KAPITEL 16

Illegales Gemüse. Cordelia saß in gedankenverlorener Betrachtung zwischen Säcken voll Blumenkohl und Schachteln mit gezüchteten Brillbeeren, während der Luftkissenlaster sich quietschend und hustend dahinbewegte. Gemüse aus dem Süden, das nach Vorbarr Sultana auf einer ebenso heimlichen Route wie der ihren unterwegs war. Sie war sich fast sicher, daß in diesem Haufen auch ein paar Säcke mit dem gleichen grünen Kohl waren, mit dem sie vor zwei oder drei Wochen schon einmal gereist war und der in seinen Wanderungen den seltsamen wirtschaftlichen Zwängen des Krieges folgte.

Die Distrikte, die Vordarian kontrollierte, standen jetzt unter einem strikten Embargo durch die Distrikte, die loyal zu Vorkosigan hielten.

Obwohl noch lange niemand Hunger leiden würde, waren angesichts der Hamsterei und des bevorstehenden Winters die Lebensmittelpreise in der Hauptstadt Vorbarr Sultana sprunghaft gestiegen. Auf diese Weise wurden arme Leute angeregt, ihre Chancen zu ergreifen. Und ein armer Mann, der schon eine Chance ergriffen hatte, war nicht abgeneigt, seiner Ladung gegen ein Schmiergeld noch ein paar unregistrierte Fahrgäste hinzuzufügen.

Diesen Plan hatte Koudelka ausgeheckt, der seine heftige Mißbilligung aufgegeben hatte, nachdem er fast unwillkürlich in ihren strategischen Überlegungen hineingezogen worden war.

Es war Koudelka gewesen, der die Großhandelslager für landwirtschaftliche Produkte in der Stadt in Vorinnis’ Distrikt ausfindig gemacht und die Laderampen nach unabhängigen Händlern abgesucht hatte, die dort mit ihren Frachten starteten. Allerdings war es Bothari, der über die Höhe der Bestechung entschieden hatte, die Cordelia erbärmlich gering vorkam, aber genau richtig war für die Rolle der verzweifelten Landleute, die sie jetzt spielten.

»Mein Vater war Lebensmittelhändler«, hatte Koudelka etwas befangen erklärt, als er ihnen seinen Plan schmackhaft machte. »Ich weiß, was ich tue.«

Cordelia hatte einen Augenblick lang gerätselt, was der wachsame Blick zu bedeuten hatte, den er dabei auf Droushnakovi richtete, bis sie sich erinnerte, daß Drous Vater Soldat war. Kou hatte von seiner Schwester und seiner verwitweten Mutter erzählt, aber erst in diesem Augenblick war Cordelia bewußt geworden, daß Kou seinen Vater nicht aus irgendeinem Mangel an Liebe zwischen ihnen beiden aus seiner Erinnerung verdrängt hatte, sondern weil der Status seines Vaters ihm gesellschaftlich peinlich war. Koudelka hatte ein Veto dagegen eingelegt, einen Fleischtransporter als Transportmittel zu wählen: »Der wird eher von Vordarians Wachen angehalten«, erklärte er, »weil sie dann dem Fahrer Steaks abnehmen können.« Cordelia war sich nicht sicher, ob er aus Erfahrungen beim Militär oder im Lebensmittelhandel oder bei beiden sprach. Auf jeden Fall war sie dankbar, daß sie nicht mit gräßlichen gekühlten Tierleichen reisen mußte.

Sie kleideten sich für ihre Rollen, so gut sie konnten, indem sie die Sachen aus dem Ranzen und die Kleider, die sie bei der Abfahrt getragen hatten, untereinander verteilten. Bothari und Koudelka spielten zwei kürzlich entlassene Soldaten, die ihr bedauernswertes Los zu verbessern suchten, Cordelia und Drou zwei Frauen vom Land, die an den Plänen der Männer beteiligt waren.

Die Frauen trugen eine realistisch kuriose Mischung aus abgetragenen Kleidern aus den Bergen und abgelegtem Oberklassenoutfit, das anscheinend aus einem Secondhand-Shop stammte. Sie erreichten das passende Aussehen von Frauen in schlechtsitzenden Kleidern, indem sie ihre Kleidung tauschten.

Cordelia schloß erschöpft ihre Augen, obwohl sie nicht schlafen konnte. Die Zeit tickte in ihrem Gehirn. Sie hatten zwei Tage gebraucht, um so weit zu kommen. So nahe an ihrem Ziel, so weit weg vom Erfolg … Sie schlug die Augen wieder auf, als der Laster anhielt und auf dem Boden aufschlug. Bothari bewegte sich vorsichtig durch die Öffnung in die Fahrerzelle.

»Wir steigen hier aus«, rief er leise. Sie gingen hintereinander hindurch und sprangen am Straßenmarkt der Stadt ab. In der Kälte stieg ihr Atem wie Rauch auf. Es herrschte die Dunkelheit vor der Morgendämmerung, und es gab weniger Lichter in der Umgegend, als nach Cordelias Meinung eigentlich vorhanden sein sollten. Bothari winkte dem Transporter, weiterzufahren.

»Ich dachte, wir sollten nicht bis zur Zentralmarkthalle mitfahren«, knurrte Bothari. »Der Fahrer sagte, daß Vorbohns Stadtwachen dort massenweise rumstehen um diese Tageszeit, wenn die neuen Lieferungen eintreffen.«

»Erwartet man Unruhen wegen Lebensmittelknappheit?«, fragte Cordelia.

»Ohne Zweifel, außerdem wollen die ihren Nachschub als erste bekommen«, sagte Koudelka. »Vordarian muß bald die Armee aufbieten, bevor der Schwarzmarkt alle Lebensmittel aus dem Rationierungssystem absaugt.« In den Momenten, wo Kou vergaß, so zu tun, als sei er ein künstlicher Vor, zeigte er ein erstaunliche und detaillierte Kenntnis der Schwarzmarktwirtschaft. Oder wie hatte ein Lebensmittelhändler seinem Sohn die Erziehung erkauft, die ihm trotz heftigen Wettbewerbs den Eintritt in die Kaiserliche Militärakademie ermöglichte? Cordelia grinste vor sich hin und schaute die Straße hinauf und hinab. Es war ein altes Stadtviertel, aus der Zeit vor Einführung der Liftrohre, keine Gebäude, die mehr als sechs Treppen hoch waren. Alles schäbig: Wasser-, Strom- und sonstige Leitungen waren in die Architektur eingeschnitten, nachträglich hinzugefügt.

