Als Cordelia am nächsten Morgen erwachte, war Vorkosigan schon weggegangen, und sie selbst fand sich konfrontiert mit dem ersten Tag auf Barrayar ohne seinen Beistand. Sie entschloß sich, den Tag dem Kauf zu widmen, der ihr in den Sinn gekommen war, als sie am Abend zuvor beobachtet hatte, wie Koudelka sich mit der Wendeltreppe abmühte. Sie vermutete, daß Droushnakovi die ideale einheimische Führerin für das war, was sie vorhatte.
Sie kleidete sich an und machte sich auf die Suche nach ihrer Leibwächterin. Es war nicht schwer, sie zu finden: Droushnakovi saß im Flur, direkt vor der Tür des Schlafzimmers, sie sprang auf und nahm Haltung an, als Cordelia erschien. Das Mädchen sollte wirklich eine Uniform tragen, überlegte Cordelia. Das Kleid, das sie trug, ließ sie mit ihren gut ein Meter achtzig und ihrer ausgezeichneten Muskulatur schwerfällig erscheinen. Cordelia fragte sich, ob sie als Gemahlin des Regenten das Recht auf eine eigene Livree hätte, und während des Frühstücks war sie in Gedanken damit beschäftigt, eine Livree zu entwerfen, die des Mädchens walkürenhaftes gutes Aussehen hervorheben würde.
»Wissen Sie, Sie sind die erste barrayaranische Leibwächterin, die ich getroffen habe«, bemerkte Cordelia bei Ei und Kaffee und einer Art von gedünsteter einheimischer Hafergrütze mit Butter, die hier offensichtlich den Schwerpunkt des Frühstücks bildete. »Wie sind Sie zu dieser Arbeit gekommen?«
»Nun, ich bin nicht eine wirkliche Wache, wie die Männer in Livree …«
Aha, wieder der Zauber der Uniform.
»… aber mein Vater und alle meine drei Brüder sind im Armeedienst. Damit bin ich so nah dran, wie ich kann, ein wirklicher Soldat zu sein wie Sie.«
Vernarrt ins Militär, wie alle hier auf Barrayar. »Ja?«
»Als ich jünger war, habe ich Judo als Sport getrieben. Aber ich war zu groß für die Frauenkurse. Niemand konnte mir echte Praxis vermitteln, und im übrigen war es so langweilig, all die Katas zu absolvieren. Meine Brüder schmuggelten mich mit sich in die Männerkurse. Eins kam zum anderen. Als ich noch in der Schule war, war ich zwei Jahre hintereinander barrayaranische Nationalmeisterin. Dann trat vor drei Jahren ein Mann von Oberst Negris Stab an meinen Vater heran mit dem Angebot eines Postens für mich. Da bekam ich dann Waffenausbildung.
Es scheint, daß die Prinzessin seit Jahren um weibliche Wachen gebeten hat, aber es war sehr schwierig, jemanden zu finden, der all die Tests bestehen konnte. Obwohl«, sie lächelte selbstkritisch, »die Dame, die das Attentat auf Admiral Vorrutyer verübt hat, wohl kaum meine geringen Dienste benötigen dürfte.«
Cordelia biß sich auf die Zunge. »Hm, ich hatte Glück. Außerdem würde ich mich gerade jetzt gerne aus handgreiflichen Verwicklungen heraushalten. Ich bin schwanger, wissen Sie.«
»Ja, Mylady. Es war in einem von Oberst …«
»Negris Berichten«, beendete Cordelia den Satz unisono mit Droushnakovi. »Ich bin sicher, daß es das war. Er wußte es vermutlich eher als ich.«
»Ja, Mylady.«
»Wurden Sie als Kind in Ihren Interessen sehr gefördert?«
»Nicht … wirklich. Alle dachten, ich sei einfach seltsam.« Sie legte die Stirn in tiefe Falten, und Cordelia hatte die Empfindung, daß sie schmerzliche Erinnerungen aufrührte.
Sie betrachtete das Mädchen nachdenklich. »Ältere Brüder?«
Droushnakovi erwiderte den Blick mit großen, blauen Augen: »Ja, warum?«
»Hab ich mir so vorgestellt.« Und ich habe Barrayar für das gefürchtet, was es seinen Söhnen antat. Kein Wunder, daß sie Schwierigkeiten haben, jemanden zu bekommen, der die Tests besteht. »So, Sie haben also Waffenausbildung gehabt. Ausgezeichnet. Sie können mich heute auf meiner Einkaufsfahrt begleiten.«
Ein leichter Schatten zog über Droushnakovis Gesicht. »Jawohl, Mylady. Welche Art von Kleidung wollen Sie anschauen?«, fragte sie höflich und konnte dabei ein dumpfe Enttäuschung über die Interessen ihrer wirklichen Soldatin nicht ganz verbergen.
