KAPITEL 4

Ein Aspekt ihres neuen Lebens als Gemahlin des Regenten, mit dem Cordelia leichter zurechtkam, als sie erwartet hatte, war der Zustrom von persönlichen Wachen in ihr Heim. Ihre Erfahrungen im Betanischen Erkundungsdienst und Vorkosigans Erfahrungen im barrayaranischen Militär hatten ihnen beiden Praxis darin gegeben, eng aufeinander zu leben. Cordelia brauchte nicht lange, bis sie die Leute in den Uniformen kannte und sie in ihrer Art akzeptierte. Die Wachen waren eine lebhafte junge Gruppe, handverlesen für ihren Dienst und stolz darauf. Wenn allerdings auch Piotr mit all seinen Livrierten im Haus war, dann wurde Cordelias Gefühl, in einer Kaserne zu wohnen, akut.

Es war der Graf, der zuerst die Idee aufbrachte, zwischen Illyans Leuten und seinen Männern ein inoffizielles Turnier im Nahkampf abzuhalten.

Obwohl der Sicherheitskommandant etwas von freiem Training auf des Kaisers Kosten murmelte, wurde ein Kampfring im Hintergarten eingerichtet, und der Wettbewerb wurde schnell zu einer allwöchentlichen Tradition. Selbst Koudelka trat in den Ring, als Schiedsrichter und Experte, während Piotr und Cordelia für Beifall sorgten. Zu Cordelias Befriedigung schaute Vorkosigan zu, wann immer seine Zeit es erlaubte, sie fühlte, er brauchte die Pausen in der aufreibenden Routine der Regierungsgeschäfte, der er sich tagtäglich unterwarf.

Als sich Cordelia an einem sonnigen Herbstmorgen auf ihrem Gartensofa niederließ, um — betreut von ihrem Dienstmädchen — den Wettkampf zu beobachten, da fragte sie aus heiterem Himmel: »Warum machen Sie nicht mit, Drou? Sicherlich brauchen Sie die Übung genauso wie jeder von ihnen. Der Vorwand für diese Sache hier — nicht daß ihr Barrayaraner einen Vorwand zu brauchen scheint, um Körperverletzung zu üben — war doch in erster Linie, daß dadurch alle auf Draht bleiben sollen.«

Droushnakovi blickte sehnsüchtig in den Kampfring, aber sie sagte: »Man hat mich nicht eingeladen, Mylady.«

»Das hat irgend jemand plumperweise übersehen. Hm. Ich sage Ihnen was — gehen Sie und ziehen Sie sich um. Sie können mein Team sein. Aral kann heute seines selbst anfeuern. Ein richtiger barrayaranischer Wettkampf sollte ja sowieso mindestens drei Parteien haben, das ist Tradition.«

»Glauben Sie, daß das in Ordnung ist?«, fragte Droushnakovi zweifelnd. »Es könnte sein, daß sie es nicht mögen.«

Die sie, um die es hier ging, waren die ›echten‹ Wachen, wie Droushnakovi sie nannte, die Männer in Livree.

»Aral würde es nichts ausmachen. Und jeder andere, der was dagegen hat, kann sich mit ihm streiten. Wenn er es wagt.« Cordelia grinste, und Droushnakovi erwiderte das Grinsen, dann eilte sie weg.

Aral kam und ließ sich bequem neben ihr nieder, und sie erzählte ihm von ihrem Plan. Er hob die Augenbrauen. »Eine betanische Neuerung? Nun ja, warum nicht? Mach dich aber auf Sticheleien gefaßt.«

»Ich bin darauf gefaßt. Sie werden aber gar nicht so sehr zu Witzeleien aufgelegt sein, wenn Droushnakovi ein paar von ihnen fertigmacht. Ich denke, sie kann das — auf Kolonie Beta wäre dieses Mädchen schon jetzt Offizier eines Kommandos. All dieses natürliche Talent wird damit vergeudet, daß sie den ganzen lieben langen Tag hinter mir hertrottet. Wenn sie es nicht kann — nun, dann sollte sie mich sowieso nicht bewachen, oder?« Ihr Blick traf den seinen.