Bothari führte sie, er schien zu wissen, wohin er ging. In der Richtung, in der sie gingen, wurde der Zustand der Häuser nicht besser. Die Straßen und Gassen wurden enger, hatten den feuchten Geruch des Verfalls, in den sich gelegentlich der nach Urin mischte. Die Lichter wurden weniger.

Drous Schultern sanken zusammen. Koudelka packte seinen Stockdegen.

Bothari hielt vor einem engen, schlecht beleuchteten Eingang, auf dem ein handgeschriebenes Schild Zimmer versprach. »Das reicht.« Die Tür, eine alte, nichtautomatische mit Türangeln, war verschlosssen. Er rüttelte daran, dann klopfte er. Nach einer Weile öffnete sich eine kleine Tür in der Tür und mißtrauische Augen schauten heraus.

»Was willste denn?«

»Zimmer.«

»Um diese Zeit? Das glaubste wohl selbst nich.«

Bothari zog Drou nach vorn. Der Streifen Licht aus der Öffnung fiel auf ihr Gesicht.

»Aha«, knurrte die von der Tür gedämpfte Stimme. »Na dann …« Ketten klirrten, Metall knirschte, und die Tür öffnete sich.

Sie drängten sich alle in einen engen Vorraum mit Treppen, einer Theke für die Anmeldung und einem Durchgang zu einem abgedunkelten Zimmer. Der Wirt wurde noch mürrischer, als er hörte, daß sie zu viert nur ein einziges Zimmer wollten. Aber er widersprach nicht, anscheinend verlieh ihre wirkliche Verzweiflung ihrer gespielten Armut den Hauch der Echtheit. Da zwei Frauen bei ihnen waren und vor allem so jemand wie Koudelka, schien niemand auf die Idee zu verfallen, sie für Geheimagenten zu halten.

Sie quartierten sich in einem engen, billigen Raum im Obergeschoß ein, Kou und Drou durften als erste die Betten ausprobieren. Als das Licht der Morgendämmerung durch das Fenster sickerte, folgte Cordelia Bothari über die Treppe nach unten, um nach Essen zu suchen.

»Ich hätte daran denken sollen, daß wir in eine belagerte Stadt Proviant mitbringen müßten«, murmelte Cordelia.

»Es ist noch nicht so schlimm«, sagte Bothari. »Ach — am besten sagen Sie nichts, Mylady. Ihr Akzent.«

»Sie haben recht. Verwickeln Sie aber mal den Kerl da unten in ein Gespräch, wenn Sie können. Ich möchte gerne hören, wie man hier die Dinge sieht.«

Sie fanden den Wirt, oder was immer er war, in dem kleinen Zimmer hinter dem Durchgang, das nach einer Theke und ein paar abgenutzten Tischen mit Stühlen zu schließen sowohl als Bar wie auch als Speiseraum diente. Der Mann verkaufte ihnen widerstrebend einige in Folien verpackte Lebensmittel und ein paar Flaschen mit Getränken, allerdings zu stark überhöhten Preisen, er jammerte dabei über die Rationierung und versuchte, etwas über sie zu erfahren.

»Jch habe diese Reise schon seit Monaten geplant«, sagte Bothari und lehnte sich an die Bar, »und der verdammte Krieg hat alles versaut.«

Der Wirt gab ein aufmunterndes Knurren von sich, von einem Unternehmer zum anderen sozusagen. »Aha? Was hast du vor?«

Bothari leckte seine Lippen, seine Augen verengten sich nachdenklich.

»Hast du die Blondine gesehen?«

»Ja?«

»Jungfrau.«

»Auf keinen Fall. Zu alt.«

»O doch. Die hat Klasse. Wir wollten das ganze einem VorLord beim Winterfest verkaufen. Und uns damit sanieren. Aber die sind ja alle aus der Stadt abgehauen. Vielleicht sollten wir es bei einem reichen Kaufmann versuchen. Aber das wird sie nicht mögen. Ich hab ihr einen echten Lord versprochen.«

Cordelia verbarg ihren Mund hinter ihrer Hand und versuchte, kein Geräusch von sich zu geben, das die Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Es war gut, daß Drou nicht hier war, um Botharis Idee für ihre Tarnung zu hören. Guter Gott! Zahlten barrayaranische Männer wirklich für das Privileg, an unerfahrenen Frauen dieses Stückchen sexueller Quälerei ausüben zu dürfen?

Der Wirt blickte auf Cordelia. »Du läßt sie allein mit deinem Partner, ohne ihre Anstandsdame. Da könntest du ja das verlieren, was du hier in der Stadt verkaufen willst.«

»Nö«, sagte Bothari. »Er würde, wenn er könnte, aber er ist einmal von einem Nervendisruptor getroffen worden. Unter der Gürtellinie, sozusagen. Er wurde wegen seiner Verletzung aus dem Dienst entlassen.«

»Und warum bist du draußen.«

»Entlassen ohne Verbindlichkeit.«

Das war ein anderer Ausdruck für: ›Quittier den Dienst oder du wanderst in den Bau!‹, wie Cordelia annahm, die Endstation für notorische Unruhestifter, die kurz, aber nur kurz vor einem Verbrechen haltmachten.

»Du hast dich mit einem Spastiker zusammengetan?« Der Wirt machte eine Bewegung mit seinem Kopf in Richtung auf das Zimmer im Obergeschoß.

»Er ist das Gehirn der Firma.«

»Da ist nicht viel Gehirn da, wenn ihr hierher kommt und jetzt diese Art von Geschäft machen wollt.«

»Na ja. Ich glaube, ich könnte einen besseren Preis für das gleiche Stück Fleisch bekommen, wenn ich sie schlachten und garnieren ließe.«

»Da hast du recht«, grunzte der Wirt düster und betrachtete den Haufen Lebensmittel, der vor Cordelia auf der Theke lag.