»Wohin würden Sie in dieser Stadt gehen, um einen wirklich guten Stockdegen zu kaufen?«
Der Schatten verschwand. »Oh, ich kenne nur die Adresse, wo die Offiziere der Vor hingehen, und die Grafen, um ihre Livrierten auszurüsten. Das heißt: ich war nie innen drin. Meine Familie gehört nicht zu den Vor, und deshalb dürfen wir natürlich keine persönlichen Waffen besitzen. Nur Dienstwaffen. Aber man sagt von diesem Laden, er sei der beste.«
Einer von Graf Vorkosigans livrierten Wächtern chauffierte sie zu dem Laden. Cordelia entspannte sich und genoß den Blick auf die vorüberziehende Stadt. Droushnakovi, ganz im Dienst, blieb wachsam, ihre Blicke glitten unablässig prüfend über all die Menschenmengen rundum. Cordelia hatte das Gefühl, daß ihr kaum etwas entging. Immer wieder wanderte ihre Hand prüfend zu der Betäubungswaffe, die sie an der Innenseite ihres bestickten Bolero verborgen trug.
Sie bogen in einen sauberen, engen Straßenzug von älteren Gebäuden mit gemeißelten Steinfassaden ein. Das Waffengeschäft war nur durch seinen Namen gekennzeichnet, Siegling, in diskreten Goldbuchstaben.
Offensichtlich sollten nur die Eingeweihten wissen, wo sie sich hier befanden. Der Livrierte wartete draußen, während Cordelia und Droushnakovi den Laden betraten, einen Raum mit dicken Teppichen und Holztäfelung und etwas von dem Geruch nach Waffenkammer, an den sich Cordelia von ihrem Raumschiff her erinnerte, ein seltsam heimatlicher Hauch an einem fremden Ort. Sie staunte heimlich über die Holztäfelung und schätzte in Gedanken ihren Wert in betanischen Dollar.
Eine ganze Menge betanischer Dollar. Aber Holz schien hier fast so gewöhnlich wie Plastik zu sein, und ebenso gering geachtet. Jene persönlichen Waffen, deren Besitz für die oberen Klassen legal war, waren in Vitrinen und an den Wänden elegant zur Schau gestellt. Außer Betäubungs- und Jagdwaffen gab es eine beachtliche Menge von Schwertern und Dolchen, die strengen kaiserlichen Edikte gegen das Duellieren untersagten offensichtlich nur ihren Gebrauch, nicht ihren Besitz.
Der Verkäufer, ein leiser älterer Mann mit zusammengekniffenen Augen, trat an sie heran. »Was kann ich für die Damen tun?«, fragte er freundlich genug. Cordelia vermutete, daß Frauen aus der Klasse der Vor gelegentlich hierherkamen, um Geschenke für ihre männlichen Verwandten zu kaufen. Aber er könnte in genau dem gleichen Ton gesagt haben: Was kann ich für euch Kinder tun? Herabsetzung durch Körpersprache? Ach, laß es nur.
»Ich suche einen Stockdegen, für einen Mann von etwa ein Meter neunzig.
Sollte ungefähr, ja, so lang sein«, sie rief sich Koudelkas Armund Beinlänge in Erinnerung, schätzte sie ab und zeigte sie mit einer Geste in der Höhe ihrer Hüfte an. »Mit einer Scheide mit Sprungfeder, vermutlich.«
»Jawohl, Madame.« Der Angestellte verschwand und kehrte dann mit einem Exemplar zurück, das in kunstvoll geschnitztem hellem Holz gehalten war.
»Das wirkt ein bißchen … ich weiß nicht.« Protzig. »Wie funktioniert es?«
Der Verkäufer demonstrierte den Federmechanismus. Die hölzerne Scheide fiel ab und enthüllte eine lange, dünne Klinge. Cordelia streckte ihre Hand aus, und der Angestellte reichte ihr, ziemlich widerstrebend, die Klinge zur Prüfung.
Sie drehte sie ein wenig, schaute daran entlang und gab sie dann an ihre Leibwächterin weiter. »Was denken Sie darüber?«
Droushnakovi lächelte zuerst, dann runzelte sie zweifelnd die Stirn. »Sie ist nicht ganz ausgewogen.« Sie blickte unsicher zu dem Verkäufer.
