Amnestie für ihre Kapitulation ablehnte. Irgendwie war Cordelia erleichtert. Die traditionelle Strafe für den Verrat eines Vor-Lords war öffentliche Zurschaustellung und Tod durch Verhungern. Der verstorbene Kaiser Ezar hatte nicht gezögert, diese grausame Tradition aufrechtzuerhalten. Cordelia konnte nur darum beten, daß unter Gregors Herrschaft diese Sitte sterben würde.

Ohne den Zusammenhalt durch Vordarian zerbrach seine Rebellenkoalition schnell in verschiedene Splittergruppen. Ein extrem konservativer Vor-Lord in der Stadt Federstok erhob seine Standarte und erklärte sich zum Kaiser, in der Nachfolge von Vordarian, seine Rolle als Thronprätendent dauerte etwas weniger als dreißig Stunden. In einem östlichen Küstendistrikt, der einem von Vordarians Verbündeten gehörte, beging der Graf nach der Eroberung Selbstmord. In dem Chaos rief eine AntiVor-Gruppe die Republik aus. Der neue Graf, ein Infanterieoberst aus einer Nebenlinie der Familie, der nie erwartet hatte, daß ihm eine solche Ehre zufiele, erhob sofort wirksame Einwände gegen diesen heftigen Schwenk ins allzu Progressive. Vorkosigan überließ es ihm und seiner Distriktsmiliz und reservierte die kaiserlichen Truppen für nicht distriktsinterne Angelegenheiten, »Du kannst nicht auf halbem Wege haltmachen«, murmelte Piotr Unheil witternd ob solchen Taktgefühls.

»Einen Schritt nach dem anderen«, erwiderte Vorkosigan grimmig, »so kann ich die ganze Welt umrunden. Schau mir nur zu.«

Am fünften Tag wurde Gregor zurück in die Hauptstadt gebracht.

Vorkosigan und Cordelia nahmen es beide zusammen auf sich, ihm von Kareens Tod zu erzählen, Er weinte verwirrt. Als er wieder ruhig war, wurde er in einem Bodenwagen mit einem durchsichtigen Schutzschirm zu einer Truppenbesichtigung gefahren, tatsächlich besichtigten die Truppen ihn, damit er lebendig gesehen wurde und so schließlich Vordarians Gerüchte über seinen Tod zerstreute. Cordelia fuhr mit ihm.

Seine stille Verstörtheit tat ihr im Herzen weh, aber es war ihrer Meinung nach besser so, als wenn man zuerst vor ihm paradiert und dann erst über Kareen erzählt hätte. Wenn sie es in diesem Falle hätte ertragen müssen, daß er während der ganzen Fahrt immer wieder gefragt hätte, wann er denn seine Mutter wieder sehen könnte, dann wäre sie am Ende selbst zusammengebrochen.

Kareens Bestattung war öffentlich, allerdings viel weniger zeremoniös, als sie unter weniger chaotischen Umständen stattgefunden hätte. Zum zweiten Mal in einem Jahr mußte Gregor ein Opferfeuer entzünden. Vorkosigan bat Cordelia, Gregors Hand mit der Fackel zu führen. Dieser Teil der Trauer-Zeremonie erschien ihr fast überflüssig nach dem, was sie der Residenz angetan hatte. Cordelia warf eine üppige Locke ihres eigenen Haars in das Feuer. Gregor klammerte sich eng an sie.

»Werden die mich auch umbringen?«, flüsterte er ihr zu. Er klang dabei nicht geängstigt, sondern nur auf morbide Weise neugierig. Vater, Großvater, Mutter — alle in einem Jahr gestorben: kein Wunder, daß er sich als Ziel fühlte, obwohl in seinem Alter sein Verständnis für den Tod noch konfus war.

»Nein«, sagte sie entschlossen. Ihr Arm faßte kräftiger um seine Schulter. »Ich werde sie nicht lassen.« Gott helfe ihr, diese unbegründete Zusicherung schien ihn wirklich zu trösten.