»Sie ist aber zu schade für solche Verschwendung. Ich glaube, ich muß was anderes finden, bis dieser ganze Schlamassel vorbei ist. Ein bißchen Zeit totschlagen. Vielleicht braucht jemand Muskelkraft …« Bothari verstummte.

War er am Ende mit seiner Inspiration?

Der Wirt musterte ihn interessiert. »Ja? Ich hab da etwas im Auge, wofür ich einen, na ja, eine Art Agenten brauchte. Ich fürchte schon die ganze Woche, daß mir jemand anderer zuvorkommt. Du könntest genau der Kerl sein, den ich brauche.«

»Ja?«

Der Wirt lehnte sich vertraulich über die Theke. »Graf Vordarians Burschen geben fette Belohnungen, drunten beim Sicherheitsdienst, für bestimmte Informationen. Nun, normalerweise würde ich mich nicht mit dem Sicherheitsdienst einlassen, egal, wer ihn gerade dirigiert in dieser Woche, aber da gibt es einen komischen Kerl weiter unten in der Straße, der hat dort ein Zimmer gemietet und bleibt immer da drin, außer wenn er Essen holt, mehr Essen, als ein einzelner Mann verputzen kann … er hat noch jemanden mit sich in seinem Zimmer, jemanden, den keiner sieht. Und er ist ganz sicher keiner von uns. Ich werde den Gedanken nicht los, daß er vielleicht … jemandem etwas wert sein dürfte, oder?«

Bothari runzelte nachdenklich die Stirn: »Könnte gefährlich sein. Wenn Admiral Vorkosigan wieder die Stadt übernimmt, dann werden sie ziemlich eifrig nach der kleinen Liste mit den Informanten suchen. Und du hast eine Adresse.«

»Aber du scheinst keine zu haben. Wenn du das vorbringen würdest, dann könnte ich dir einen Anteil von zehn Prozent geben. Ich denke, der ist ein großes Tier, der Bursche. Er hat sicher Angst.«

Bothari schüttelte den Kopf. »Ich war draußen auf dem Land und bin jetzt hierher gekommen — könnt ihr es nicht riechen, in der Stadt? Niederlage, Mann. Vordarians Leute schauen für mich total krank aus. Ich würde wirklich gründlich nachdenken über diese Liste, wenn ich du wäre.«

Der Wirt preßte enttäuscht die Lippen zusammen. »So oder so, die günstige Gelegenheit wird nicht bleiben.«

Cordelia zog Bothari zu sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Spielen Sie mit. Finden Sie heraus, wer das ist. Könnte ein Verbündeter sein.« Sie dachte einen Augenblick nach und fügte dann hinzu: »Fordern Sie fünfzig Prozent.«

Bothari richtete sich auf und nickte. »Fifty-fifty«, sagte er zum Wirt, »für das Risiko.«

Der Wirt blickte finster, aber respektvoll auf Cordelia. Zögernd sagte er: »Fünfzig Prozent von etwas ist wahrscheinlich besser als hundert Prozent von nichts.«

»Kannst du mir den Kerl mal zeigen?«, fragte Bothari.

»Vielleicht.«

»Hier, Frau«, Bothari legte die Packungen mit den Lebensmitteln in Cordelias Arme, »bring das rauf ins Zimmer.«

Cordelia räusperte sich und versuchte den Akzent der Bergbewohner nachzuahmen: »Du solltest vorsichtig sein. Der Stadtmensch wird dich ausnehmen.«

Bothari grinste dem Wirt verschwörerisch zu. »Ach, der würde es nicht wagen und einen alten Kommißstiefel betrügen. Mehr als einmal.«

Der Wirt lächelte nervös zurück.

Cordelia döste unbehaglich vor sich hin und schrak hoch, als Bothari in ihr kleines Zimmer zurückkehrte. Er überprüfte den Gang sorgfältig, bevor er die Tür hinter sich schloß. Er schaute grimmig drein.

»Also, Sergeant? Was haben Sie herausgefunden?« Was war, wenn sich herausstellte, daß der andere Untergetauchte jemand strategisch so wichtiger war wie etwa Admiral Kanzian? Der Gedanke erschreckte sie.

Wie konnte sie einer Ablenkung von ihrer persönlichen Mission noch widerstehen, wenn es allzu kristallklar um etwas größeres Gutes ginge …

Kou auf einer Bettdecke auf dem Boden und Drou auf der anderen Bettstatt blinzelten verschlafen und richteten sich auf ihren Ellbogen auf, um Botharis Bericht zu hören.

»Es ist Lord Vorpatril. Und auch Lady Vorpatril.«

»O nein!« Cordelia setzte sich kerzengerade auf. »Sind Sie sicher?«

»O ja!«

Kou kratzte sich am Kopf, seine Haare waren vom Schlaf zerzaust.

»Haben Sie Kontakt mit ihnen aufgenommen?«

»Noch nicht.«

»Warum nicht?«

»Es ist Lady Vorkosigans Entscheidung. Ob wir von unserer ursprünglichen Mission abweichen.«

Und zu denken, daß sie das Kommando gewollt hatte. »Scheint es ihnen gut zu gehen?«

»Sie sind am Leben und verhalten sich ruhig. Aber — der Kerl da unten kann nicht der einzige sein, dem sie aufgefallen sind. Ich habe ihn einstweilen gebremst, aber jemand anderer könnte jederzeit scharf auf die Belohnung werden.«

»Gibt es ein Anzeichen für das Baby?«

Er schüttelte den Kopf: »Sie hat es noch nicht bekommen.«

»Es ist schon spät! Sie hätte es schon vor mehr als zwei Wochen bekommen sollen. Wie scheußlich!« Sie dachte einen Augenblick nach.