»Denken Sie daran, daß Sie für mich arbeiten, nicht für ihn«, sagte Cordelia, die richtig erkannt hatte, daß hier Klassenbewußtsein am Werk war.
»Ich glaube nicht, daß das eine sehr gute Klinge ist.«
»Das ist ausgezeichnete Darkoi-Qualität, Madame«, rechtfertigte sich der Verkäufer kühl.
Lächelnd nahm Cordelia die Klinge zurück. »Dann wollen wir Ihre Hypothese mal testen.«
Sie hob die Klinge plötzlich zum Salut und machte dann einen geschickten Ausfall in Richtung der Wand. Die Spitze drang in das Holz und blieb darin stecken, und Cordelia stützte sich darauf. Die Klinge sprang entzwei. Kühl gab sie die Stücke dem Verkäufer zurück. »Wie bleiben Sie eigentlich im Geschäft, wenn Ihre Kunden nicht lange genug überleben, um einen zweiten Kauf zu tätigen? Siegling hat seinen Ruf bestimmt nicht durch den Verkauf solcher Spielzeuge bekommen. Bringen Sie mir etwas, das ein anständiger Soldat tragen kann, nicht ein Spielzeug für einen Zuhälter.«
»Madame«, sagte der Angestellte spröde, »ich muß darauf bestehen, daß die beschädigte Ware bezahlt wird.«
Cordelia, zutiefst gereizt, sagte: »Gut, schicken Sie die Rechnung an meinen Gatten, Admiral Aral Vorkosigan, im Palais Vorkosigan. Bei der Gelegenheit können Sie dann auch erklären, warum Sie an seine Frau Schund abgeben wollten, Feldwebel.« Das letztere war nur geraten, aufgrund seines Alters und seiner Gangart, aber sie konnte an seinen Augen ablesen, daß sie ins Schwarze getroffen hatte.
Der Verkäufer verneigte sich tief. »Ich bitte um Verzeihung, Mylady. Ich glaube, ich habe etwas tauglicheres, wenn Mylady bitte warten wollen.«
Er verschwand wieder, und Cordelia seufzte: »Es ist viel leichter, bei Maschinen zu kaufen. Aber wenigstens funktioniert hier die Berufung auf die Autorität des Hauptquartiers genauso gut wie zu Hause.«
Das nächste Exemplar war schlichtes schwarzes Holz, mit einer Oberfläche wie Satin. Der Verkäufer überreichte es ihr ungeöffnet, mit einer weiteren kleinen Verbeugung. »Sie drücken den Griff hier, Mylady.«
Dieser Stockdegen war viel schwerer als der erste. Die Scheide sprang blitzschnell ab und landete mit einem befriedigenden Knall an der Wand auf der anderen Seite des Raumes — schon das war fast eine eigene Waffe. Cordelia untersuchte wieder die Klinge. Ein seltsames Muster wie ein Wasserzeichen changierte im Licht entlang der Klinge. Sie salutierte erneut vor der Wand und fing den Blick des Angestellten auf. »Geht das auf Ihr Gehalt?«
»Nur los, Mylady.« In seinen Augen glomm Genugtuung auf. »Diese können Sie nicht zerbrechen.«
Sie unterzog die Klinge dem gleichen Test wie die andere. Die Spitze drang viel tiefer in das Holz, und obwohl sie sich mit all ihrer Kraft darauf stützte, konnte sie sie kaum biegen. Trotzdem vertrug die Klinge noch mehr Biegung, Cordelia konnte spüren, daß sie noch lange nicht die Grenze ihrer Zugfestigkeit erreicht hatte. Sie überreichte die Waffe Droushnakovi, die sie liebevoll untersuchte.
»Die ist gut, Madame. Die ist es wert.«
»Ich bin sicher, er wird sie mehr als Stock denn als Schwert benutzen. Nichtsdestoweniger … sie sollte es tatsächlich wert sein. Die nehmen wir.«
Während der Verkäufer die Waffe einwickelte, verweilte Cordelia vor einer Vitrine mit emailverzierten Betäubungswaffen.
»Denken Sie daran, eine für sich selbst zu kaufen, Mylady?«, fragte Droushnakovi.