»Diesen Punkt hast du gewonnen … Ich sorge dafür, daß Koudelka sie in der ersten Runde gegen jemand von ihrer eigenen Größen- und Gewichtsklasse aufstellt. Absolut gesehen ist sie etwas klein.«

»Sie ist größer als du.«

»Der Körpergröße nach. Ich stelle mir aber vor, daß ich ein paar Kilo mehr habe als sie. Nichtsdestoweniger, dein Wunsch ist mir Befehl, uff.« Er stand wieder auf und ging hin, um Droushnakovi auf Koudelkas Kampfliste eintragen zu lassen. Cordelia konnte nicht hören, was sie am anderen Ende des Gartens miteinander redeten, aber sie ergänzte den Dialog nach den Gesten und dem Mienenspiel auf ihre Weise und murmelte: »Aral: ›Cordelia wünscht, daß Droushnakovi mitmacht.‹ Kou: ›O weh! Wer will denn Mädels?‹ Aral: ›Sie gibt nicht nach.‹ Kou: ›Sie bringen alles durcheinander und außerdem heulen sie so viel. Feldwebel Bothari wird sie zerquetschen‹ — hm, ich hoffe, das ist es, was diese Geste bedeutet, sonst werden Sie obszön, Kou —, laß dein blödes Grinsen, Vorkosigan — Aral: ›Meine Frau besteht darauf. Sie wissen ja, wie sehr ich unter dem Pantoffel stehe.‹ Kou: ›O ja, geht in Ordnung.‹ Pffft. Verhandlung abgeschlossen: der Rest liegt bei Ihnen, Drou.«

Vorkosigan gesellte sich wieder zu ihr, »Alles geregelt. Sie startet gegen einen der Männer meines Vaters.«

Droushnakovi kehrte zurück, in lockeren Freizeithosen und mit einem Strickhemd, das war aus ihrer Garderobe das, was den Trainingsanzügen der Männer am nächsten kam. Der Graf trat heraus, um sich mit Feldwebel Bothari, seinem Teamchef, zu beraten und um neben ihnen ein sonniges Plätzchen für seine alten Knochen zu finden.

»Was bedeutet das?«, fragte Piotr, als Koudelka Droushnakovis Namen für die zweite Paarung aufrief. »Führen wir jetzt betanische Sitten ein?«

»Das Mädchen hat eine Menge natürliches Talent«, erklärte Vorkosigan, »außerdem braucht sie die Übung genauso wie jeder von ihnen — sogar noch mehr, denn sie hat ja von allen die wichtigste Aufgabe.«

»Als nächstes willst du noch Frauen in den Militärdienst nehmen«, beschwerte sich Piotr. »Wo wird das alles enden? Das möchte ich gerne wissen.«

»Was ist verkehrt an Frauen im Militärdienst?«, fragte Cordelia, um ihn ein bißchen zu reizen.

»Es ist unmilitärisch«, versetzte der alte Mann.

»›Militärisch‹ ist doch alles, was den Krieg gewinnt, sollte man meinen.«

Sie lächelte sanft. Vorkosigan warnte sie freundschaftlich mit einem leichten Zwicken, und sie ließ davon ab, an dieser Stelle weiter zu bohren.

Aber das war sowieso nicht nötig. Piotr wandte sich der Beobachtung seines Kämpfers zu und sagte nur: »Pfff!«

Der Kämpfer des Grafen unterschätzte etwas sorglos seine Gegnerin und erkannte seinen Irrtum bei seinem ersten Niederwurf. Der rüttelte ihn ganz schön wach. Die Zuschauer riefen derbe Kommentare. Beim nächsten Wurf preßte er sie an den Boden.

»Koudelka hat hier ein bißchen schnell gezählt, nicht wahr?«, fragte Cordelia, als der Kämpfer des Grafen Droushnakovi nach der Entscheidung aufstehen ließ.

»Mm, vielleicht«, sagte Vorkosigan in unverbindlichem Ton. »Sie hält sich auch ein bißchen zurück, merke ich. Sie wird es nie bis zur nächsten Runde schaffen, wenn sie sich hier so verhält.«

Bei der nächsten Begegnung, der entscheidenden für das Zwei-von-Drei, verwendete Droushnakovi eine erfolgreiche Armsperre, ließ aber dann den Gegner entschlüpfen.