»Glauben Sie, wir könnten aus der Stadt zusammen entkommen?«

»Je mehr Leute in einer Sache, desto auffälliger«, sagte Bothari langsam. »Und ich habe einen Blick auf Lady Vorpatril werfen können. Sie ist wirklich auffällig. Die Leute würden sie bemerken.«

»Ich sehe nicht, wie es ihre Lage verbessern würde, wenn sie sich uns jetzt anschließen. Ihre Tarnung hat einige Wochen funktioniert. Wenn wir in der Residenz Erfolg haben, dann können wir vielleicht auf dem Rückweg etwas für sie versuchen. Bestimmt Illyan veranlassen, daß er ihnen loyalistische Agenten zur Unterstützung schickt. Wenn wir zurückkommen …« Verdammt! Wenn sie ein offizielles Kommandounternehmen wären, dann hätten sie genau die Kontakte, die die Vorpatrils brauchten. Aber wenn sie ein offizielles Kommando wären, dann wären sie zweifellos nicht auf diesem Weg gekommen. Sie saß da und dachte nach. »Nein. Noch kein Kontakt. Aber wir sollten lieber etwas tun, um unseren Freund im Erdgeschoß zu entmutigen.«

»Habe ich schon gemacht«, sagte Bothari. »Ich sagte ihm, ich wüßte, wo ich einen besseren Preis bekäme und nicht später meinen Kopf riskieren würde. Wir können ihn vielleicht bestechen, daß er uns hilft.«

»Trauen Sie ihm?«, sagte Droushnakovi zweifelnd.

Bothari verzog das Gesicht. »So weit ich ihn beurteilen kann. Ich werde versuchen, ein Auge auf ihn zu haben, solange wir hier sind. Noch was. Ich habe eine Sendung auf seinem Vid im Hinterzimmer gesehen. Vordarian hat sich selbst gestern abend zum Kaiser ausgerufen.«

Kou fluchte: »So ist er endlich ausgeflippt und hat’s gemacht.«

»Aber was bedeutet das?«, fragte Cordelia. »Fühlt er sich stark, oder ist das ein Akt der Verzweiflung?«

»Das ist der letzte Trick aus der Kiste, um die Raumstreitkräfte auf seine Seite zu ziehen, vermute ich«, sagte Kou.

»Wird er dadurch wirklich mehr Leute anziehen, als er dadurch vor den Kopf stößt?«

Kou schüttelte den Kopf: »Wir auf Barrayar fürchten wirklich das Chaos. Wir haben es schon einmal versucht. Es ist schlimm. Das Kaisertum wurde als Garant der Ordnung angesehen, seit Dorca Vorbarra die Macht der kriegführenden Grafen brach und den Planeten einte. Kaiser ist hier ein wirkliches Wort der Macht.«

»Nicht für mich«, seufzte Cordelia. »Sorgen wir dafür, daß wir etwas ausruhen können. Vielleicht ist morgen um diese Zeit schon alles vorbei.«

Ein hoffnungsvoller oder grausiger Gedanke, je nachdem, wie man’s verstand. Sie zählte zum tausendsten Mal die Stunden, ein Tag war noch übrig, um in die Residenz einzudringen, zwei, um in Vorkosigans Territorium zurückzukehren … da war nicht mehr viel übrig. Es kam ihr vor, als würde sie fliegen, schneller und immer schneller. Und als hätte sie fast keinen Raum mehr zum Wenden.

Die letzte Chance, die ganze Sache abzublasen. Ein feiner nebliger Nieselregen hatte in der Stadt den Einbruch der Abenddämmerung beschleunigt. Cordelia schaute durch das schmutzige Fenster hinaus auf die glitschige Straße, die das Licht einiger schwacher gelblicher Straßenlaternen spiegelte. Nur ein paar vermummte Gestalten hasteten mit gesenktem Kopf vorbei. Es war, als hätten der Krieg und der Winter den letzten Hauch des Herbstes eingeatmet und atmeten jetzt ein tödliches Schweigen aus. Die Nerven, sagte sich Cordelia, straffte ihren Rücken und führte ihre kleine Gruppe die Treppe hinab.

Die Anmeldung war nicht besetzt. Cordelia wollte sich gerade dafür entscheiden, solche Formalitäten wie die Abmeldung zu übergehen — schließlich hatten sie schon im Voraus bezahlt —, da kam der Wirt stampfend durch die Vordertür herein und schüttelte fluchend kalte Regentropfen von seiner Jacke. Dann erblickte er Bothari.

»Du! Das ist alles deine Schuld, du feiger Kerl. Wir haben es verpaßt, wir haben es verdammt noch mal verpaßt, und jetzt streicht sich ein anderer die Belohnung ein. Die hätte mir gehören können, hätte mir gehören sollen …«

Die Schimpfkanonade des Wirtes wurde von einem dumpfen Schlag unterbrochen, als Bothari ihn gegen die Wand drückte. Die Zehen des Mannes suchten Halt am Boden, während Botharis plötzlich wildes Gesicht sich dem seinen näherte. »Was ist passiert?«

»Eines von Vordarians Kommandos hat diesen Kerl geschnappt. Es sieht so aus, als hätte er sie auch zu seiner Partnerin geführt.« Die Stimme des Wirtes schwankte zwischen Arger und Angst. »Sie haben sie jetzt beide, und ich habe nichts.«

»Haben sie?«, wiederholte Cordelia matt.

»Haben sie eben gerade geschnappt, verdammt!«

Es könnte noch eine Chance geben, erkannte Cordelia.

Führungsentscheidung oder taktischer Zwang, das spielte jetzt kaum noch eine Rolle. Sie zog einen Betäuber aus dem Ranzen, Bothari trat zurück, und sie lähmte den Wirt, der mit offenem Mund dastand. Bothari schob die reglose Gestalt hinter die Anmeldetheke. »Wir müssen versuchen, ihnen zu helfen. Drou, holen Sie die restlichen Waffen heraus. Sergeant, führen Sie uns dorthin. Los!«

Und so fand sie sich auf einmal, wie sie die Straße hinab auf eine Szene zurannte, die zu vermeiden jeder vernünftige Barrayaraner in die entgegengesetzte Richtung laufen würde: eine nächtliche Verhaftung durch die Sicherheitskräfte. Drou hielt Schritt mit Bothari, Koudelka, der mit dem Ranzen beladen war, hinkte hinterher. Cordelia wünschte sich, der Nebel wäre dichter.