»Ich … denke nein. Barrayar hat genug Soldaten, ohne daß es welche von Kolonie Beta importiert. Wofür auch immer ich hier bin, es ist auf jeden Fall nicht der Militärdienst. Sehen Sie irgend etwas, das Sie wollen?«
Droushnakovi blickte nachdenklich, aber sie schüttelte den Kopf. Ihre Hand griff nach ihrem Bolero. »Oberst Negris Ausrüstung ist die beste. Sogar Siegling hat nichts besseres, höchstens hübscheres.«
Spät an jenem Abend setzten sie sich zu dritt zum Essen, Vorkosigan, Cordelia und Leutnant Koudelka. Vorkosigans neuer persönlicher Sekretär schaute etwas müde aus.
»Was habt ihr beide den ganzen Tag getrieben?«, fragte Cordelia.
»Menschen in den Pferch getrieben, vor allem«, antwortete Vorkosigan.
»Premierminister Vortala hatte einige Stimmen noch nicht so sicher bei der Stange, wie er behauptete, und wir haben sie bearbeitet, jeweils einen oder zwei, hinter verschlossenen Türen. Was du morgen in den Ratskammern erleben wirst, ist nicht barrayaranische Politik in Aktion, sondern nur ihr Ergebnis. Wie ging es dir heute?«
»Prima. Ich ging einkaufen. Ihr könnt es gleich sehen.« Sie holte den Stockdegen hervor und entfernte die Verpackung. »Das soll dazu beitragen, daß du Kou nicht zur völligen Erschöpfung treibst.«
Koudelka zeigte höfliche Dankbarkeit, war aber im Grunde irritiert. Sein Ausdruck wandelte sich in Überraschung, als er den Stock zur Hand nahm und wegen des unerwarteten Gewichts beinah fallen ließ. »Holla! Das ist doch nicht …«
»Man drückt den Griff hier. Richten Sie es nicht …!« Peng!
»… auf das Fenster.« Glücklicherweise schlug die Scheide gegen den Fensterrahmen und prallte mit einem Krach zurück. Kou und Aral sprangen beide auf.
In Koudelkas Augen begann es zu leuchten, als er die Klinge untersuchte, während Cordelia die Scheide aufhob. »O Mylady!« Dann fiel ein Schatten über sein Gesicht. Er schob die Waffe behutsam in die Scheide und gab sie dann betrübt zurück. »Ich nehme an, Sie haben es nicht gewußt. Ich bin kein Vor. Für mich ist es illegal, ein privates Schwert zu besitzen.«
»Ach!« Cordelia war geknickt.
Vorkosigan hob die Augenbrauen. »Darf ich das einmal sehen, Cordelia?«
Er zog die Waffe vorsichtig aus der Scheide und prüfte sie. »Hm. Habe ich recht, wenn ich vermute, daß ich dafür gezahlt habe?«
»Nun, du wirst dafür zahlen, nehme ich an, wenn die Rechnung kommt. Allerdings meine ich, du solltest nicht für das andere zahlen, das ich zerbrochen habe. Aber ich kann das hier wieder zurückbringen.«
»Ich verstehe.« Er lächelte verhalten. »Leutnant Koudelka, als Ihr vorgesetzter Offizier und ein Vasall von Ezar Vorbarra übergebe ich Ihnen offiziell diese meine Waffe, zu tragen im Dienste des Kaisers, lang möge er herrschen.« Die unvermeidliche Ironie der formellen Floskel ließ ihn die Lippen aufeinanderpressen, aber er schüttelte den düsteren Schatten ab und gab den Stock an Koudelka zurück, der wieder strahlte.
»Danke, Sir!«
Cordelia schüttelte nur den Kopf: »Ich glaube nicht, daß ich dieses Land je verstehen werde.«
»Ich muß Kou bitten, für dich ein paar juristische Beispiele herauszusuchen. Aber nicht mehr heute abend. Er hat ja kaum Zeit, seine Notizen von heute ins reine zu schreiben, bevor Vortala hier ankommt mit noch ein paar von seinen Abweichlern. Kou, Sie können sich in der Bibliothek meines Vaters, des Grafen, einrichten, wir treffen uns dann dort.«
Die Tafel wurde aufgehoben. Koudelka zog sich zur Arbeit in die Bibliothek zurück, während sich Vorkosigan und Cordelia zum Lesen in den danebenliegenden Salon zurückzogen, bis zu Vorkosigans abendlichem Termin. Er hatte noch mehr Berichte durchzuschauen und ließ sie schnell durch einen Handprojektor laufen. Cordelia nutzte die Zeit zuerst für die Beschäftigung mit einer Miniaudiokassette über Barrayaranisch-Russische Konversation und dann für eine noch einschüchterndere Platte über Kinderpflege. Gelegentlich wurde das Schweigen unterbrochen von einem unterdrückten Ausruf von Vorkosigan, mehr an sich selbst gerichtet als an Cordelia, wie etwa: »Aha! Also das war’s, worauf der Kerl wirklich aus war!« oder: »Verflucht! Diese Zahlen sind komisch. Muß ich mal überprüfen …«
Oder Cordelia: »Ach du lieber Himmel, ob das wirklich alle Babies machen?« Und von Zeit zu Zeit drang ein Peng! durch die Wand aus der Bibliothek, und dann blickten sie auf, schauten einander an und brachen in Gelächter aus.