Ich werde für deinen Sohn sorgen, Kareen, dachte Cordelia, als die Flammen emporloderten. Dieser Schwur war teurer als alle Geschenke, die da verbrannt wurden, denn er band ihr Leben untrennbar an Barrayar. Aber die Hitze auf ihrem Gesicht milderte ein wenig den Schmerz in ihrem Kopf.

Cordelias Seele fühlte sich wie eine erschöpfte Schnecke, in einer Schale aus gläserner Benommenheit. Sie bewegte sich wie ein Automat durch den Rest der Zeremonie, obwohl es blitzartige Augenblicke der Klarheit gab, wenn ihre Umgebung überhaupt keinen Sinn machte. Die versammelten barrayaranischen Vor reagierten auf sie mit einer starren, tiefen Förmlichkeit. Sie halten mich sicher für verrückt und gefährlich, eine Wahnsinnige, die von allzu nachsichtigen Verwandten aus der Dachkammer gelassen wurde. Schließlich dämmerte es ihr, daß die übertriebenen Höflichkeiten der Vor Respekt bedeuteten.

Es machte sie wütend. Kareens ganze Tapferkeit des Erduldens hatte ihr nichts gebracht. Lady Vorpatrils tapfere und blutige Entbindung wurde für selbstverständlich genommen, aber wenn man irgendeinem Idioten den Kopf abschlägt, dann war man wirklich jemand — bei Gott!

Aral brauchte, als sie zu seinem Quartier zurückgekehrt waren, eine Stunde, um sie zu beruhigen, und dann hatte sie einen Weinkrampf. Er hielt es aus.

»Wirst du davon Gebrauch machen?«, fragte sie, als die pure Müdigkeit sie wieder zu einem Anschein von Gefaßtheit brachte. »Von diesem, diesem … meinem erstaunlichen neuen Status?« Wie sie das Wort verabscheute, das in ihrem Mund so sauer schmeckte.

»Ich werde alles gebrauchen«, versprach er ruhig, »wenn es mir helfen wird, in fünfzehn Jahren Gregor als geistig gesunden und fähigen Mann auf den Thron zu bringen, der eine stabile Regierung führt. Dich gebrauchen, mich gebrauchen, was immer notwendig ist. So viel zu zahlen und dann zu scheitern, das wäre unerträglich.«

Sie seufzte und legte ihre Hand in die seine. »Im Falle eines Unfalls spende auch meine übriggebliebenen Körperteile. Das ist die betanische Sitte. Vergeude nichts.«

Er schürzte hilflos seine Lippen. Gesicht an Gesicht lehnten sie einen Augenblick lang ihre Stirnen aneinander und umarmten sich. »Das will ich nicht.«

Ihr stummes Versprechen an Kareen wurde zur Politik, als sie und Aral vom Rat der Grafen offiziell zu Gregors Vormunden bestellt wurden. Das war juristisch irgendwie verschieden von Arals Vormundschaft des Reiches als Regent. Premierminister Vortala nahm sich die Zeit, ihr darüber einen Vortrag zu halten und ihr klarzumachen, daß ihre neuen Pflichten keinerlei politische Vollmachten einschlossen. Sie hatte wirtschaftliche Funktionen, einschließlich der Treuhänderschaft über gewisse Vorbarra-Besitztümer, die vom kaiserlichen Besitz getrennt waren und strikt zu Gregors Titel als Graf Vorbarra gehörten. Und durch Arals Auftrag erhielt sie die Aufsicht über den Haushalt des Kaisers. Und seine Erziehung.

»Aber, Aral«, sagte Cordelia verwirrt, »Vortala hat betont, daß ich keine Macht hätte.«

»Vortala … ist nicht allwissend. Sagen wir einfach, er hat ein bißchen Schwierigkeiten, gewisse Formen der Macht zu erkennen, die nicht gleichbedeutend mit Gewalt sind. Die Möglichkeit deiner Einflußnahme ist allerdings beschränkt, denn mit zwölf Jahren wird Gregor in eine Vorbereitungsschule auf die Akademie eintreten.«

»Aber können die denn erkennen …?«

»Ich kann es. Und du kannst es. Das ist genug.«

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