Das Versteck der Vorpatrils war, wie sich herausstellte, zwei Blocks die Straße hinab und dann um die Ecke, in einem schäbigen, engen Gebäude, sehr ähnlich dem Haus, worin sie den Tag verbracht hatten. Bothari hob eine Hand und sie lugten vorsichtig um die Ecke, dann zogen sie sich zurück. Zwei Bodenwagen des Sicherheitsdienstes waren vor einem kleinen Gasthaus geparkt und versperrten den Eingang. Die ganze Gegend war seltsam menschenleer, außer ihnen war niemand auf der Straße.

Koudelka holte sie keuchend ein.

»Droushnakovi«, sagte Bothari, »gehen Sie um das Haus herum. Suchen Sie sich eine Kreuzfeuerstellung, mit der Sie die andere Seite dieser Bodenwagen abdecken. Passen Sie gut auf, die haben sicher auch Leute am Hinterausgang.«

Ja, Straßentaktik war sichtlich Botharis Berufung.

Drou nickte, überprüfte die Ladung ihrer Waffen und spazierte wie beiläufig über die Ecke, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Sobald sie aus der gegnerischen Sichtlinie war, begann sie lautlos zu laufen.

»Wir müssen uns eine bessere Stellung suchen«, murmelte Bothari und riskierte noch einen Blick um die Ecke. »Ich kann verdammt nichts sehen.«

»Ein Mann und eine Frau gehen die Straße entlang«, entwarf Cordelia verzweifelt ein Bild, »sie halten an, um sich in einem Hauseingang zu unterhalten. Sie gucken neugierig auf die Sicherheitsleute, die mit ihrer Verhaftung beschäftigt sind — könnten wir so durchkommen?«

»Nicht lange«, sagte Bothari, »sobald sie unsere Energiewaffen mit ihren Umgebungsscannern erkannt haben. Aber wir könnten länger durchkommen als zwei Männer, Wenn es los geht, dann muß es schnell gehen. Wir könnten es gerade lang genug schaffen. Leutnant, geben Sie uns Deckung von hier. Halten Sie den Plasmabogen bereit, es ist alles, was wir haben, um ein Fahrzeug zu stoppen.«

Bothari versteckte seinen Nervendisruptor unter seiner Jacke. Cordelia steckte ihren Betäuber in den Bund ihres Rocks und hängte sich leicht bei Bothari ein. Sie spazierten um die Ecke.

Das war eine wirklich dumme Idee, entschied Cordelia, als sie ihren Gang Botharis Stiefelschritten anpaßte. Sie hätten sich schon vor Stunden auf die Lauer legen sollen, wenn sie einen solchen Überfall versuchen wollten. Oder sie hätten Padma und Alys schon vor Stunden herausholen sollen.

Und doch — wie lange war Padma schon entdeckt gewesen? Vielleicht wären sie in eine schon lange aufgestellte Falle gegangen und zusammen untergegangen? Kein Vielleicht. Achte auf das Jetzt.

Botharis Schritte wurden langsamer, als sie sich einem tiefen dunklen Hauseingang näherten. Er schwang sie herum und lehnte sich mit einem Arm gegen die Hauswand, nahe an Cordelia. Sie waren jetzt nah genug am Schauplatz der Verhaftung, daß sie Stimmen hören konnten. Fetzen von Geknister aus den KomLinks waren deutlich in der feuchten Luft zu vernehmen.

Gerade rechtzeitig. Trotz des schäbigen Hemdes und der ebenso schäbigen Hosen erkannte Cordelia sofort in dem dunkelhaarigen Mann, der von einem Wächter gegen den Bodenwagen gedrückt wurde, Oberst Vorpatril. Sein Gesicht war verunstaltet von einer blutenden Quetschwunde und geschwollenen Lippen, die in einem stereotypen, von Schnell-Penta verursachten Lächeln verzogen waren. Das Lächeln wechselte sich mit einem Ausdruck der Angst ab, und sein Gekicher ging über in würgendes Stöhnen.

Schwarzgekleidete Sicherheitsleute brachten eine Frau durch die Gasthaustür auf die Straße. Die Aufmerksamkeit des Sicherheitsteams wurde auf sie gelenkt, ebenso die Aufmerksamkeit von Cordelia und Bothari.

Alys Vorpatril trug nur ein Nachthemd und einen Morgenmantel, ihre nackten Füße steckten in flachen Schuhen. Ihr dunkles Haar war lose und umfloß wild ihr weißes Gesicht. Sie sah aus wie eine schöne Wahnsinnige.

Sie war tatsächlich auffallend schwanger, der schwarze Morgenmantel öffnete sich um ihren Bauch, der das weiße Nachtgewand dehnte. Der Sicherheitsmann, der sie abführte, hatte ihr die Arme hinter dem Rücken gefesselt, mit gespreizten Beinen versuchte sie die Balance zu halten gegen sein rückwärtiges Ziehen.

Der Wachkommandant, ein Oberst, überprüfte ein Reportpanel. »Das war’s dann. Der Lord und sein Erbe.« Sein Blick fixierte Alys Vorpatrils Unterleib, er schüttelte den Kopf, als müßte er ihn von etwas freimachen, und sprach in sein KomLink: »Zieht euch zurück, Jungs, wir haben hier alles erledigt.«

»Was, zum Teufel, sollen wir hiermit tun, Herr Oberst?«, fragte sein Leutnant unsicher. In seiner Stirn mischten sich Faszination und Bestürzung, als er zu Lady Vorpatril hinüberging und ihr Nachthemd in die Höhe hob. Sie hatte in den letzten zwei Monaten zugenommen, ihr Kinn und ihre Brüste hatten sich gerundet, die Schenkel waren kräftiger geworden, der Bauch gepolstert. Er stieß einen neugierigen Finger tief in das weiche, weiße Fleisch. Sie stand schweigend und zitternd, das Gesicht entflammt vor Empörung über seine Dreistigkeit, in den dunklen Augen glitzerten Tränen der Angst. »Unser Befehl lautet, den Lord und den Erben zu töten. Er sagt nichts über sie. Sollen wir herumsitzen und warten? Sie quetschen? Oder aufschneiden? Oder«, seine Stimme einen Ton an, als wollte er seinen Vorgesetzten zu etwas überreden, »sie vielleicht einfach ins Hauptquartier mitnehmen?«