»Ach, Liebster«, sagte Cordelia nach dem dritten oder vierten Knall, »ich hoffe, ich habe ihn nicht ungebührlich von seinen Pflichten abgelenkt.«
»Er wird seine Sache schon gut machen, wenn er sich beruhigt. Vorbarras persönlicher Sekretär hat ihn unter seine Fittiche genommen und zeigt ihm, wie er sich selbst organisieren muß. Wenn Kou ihm durch das ganze Trauerprotokoll folgt, dann dürfte er in der Lage sein, mit allem fertig zu werden. Dieser Stockdegen war übrigens ein genialer Einfall. Danke!«
»Nun ja, ich hatte gemerkt, daß er ziemlich gereizt war wegen seiner Behinderung. Ich dachte, das könnte ihn etwas entspannen.«
»Es ist unsere Gesellschaft. Sie tendiert dazu, ziemlich … hart zu sein zu jemand, der nicht mithalten kann.«
»Ich verstehe. Seltsam… jetzt, das du es erwähnst, erinnere ich mich, daß ich nur gesund aussehende Leute auf den Straßen und anderswo gesehen habe, ausgenommen im Krankenhaus. Keine Schwebestühle, keine Kinder mit ausdruckslosen Gesichtern im Gefolge ihrer Eltern …«
»Du wirst auch keine sehen«, Vorkosigan blickte grimmig drein. »Alle Probleme, die entdeckt werden können, werden vor der Geburt eliminiert.«
»Nun, wir tun das auch. Allerdings gewöhnlich vor der Empfängnis.«
»Auch bei der Geburt. Und danach, im Hinterland.«
»Oh.«
»Was die zu Krüppeln gemachten Erwachsenen anbelangt …«
»Guter Gott, ihr praktiziert mit denen doch nicht etwa Euthanasie, oder?«
»Dein Fähnrich Dubauer würde hier nicht mehr leben.«
Dubauer hatte Disruptor-Feuer auf den Kopf bekommen und überlebt. Irgendwie.
»Was Verletzungen wie die Koudelkas oder noch schlimmere angeht … das soziale Stigma ist da sehr groß. Beobachte ihn einmal in einer größeren Gruppe, die nicht seine engen Freunde sind. Es ist kein Zufall, daß die Selbstmordrate unter den aus medizinischen Gründen entlassenen Soldaten hoch ist.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Ich habe das einmal als selbstverständlich hingenommen. Jetzt … nicht mehr. Aber viele Leute tun es noch.«
»Und was ist mit Problemen wie dem von Bothari?«
»Das kommt darauf an. Er war ein brauchbarer Spinner. Die unbrauchbaren …« Er brach ab und starrte auf seine Stiefel.
Cordelia fröstelte. »Ich denke immer, daß ich anfange, mich an diese Welt hier anzupassen. Dann gehe ich um eine andere Ecke und stoße dann blindlings auf Sachen wie diese.«
»Es ist erst achtzig Jahre her, seit Barrayar wieder Kontakt mit der umfassenderen galaktischen Zivilisation aufgenommen hat. In der Zeit der Isolation haben wir nicht nur Technologie verloren. Die haben wir schnell wieder drauf gehabt, wie einen geborgten Mantel. Aber darunter … sind wir an manchen Stellen noch ziemlich nackt. In vierundvierzig Jahren habe ich erst begonnen zu sehen, wie nackt.«
Bald darauf kamen Graf Vortala und seine ›Abweichler‹, und Vorkosigan verschwand mit ihnen in der Bibliothek. Der alte Graf Piotr Vorkosigan, Arals Vater, traf später an diesem Abend aus seinem Landbezirk ein, er war gekommen, um bei der Vollversammlung des Rates abzustimmen.
»Nun, da ist ja eine Stimme, derer er sich morgen sicher sein kann«, scherzte Cordelia mit ihrem Schwiegervater, als sie ihm im Foyer aus der Jacke half.