»Ach, schade«, murmelte der Graf vergnügt.

»Sie hätten ihn zwingen sollen, die Sperre zu durchbrechen!«, rief Cordelia, die immer engagierter wurde. Der Mann des Grafen ließ sich weich und nachlässig auf den Boden fallen. »Ausrufen, Kou!« Aber der Schiedsrichter, der sich auf seinen Stock stützte, ließ es durchgehen. Auf jeden Fall entdeckte Droushnakovi eine Gelegenheit für einen Würgegriff und nützte sie.

»Warum klopft er nicht ab?«, fragte Cordelia.

»Er würde lieber ohnmächtig werden«, erwiderte Aral. »Auf diese Weise muß er nicht seinen Freunden zuhören.«

Droushnakovi begann zweifelnd dreinzublicken, als das unter ihrem Arm eingeklammerte Gesicht dunkelrot anlief. Cordelia sah, daß Droushnakovi drauf und dran war, loszulassen, sie sprang auf und rief: »Halten Sie durch, Drou! Lassen Sie sich nicht von ihm täuschen!« Droushnakovi packte fester zu, und der andere hörte auf zu zappeln.

»Los, rufen Sie aus, Koudelka«, rief Piotr, der mit Bedauern seinen Kopf schüttelte. »Er hat heute abend Dienst.« Und so ging die Runde an Droushnakovi.

»Gute Arbeit, Drou!«, sagte Cordelia, als Droushnakovi zu ihnen zurückkehrte. »Aber Sie müssen aggressiver werden. Lassen Sie Ihren Killerinstinkt heraus.«

»Ich bin der gleichen Meinung«, sagte Vorkosigan unerwarteterweise.

»Das winzige Zögern, das Sie an den Tag legen, könnte tödlich sein — und nicht nur für Sie selbst.« Er schaute sie fest an. »Sie üben hier für die Realität, obwohl wir alle darum beten, daß eine solche Situation nie eintritt. Aber die Art von totalem Einsatz, die sie verlangt, sollte absolut automatisch sein.«

»Jawohl, Sir. Ich werde mich bemühen, Sir.«

In der nächsten Runde kämpfte Sergeant Bothari, der seinen Gegner zweimal kurz hintereinander auf den Boden legte. Der Besiegte kroch aus dem Ring. Einige weitere Runden gingen vorüber, und dann war wieder Droushnakovi an der Reihe, diesmal mit einem von Illyans Männern.

Sie gerieten aneinander, und im Kampf zwickte er sie kräftig in ihr Hinterteil, was Buhrufe aus dem Publikum hervorrief. In ihrem Ärger und ihrer Verwirrung riß er sie aus ihrem Gleichgewicht zu einem ziemlich sauberen Wurf.

»Hast du das gesehen!«, rief Cordelia Aral zu. »Das war ein schmutziger Trick.«

»Mmm. Es war allerdings keiner der acht verbotenen Schläge. Man könnte ihn deswegen nicht disqualifizieren. Jedoch …« Er forderte Koudelka mit einem Wink zu einer Auszeit auf und rief Droushnakovi zu sich für ein paar ruhige Worte.

»Wir haben den Streich gesehen«, murmelte er. Sie preßte die Lippen aufeinander, ihr Gesicht war ganz rot. »Nun, da Sie Lady Cordelias Kämpferin sind, ist jede Beleidigung Ihrer Person auch eine Beleidigung von Mylady. Und außerdem ist es ein böser Präzedenzfall. Es ist mein Wunsch, daß Ihr Gegner den Ring nicht mit Bewußtsein verläßt. Wie Sie das machen, ist Ihr Problem. Sie können das als einen Befehl auffassen, wenn Sie das möchten. Und machen Sie sich auch keine unnötigen Sorgen über das Brechen von Knochen«, fügte er kühl hinzu.