Der Wächter, der sie von hinten hielt, grinste und stieß seine Hüften gegen ihr Gesäß, eine unmißverständliche Nachäffung. »Wir müssen sie nicht sofort dorthin bringen, nicht wahr? Ich meine, das hier ist Vor-Fleisch. Was für eine Chance.«

Der Oberst schaute ihn an und spuckte angewidert aus. »Korporal, Sie sind pervers.«

Cordelia erkannte mit einem Schock, daß Botharis Aufmerksamkeit nicht mehr nur aus taktischen Gründen auf diese Szene fixiert war. Er war zutiefst erregt. Seine Augen schienen glasig zu werden, während sie ihn beobachtete, seine Lippen öffneten sich. Der Oberst steckte sein Kom-Link in die Tasche und zog seinen Nervendisruptor. »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wir machen das schnell und sauber. Treten Sie zur Seite, Korporal.«

Ein seltsames Mitleid …

Der Korporal stieß fachkundig gegen Alys’ Knie, schubste sie zu Boden und trat zurück. Alys warf ihre Hände dem Pflaster entgegen, jedoch zu spät, um das harte Aufklatschen ihres dikken Bauches zu verhindern.

Padma Vorpatril stöhnte, obwohl sein Bewußtsein durch Schnell-Penta umnebelt war. Der Oberst hob seinen Nervendisruptor und zögerte, als sei er unsicher, ob er auf ihren Kopf oder ihren Rumpf zielen sollte.

»Töten Sie die Kerle!«, zischte Cordelia in Botharis Ohr, riß ihren Betäuber heraus und feuerte.

Bothari wurde nicht nur plötzlich hellwach, sondern auch zu einer Art Berserker, der Schuß seines Nervendisruptors traf den Oberst im selben Moment wie der Strahl von Cordelias Betäuber, obwohl sie zuerst gezogen hatte. Dann bewegte er sich, ein dunkler Schatten, der hinter eines der geparkten Fahrzeuge sprang. Er gab Schuß um Schuß ab, deren blaues Knistern die Luft elektrifizierte, zwei weitere Wachen fielen, während die übrigen hinter ihren Bodenwagen in Deckung gingen.

Alys Vorpatril rollte sich auf dem Pflaster zu einer Kugel zusammen und versuchte, mit Armen und Beinen ihren Unterleib zu schützen. Padma Vorpatril, berauscht vom Penta, torkelte verwirrt in ihre Richtung, mit ausgestreckten Armen, anscheinend mit der Absicht, sie zu schützen. Der Leutnant, der sich auf dem Pflaster in Deckung wälzte, hielt einen Augenblick inne, um mit seinem Nervendisruptor auf den Verwirrten zu zielen.

Das Zögern des Leutnants, um genau zu zielen, war fatal: das Kreuzfeuer aus Droushnakovis Nervendisruptor und der Strahl aus Cordelias Betäuber trafen sich auf seinem Körper — eine Millisekunde zu spät. Sein Disruptorschuß traf Padma Vorpatril mitten auf dem Hinterkopf. Blaue Funken tanzten umher, dunkles Haar sprühte orangefarbene Funken, Padmas Körper bog sich in einem heftigen Krampf und fiel zuckend zu Boden. Alys Vorpatril heulte auf, ein kurzer, scharfer Schrei, der von einem Keuchen abgewürgt wurde. Auf ihren Händen und Füßen schien sie einen Moment erstarrt zwischen dem Impuls, auf ihn zuzukriechen, und dem Reflex, zu fliehen.

Droushnakovis Kreuzfeuerstellung war perfekt. Der letzte Wächter wurde getötet, während er noch versuchte, das Verdeck des gepanzerten Bodenwagens zu heben. Ein Fahrer, der im zweiten Fahrzeug abgeschirmt saß, entschied sich klugerweise dafür, davonzurasen. Der Schuß aus Koudelkas Plasmabogen, der auf Starkstrom geschaltet war, traf den Bodenwagen, als er hinter der Hausecke beschleunigte. Das Fahrzeug schleuderte wild umher, schrammte dabei funkensprühend an der Bordsteinkante entlang und rammte dann gegen ein Backsteingebäude.

Ja, war denn meine ganze Strategie für diese Mission nicht darauf aufgebaut, daß wir unsichtbar bleiben? dachte Cordelia flüchtig und rannte los. Sie und Droushnakovi erreichten Alys Vorpatril im selben Augenblick, zusammen hoben sie die zitternde Frau auf die Beine.

»Wir müssen hier abhauen«, sagte Bothari, der sich aus seiner kauernden Feuerstellung erhob und zu ihnen trat.

»Ganz recht«, stimmte Koudelka zu, der herbeigehumpelt war und sich das Ergebnis des plötzlichen und spektakulären Gemetzels anschaute. Die Straße war erstaunlich ruhig. Nicht mehr lange, vermutete Cordelia.

»In diese Richtung.« Bothari zeigte auf eine enge und dunkle Gasse. »Rennt!«

»Sollten wir nicht versuchen, den Wagen da zu nehmen?« Cordelia zeigte auf das Fahrzeug, neben dem die reglosen Körper der Sicherheitsleute lagen.

»Nein, man kann ihn aufspüren. Und er paßt dort nicht hinein, wo wir hingehen.«

Cordelia war nicht sicher, ob die verstört dreinblickende und weinende Alys überhaupt irgendwohin rennen konnte, aber sie steckte wieder ihren Betäuber in ihren Rockbund und nahm einen der Arme der Schwangeren.

Drou nahm den anderen, und zusammen führten sie sie hinter dem Sergeanten her. Wenigstens war Koudelka nicht mehr der langsamste der Gruppe.