»Ha, er hat Glück, daß er sie bekommt. Er hat in den letzten paar Jahren einige verflucht radikale Ideen aufgeschnappt. Wenn er nicht mein Sohn wäre, dann könnte er auf meine Stimme lange warten.« Aber auf Piotrs runzeligem Gesicht war Stolz zu lesen.
Cordelia zwinkerte bei dieser Beschreibung von Aral Vorkosigans politischen Ansichten. »Ich gestehe, ich habe ihn nie für einen Revolutionär gehalten. Radikal muß ein viel dehnbarerer Begriff sein, als ich dachte.«
»Ach, er schätzt sich selber auch nicht so ein. Er meint, er kann die Hälfte des Weges gehen und dann haltmachen. Aber ich glaube, er wird sich auf dem Rücken eines Tigers reitend wiederfinden, wenn er diesen Weg ein paar Jahre gegangen sein wird.« Der Graf schüttelte grimmig den Kopf. »Aber komm, mein Mädchen, und setz dich und sag mir, daß es dir gut geht. Du siehst gut aus — ist alles in Ordnung?«
Der alte Graf war leidenschaftlich interessiert an der Entwicklung seines zukünftigen Enkels. Cordelia spürte, daß ihre Schwangerschaft ihren Status bei ihm enorm angehoben hatte, von einer geduldeten Kaprice Arals zu etwas, das schon gefährlich ans Halbgöttliche grenzte. Er nahm sie geradezu unter Beschuß mit seinem Beifall. Es war nahezu unwiderstehlich, und sie lachte nie über ihn, obwohl sie sich keinen Illusionen hingab.
Cordelia hatte erfahren, daß Aral mit seiner Voraussage über die Reaktion seines Vaters auf ihre Schwangerschaft, die er an jenem Tag gemacht hatte, als sie mit der bestätigenden Botschaft nach Hause gekommen war, voll ins Schwarze getroffen hatte. Sie war an jenem Sommertag auf das Gut in Vorkosigan Surleau zurückgekehrt, um Aral drunten bei der Bootsanlegestelle zu suchen. Er machte sich an seinem Segelboot zu schaffen und hatte seine Segel ausgelegt, die in der Sonne trockneten, während er mit nassen Schuhen um sie herumplatschte.
Er schaute auf und begegnete ihrem Lächeln, und dabei konnte er die Ungeduld in seinen Augen nicht verbergen. »Nun?« Dabei hüpfte er ein wenig auf seinen Absätzen hin und her.
»Nun.« Sie versuchte einen traurigen und enttäuschten Ausdruck anzunehmen, aber ein Grinsen entschlüpfte ihr und breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus. »Dein Doktor sagt, es ist ein Junge.«
»Ah.« Ein langer und vielsagender Seufzer entwich ihm, und er packte sie und wirbelte sie herum.
»Aral! Paß auf! Laß mich nicht fallen!« Er war nicht größer als sie, nur … hm … kräftiger.
»Niemals!« Er ließ sie an sich heruntergleiten und sie gaben sich einen langen Kuß, der in Gelächter endete.
»Mein Vater wird begeistert sein.«
»Du siehst ja selbst schon ziemlich begeistert aus.«
»Ja, aber du hast noch nichts dergleichen gesehen, solange du nicht einen altmodischen barrayaranischen pater familias gesehen hast in Verzückung über einen neuen Sproß an seinem Stammbaum. Seit Jahren war der arme alte Herr davon überzeugt, seine Linie würde mit mir enden.«
»Wird er mit verzeihen, daß ich aus dem gewöhnlichen Volk und von einer anderen Welt stamme?«
»Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber diesmal glaube ich nicht, daß es ihm was ausgemacht hat, welche Spezies von Frau ich heimgeschleift habe, solange sie nur fruchtbar ist. Du glaubst, ich übertreibe?«, fügte er hinzu, als sie hell auflachte. »Du wirst es schon sehen.«
»Ist es zu früh, schon an einen Namen zu denken?«, fragte sie etwas nachdenklich.
»Da gibt es nichts zu denken. Erstgeborener Sohn. Das ist hier eine strenge Sitte: Er bekommt seine Namen nach seinen beiden Großvätern.
Nach dem väterlichen den ersten, nach dem mütterlichen den zweiten.«
»Ach, deshalb ist eure Geschichte so verwirrend zu lesen. Ich mußte immer Jahreszahlen neben diese immer gleichen Namen stellen, damit ich den Überblick behielt. Piotr Miles. Hm. Nun, ich glaube, ich kann mich daran gewöhnen. Ich hatte an etwas … anderes gedacht.«
»Das nächste Mal, vielleicht.«
»Ganz schön ehrgeizig.«
Dem folgte eine kurze Rangelei, denn Cordelia hatte zuvor schon die nützliche Entdeckung gemacht, daß er in bestimmten Stimmungen kitzliger war als sie. Sie errang sich eine gehörige Portion Rache, und schließlich lagen sie lachend im Gras in der Sonne.
»Das ist sehr würdelos«, beschwerte sich Aral, als sie ihn aufstehen ließ.
»Hast du Angst, ich schockiere Negris Menschenfischer dort draußen auf dem See?«
»Den kann nichts mehr schockieren, das garantiere ich dir.«
Cordelia winkte zu dem fernen Luftkissenboot hinüber, aber dessen Insasse ignorierte standhaft ihre Geste. Zuerst war sie ärgerlich gewesen, als sie erfuhr, daß Aral unter ständiger Beobachtung des kaiserlichen Sicherheitsdienstes stand, später hatte sie sich damit abgefunden. Sie vermutete, daß dies der Preis für seine Verwicklung in die geheime und tödliche Politik des Krieges um Escobar, und die Strafe für einige seiner weniger willkommenen unverblümten Meinungsäußerungen.
»Ich kann verstehen, warum du es dir zum Hobby gemacht hast, mit ihnen Katz und Maus zu spielen. Vielleicht sollten wir freundlicher werden und sie zum Essen oder so einladen. Ich meine, daß sie mich jetzt schon so gut kennen müssen, da möchte ich sie auch gern mal kennenlernen.« Hatte Negris Mann die familiäre Unterhaltung aufgezeichnet, die sie gerade geführt hatten? Gab es Abhörgeräte in ihrem Schlafzimmer? In ihrem Bad?
Aral grinste, aber er antwortete: »Sie dürften es nicht annehmen. Sie essen oder trinken nur das, was sie selber mitbringen.«
»Du lieber Himmel, wie paranoid. Ist das wirklich nötig?«
»Manchmal. Ihr Geschäft ist gefährlich. Ich beneide Sie nicht.«
»Ich denke, da draußen herumzusitzen und dich zu beobachten dürfte einen netten kleinen Urlaub ausmachen. Der wird doch eine tolle Sonnenbräune heimbringen.«
»Das Herumsitzen ist der härteste Teil. Sie sitzen vielleicht ein ganzes Jahr, und dann werden sie auf einmal zu fünf Minuten totaler Aktion von tödlicher Wichtigkeit gerufen. Aber sie müssen das ganze Jahr über jeden Augenblick für diese fünf Minuten bereit sein. Das ist sehr anstrengend. Ich ziehe den Angriff der Verteidigung vor.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum irgend jemand dich belästigen sollte. Ich will sagen, du bist doch nur ein Offizier außer Dienst, der zurückgezogen lebt. Es muß doch Hunderte wie dich geben, selbst von edlem Vor-Geblüt.«
»Hm.« Er blickte lange nach dem fernen Boot und vermied eine Antwort, dann sprang er auf die Füße. »Komm, überraschen wir Vater mit der guten Nachricht.«
Ja, jetzt verstand sie es. Graf Piotr zog ihre Hand auf seinen Arm und entführte sie in das Eßzimmer, wo er ein spätes Abendessen einnahm, nach den neuesten Schwangerschaftsberichten fragte und ihr frische Gartenköstlichkeiten aufnötigte, die er vom Lande mitgebracht hatte. Sie aß gehorsam Weintrauben.
Als sie nach dem Abendessen Arm in Arm mit dem Grafen in das Foyer schritt, drangen an ihr Ohr die Laute erhobener Stimmen aus der Bibliothek. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber sie klangen scharf und wie Hiebe. Beunruhigt blieb Cordelia stehen.
Einen Moment später endete der — Streit? Die Tür der Bibliothek sprang auf, und ein Mann stolzierte heraus. Cordelia konnte durch die Türöffnung Aral und Graf Vortala sehen. Arals Gesicht war starr, doch seine Augen brannten. Vortala, ein vom Alter gebeugter Mann, das fast kahle Haupt mit Leberflecken übersät und von einem weißem Haarkranz umrahmt, war knallrot bis über seinen nackten Schädel. Der Mann, der die Bibliothek verlassen hatte, rief mit einer schroffen Geste seinen wartenden livrierten Diener herbei, der ihm schneidig folgte, mit ausdruckslosem Gesicht.