Alys weinte, aber noch nicht hysterisch, sie warf nur einen einzigen Blick über ihre Schulter auf den Leichnam ihres Mannes, dann konzentrierte sie sich entschlossen auf den Versuch, zu rennen. Sie rannte nicht gut. Sie hatte erhebliche Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht, ihre Arme hatte sie um den Bauch gelegt in einem Versuch, die Erschütterungen ihrer schweren Schritte abzufangen. »Cordelia«, keuchte sie. Damit zeigte sie, daß sie ihre Retterin erkannt hatte, aber sie hatte weder Zeit noch Atem für Fragen nach Erklärungen.

Sie waren noch nicht mehr als drei Häuserblocks weit getorkelt, als Cordelia Sirenen aus der Gegend hörte, aus der sie flohen. Aber Bothari schien sich wieder im Griff zu haben und reagierte nicht panisch. Sie durchquerten eine andere enge Gasse, und Cordelia wurde bewußt, daß sie in ein Stadtviertel ohne Straßenbeleuchtung gelangt waren. Sie strengte ihre Augen in der nebligen Dunkelheit an.

Alys hielt plötzlich an und Cordelia kam schlitternd zu stehen, wobei sie die Frau fast von den Beinen riß. Alys blieb eine halbe Minute stehen, gekrümmt und keuchend.

Cordelia erkannte, daß Alys’ Unterleib unter seinem täuschenden Fettpolster hart wie Stein war, ihr Morgenmantel war am Rücken ganz durchnäßt. »Fangen die Wehen an?«, fragte sie. Sie wußte nicht, warum sie diese Frage stellte, denn die Antwort war offensichtlich.

»Dies geht schon anderthalb Tage so«, stieß Alys hervor. Sie schien sich nicht aufrichten zu können. »Ich glaube, meine Fruchtblase ist gesprungen, als der Mistkerl mich hingeworfen hat. Wenn es nicht Blut ist — ich hätte schon längst bewußtlos sein müssen, wenn das alles Blut gewesen wäre —, es tut jetzt soviel mehr weh …« Ihr Atem verlangsamte sich, mit Mühe zog sie ihre Schultern hoch.

»Wie lange noch?«, fragte Kou beunruhigt.

»Wie sollte ich das wissen? Ich habe das noch nie gemacht. Sie können da genauso gut raten wie ich«, versetzte Lady Vorpatril. Heißer Zorn, um kalte Angst zu wärmen. Es war nicht genug Wärme, eine Kerze gegen einen Schneesturm.

»Nicht mehr lange, würde ich sagen«, kam Botharis Stimme aus der Dunkelheit. »Wir sollten lieber untertauchen. Los, weiter!«

Lady Vorpatril konnte nicht länger rennen, aber sie brachte es fertig, schnell zu watscheln, wobei sie alle zwei Minuten hilflos stehenblieb. Dann jede Minute.

»Sie schafft nicht mehr den ganzen Weg«, murmelte Bothari. »Wartet hier!« Er verschwand — in einer Seitengasse? Die Durchgänge hier schienen alles Gassen zu sein, kalt und stinkend, viel zu eng für Bodenwagen. Sie waren an genau zwei Leuten in diesem Irrgarten begegnet, die sich in den Schutz jenes Durchgangs gedrängt hatten, und waren vorsichtig um sie herumgegangen.

»Können Sie irgend etwas tun, wie etwa, es zurückzuhalten?«, fragte Kou, als er sah, wie Lady Vorpatril sich wieder zusammenkrümmte. »Wir sollten es … versuchen und einen Arzt oder jemanden holen.«

»Das war es, wofür dieser Idiot Padma hinausgegangen ist«, brachte Alys mühsam hervor. »Ich habe ihn angebettelt, nicht zu gehen … o Gott!« Einen Moment später fügte sie in einem überraschenden Plauderton hinzu: »Das nächstemal, wenn Sie Ihre Eingeweide herauskotzen, Kou, schlage ich Ihnen vor, daß Sie einfach Ihren Mund schließen und fest schlucken … es ist nicht gerade ein willkürlicher Reflex!« Sie richtete sich wieder auf und zitterte heftig.

»Sie braucht keinen Doktor, sie braucht eine flache Stelle«, sprach Bothari aus dem Dunkeln. »Hier entlang.«

Er führte sie eine kurze Entfernung zu einer Holztür, die früher einmal in einer alten, festen, mit Stuck verzierten Wand zugenagelt gewesen war. Nach den frischen Splittern zu schließen, hatte er sie gerade aufgebrochen.

Als sie drinnen waren und die Tür wieder ganz zugezogen war, wagte es Droushnakovi endlich, ein Handlicht aus dem Ranzen zu holen. Es beleuchtete einen kleinen, leeren, schmutzigen Raum. Bothan erkundete schnell die angrenzenden Räume. Zwei innere Türen waren vor langer Zeit aufgebrochen worden, aber dahinter war alles still und dunkel und anscheinend verlassen.

»Das muß reichen«, sagte Bothari.

Cordelia fragte sich, was, zum Teufel, als nächstes zu tun wäre. Sie wußte jetzt alles über Plazentaübertragungen und Kaiserschnitt, aber bei sogenannten normalen Geburten konnte sie sich nur an die Theorie halten.

Alys Vorpatril hatte wahrscheinlich noch weniger Wissen von Biologie, Drou noch weniger, und Kou war absolut nutzlos. »Hat irgend jemand hier das schon einmal mitgemacht?«

»Ich nicht«, murmelte Alys. Ihre Blicke trafen sich und sie verstanden sich nur allzu klar.

»Du bist nicht allein«, sagte Cordelia tapfer. Zutrauen sollte zur Entspannung führen, sollte zu irgend etwas führen. »Wir werden dir alle helfen.«

Bothari sagte — seltsam widerstrebend: »Meine Mutter hat gelegentlich als Hebamme gearbeitet. Manchmal hat sie mich mitgeschleppt, damit ich ihr helfe. Das ist nicht so schlimm.«

Cordelia bemühte sich, nicht die Stirn zu runzeln, Dies war das erste Mal, daß sie den Sergeanten ein Wort über seine Eltern sagen hörte. Der Sergeant seufzte, als er aus ihren auf ihn gerichteten Blicken klar erkannte, daß er soeben die Leitung übernommen hatte. »Borgen Sie mir Ihre Jacke, Kou.«

Koudelka entledigte sich ritterlich seines Kleidungsstücks und schickte sich an, es der zitternden Lady Vorpatril umzulegen. Er blickte etwas betroffener drein, als der Sergeant seine eigene Jacke um Lady Vorpatrils Schultern legte, sie sich dann auf den Boden niederlegen ließ und Koudelkas Jacke unter ihren Hüften ausbreitete. Als sie sich hingelegt hatte, sah sie weniger blaß aus, weniger als würde sie jeden Moment ohnmächtig. Aber ihr Atem hielt an, und dann stieß sie einen Schrei aus, als die Muskeln ihres Unterleibs sich wieder zusammenzogen.