Der schroffe Mann war etwa vierzig Jahre alt, vermutete Cordelia, er war teuer im Stil der oberen Klassen gekleidet und hatte dunkles Haar. Eine markante Stirn und vorstehende Backenknochen, gegen die seine Nase und sein Schnurrbart nicht ankamen, ließen sein Gesicht wie einen Teller erscheinen. Er war weder gutaussehend noch häßlich, und in einer anderen Stimmung hätte man ihn als einen Mann mit entschlossenen Zügen bezeichnen können. Jetzt sah er nur mürrisch aus. Als er im Foyer auf Graf Piotr traf, hielt er an und brachte — gerade noch — ein höflich grüßendes Nicken zustande. »Vorkosigan«, sagte er dumpf. Ein widerwilliges ›Guten Abend‹ war in seiner ruckartigen Andeutung einer Verbeugung verschlüsselt.
Der alte Graf antwortete mit einem Kopfnicken und hob die Augenbrauen.
»Vordarian«, sein Ton machte aus dem Namen eine Frage.
Vordarian preßte seine Lippen aufeinander, seine Fäuste ballten sich unbewußt im Rhythmus seiner mahlenden Kiefer. »Merken Sie sich meine Worte«, stieß er hervor, »Sie und ich und jeder andere Mann von Würde auf Barrayar wird den morgigen Tag noch sehr bereuen.«
Piotr schürzte seine Lippen, in den von Krähenfüßen umgebenen Winkeln seiner Augen zeichnete sich Vorsicht ab. »Mein Sohn wird seine Klasse nicht verraten, Vordarian.«
»Sie blenden sich selbst.« Sein Blick ging durch Cordelia hindurch und verweilte nicht lang genug, um als Beleidigung gedeutet zu werden, aber als kühle, sehr kühle, zurückweisende Vorstellung. Mit Mühe brachte er ein Minimum an Höflichkeit auf und nickte zum Abschied, drehte sich um und ging durch die Vordertür nach draußen, gefolgt von seinem Schatten von Gefolgsmann.
Aral und Vortala kamen aus der Bibliothek. Aral ging ins Foyer und blickt verstimmt durch die geschliffenen Glasscheiben, die die Tür flankierten, hinaus in die Dunkelheit. Vortala legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm.
»Lassen Sie ihn gehen«, sagte Vortala, »wir können auch ohne seine Stimme morgen leben.«
»Ich habe nicht vor, auf der Straße hinter ihm herzurennen«, versetzte Aral. »Trotzdem … nächstes Mal sparen Sie bitte Ihren Esprit für jemanden auf, der genügend Hirn hat, um ihn würdigen zu können, ja?«
»Wer war denn dieser wütende Kerl?«, fragte Cordelia leichthin, in einem Versuch, die düstere Stimmung zu heben.
»Graf Vidal Vordarian.« Aral wandte sich von der Glasscheibe ab, ihr zu, und brachte ihr zuliebe ein Lächeln zustande. »Kommodore Vidal Vordarian. Ich habe gelegentlich mit ihm zusammengearbeitet, als ich dem Generalstab angehörte. Er ist jetzt ein Führer der wohl zweitkonservativsten Partei auf Barrayar: nicht die Spinner, die wieder zurück in die Zeit der Isolation wollen, sondern, so kann man sagen, jene, die ehrlich fürchten, daß jede Veränderung eine Veränderung zum Schlechteren ist.« Er blickte verstohlen zu Graf Piotr hinüber.
»Sein Name wurde oft erwähnt in Spekulationen über die zukünftige Regentschaft«, merkte Vortala an. »Ich fürchte, er hat selbst damit gerechnet. Er hat sich große Mühe gegeben, Kareen auf seine Seite zu bringen.«
»Er hätte Ezar auf seine Seite bringen sollen«, sagte Aral trokken. »Nun ja … vielleicht beruhigt er sich wieder über Nacht. Versuchen Sie es noch mal mit ihm am Morgen, Vortala — dann aber ein bißchen behutsamer, ja?«
»Vordarians Ego zu hätscheln könnte eine Vollzeitaufgabe werden«, brummte Vortala. »Er verbringt zuviel Zeit mit dem Studium seines Stammbaums.«
Aral grinste zustimmend: »Er ist nicht der einzige.«
»Aber er hört sich gerne davon reden«, knurrte Vortala.