»Bleiben Sie bei mir, Lady Vorkosigan«, murmelte Bothari Cordelia zu.

Wofür? fragte sich Cordelia, dann erkannte sie, warum, als er niederkniete und sanft Alys Vorpatrils Nachthemd hochschob. Er will mich als Kontrollmechanismus haben. Aber das Töten der Sicherheitsleute schien jene erschreckende Woge von Wollust erschöpft zu haben, die dort auf der Straße sein Gesicht so verzerrt hatte. Sein Blick war jetzt nur normal interessiert. Glücklicherweise war Alys Vorpatril zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, daß Botharis Versuch, medizinische Gelassenheit auszudrücken, nicht ganz erfolgreich war.

»Der Kopf des Babys zeigt sich noch nicht«, berichtete er, »aber bald.«

Eine weitere Kontraktion, und er schaute unbestimmt herum und fügte an: »Ich glaube. Sie sollten besser nicht schreien, Lady Vorpatril. Sie werden uns jetzt schon suchen.«

Sie zeigte durch ein Nicken, daß sie verstanden hatte, und winkte verzweifelt mit der Hand, Drou kapierte, rollte ein Stück Stoff zu einem strickartigen Lumpen zusammen und gab ihn Alys, damit sie daraufbeißen konnte.

Und diese Szene dauerte an, während eine Wehe nach der anderen kam.

Alys schaute völlig erschöpft aus und weinte ganz leise, sie konnte den wiederholten Versuchen ihres Leibes, sein Innerstes nach außen zu kehren, nicht lang genug Einhalt gebieten, um entweder Atem zu holen oder ihre innere Balance zu finden. Der Kopf des Babys zeigte sich, dunkelhaarig, aber er schien unfähig zu sein, weiter hervorzukommen.

»Wie lange soll das dauern?«, fragte Kou, mit einer Stimme, die versuchte, wohlüberlegt zu klingen, aber sehr beunruhigt wirkte.

»Ich glaube, er mag es, wo er ist«, sagte Bothari. »Er mag nicht in die Kälte herauskommen.« Alys bekam diesen Scherz tatsächlich mit, ihr schluchzendes Atmen änderte sich nicht, aber in ihren Augen blitzte einen Moment lang Dankbarkeit auf. Bothari saß in Hockstellung, runzelte überlegend die Stirn, kauerte sich dann an ihre Seite, legte seine große Hand auf ihren Bauch und wartete auf die nächste Kontraktion. Dann stützte er sich auf ihr auf.

Der Kopf des Kindes trat geschwind heraus zwischen Lady Vorpatrils blutigen Schenkeln.

»Da«, sagte der Sergeant und klang ziemlich zufrieden. Koudelka schaute total beeindruckt drein.

Cordelia nahm den Kopf zwischen ihre Hände und zog den Körper bei der nächsten Kontraktion heraus. Das Knäblein hustete zweimal, nieste wie ein Kätzchen in das ehrfürchtige Schweigen, atmete ein, wurde rosiger und gab einen nervenzerreißenden Schrei von sich. Cordelia ließ ihn fast fallen.

Bothari fluchte bei dem Geräusch. »Geben Sie mir Ihren Stockdegen, Kou.«

Lady Vorpatril blickte wild auf: »Nein! Geben Sie ihn mir zurück, ich mache, daß er ruhig ist!«

»Das war’s nicht, woran ich dachte«, sagte Bothari mit einer gewissen Würde. »Obwohl es eine Idee ist«, fügte er hinzu, als das Geschrei weiterging. Er zog die Flasmabogenwaffe heraus und erhitzte das Schwert bei niedriger Stromstärke. Er sterilisierte es, erkannte Cordelia.

Bei der nächsten Kontraktion folgte der Nabelschnur die Plazenta, ein schmieriger Haufen auf Koudelkas Jacke. Cordelia starrte mit geheimer Faszination auf die verbrauchte Version des unterstützenden Organs, um das man sich in ihrem eigenen Fall soviel Sorgen gemacht hatte. Zeit.

Diese Rettung hat soviel Zeit genommen. Wie gross sind Miles’ Chancen jetzt noch? Hatte sie gerade das Leben ihres Sohnes gegen das des kleinen Ivan eingetauscht? Des gar nicht so kleinen Ivan, in Wirklichkeit: kein Wunder, daß er seiner Mutter so viele Schwierigkeiten bereitet hatte. Alys mußte mit einem ungewöhnlichen Beckenboden gesegnet sein, oder sie hätte diese alptraumhafte Nacht nie lebend überstanden.

Nachdem die Nabelschnur weiß geworden war, schnitt Bothari sie mit der sterilisierten Klinge durch, und Cordelia knotete das gummiartige Ding zusammen, so gut sie konnte. Sie wischte das Baby ab, wickelte es in ihr sauberes Ersatzhemd und reichte es schließlich in Alys’ ausgestreckte Arme.

Alys blickte auf das Baby und begann wieder zu weinen, in gedämpften Schluchzern. »Padma sagte … ich würde die besten Ärzte haben. Padma sagte … es würde nicht weh tun. Padma sagte, er würde bei mir bleiben … zum Teufel mit dir, Padma!« Sie drückte Padmas Sohn an sich. In einem veränderten Ton sanfter Überraschung fügte sie hinzu: »Au!«

Der Mund des Kindes hatte ihre Brust gefunden und packte anscheinend zu wie ein Barracuda.

»Gute Reflexe«, stellte Bothari fest.

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