Droushnakovi kehrte in den Ring zurück mit einem leichten Lächeln und zusammengekniffenen, funkelnden Augen. Nach einer Finte landete sie einen blitzschnellen Stoß gegen das Kinn ihres Gegners, dann einen Faustschlag in seinen Bauch und zuletzt einen tiefen Stoß mit dem Körper gegen seine Knie, der ihn mit einem Bums auf die Matte warf. Er kam nicht mehr hoch. Es herrschte ein leicht schockiertes Schweigen.

»Du hast recht«, sagte Vorkosigan, »sie hatte sich vorhin zurückgehalten.«

Cordelia lächelte selbstgefällig und machte es sich bequemer auf dem Sofa. »Ich dachte es mir doch.«

Die nächste Runde, bei der Droushnakovi drankam, war das Semifinale, und durch den Zufall der Auslosung war ihr Gegner Sergeant Bothari.

»Hm«, murmelte Cordelia zu Vorkosigan. »Ich bin mir nicht im klaren über die Psychodynamik dieses Kampfes. Ist das sicher? Ich meine für beide, nicht nur für sie. Und nicht nur körperlich.«

»Ich denke schon«, erwiderte er, gleichfalls leise. »Das Leben im Dienste des Grafen war eine hübsche, ruhige Routine für Bothari. Er hat immer seine Medikamente eingenommen. Ich glaube, er ist im Augenblick in ziemlich guter Verfassung. Und die Atmosphäre des Übungsrings ist für ihn sicher und vertraut. Daß er durchdreht, dazu braucht es mehr Spannung, als Drou schaffen kann.«

Cordelia nickte befriedigt und lehnte sich zurück, um den Kampf zu beobachten. Droushnakovi sah nervös aus.

Der Anfang war langsam, und dabei konzentrierte sich Droushnakovi hauptsächlich darauf, außer Reichweite zu bleiben. Als er sich umdrehte, um den Kampf zu beobachten, drückte Leutnant Koudelka aus Versehen den Auslöser an seinem Stockdegen, und die Scheide schoß davon in die Büsche. Bothari war für einen Augenblick abgelenkt, und Drou schlug zu, tief und schnell. Bothari landete sauber mit einem festen Aufprall, obwohl er unmittelbar danach wieder auf die Füße kam, fast ohne Unterbrechung.

»Oh, ein guter Wurf!«, rief Cordelia begeistert. Drou schaute genauso verwundert drein wie alle anderen. »Ausrufen, Kou!«

Leutnant Koudelka runzelte die Stirn. »Es war kein fairer Wurf, Mylady.«

Einer von den Männern des Grafen hob die Scheide auf und Koudelka steckte die Waffe wieder ein. »Es war meine Schuld. Unfaire Ablenkung.«

»Vor einer Weile haben Sie das andere keine unfaire Ablenkung genannt«, widersprach Cordelia.

»Laß es sein, Cordelia«, sagte Vorkosigan ruhig.

»Aber er betrügt sie um ihren Punkt!«, flüsterte sie wütend zurück. »Und um was für einen Punkt! Bothari war bis jetzt Spitze in jeder Runde.«

»Ja. Es brauchte sechs Monate Übung auf der alten General Vorkraft, bevor Koudelka ihn umwarf.«

»Oh. Hm.« Das gab ihr zu denken. »Eifersucht?«

»Hast du es nicht gesehen? Sie hat alles, was er verloren hat.«

»Ich habe gesehen, daß er bei Gelegenheit ziemlich grob zu ihr war. Es ist eine Schande. Sie ist offensichtlich …«

Vorkosigan hob warnend den Finger. »Sprich darüber später. Nicht hier.«

Sie hielt inne, dann nickte sie zustimmend. »In Ordnung.«

Die Runde ging weiter, wobei Sergeant Bothari Droushnakovi praktisch durch die Matte drückte, zweimal, ganz schnell, und dann seinen letzten Herausforderer mit nahezu gleicher Leichtigkeit erledigte.

Einige Kämpfer beratschlagten am anderen Ende des Gartens und sandten dann Koudelka, der als Emissär herüberhinkte.

»Sir? Wir haben überlegt, ob Sie wohl eine Demonstrationsrunde einlegen würden. Mit Sergeant Bothari. Keiner von den Burschen hier hat das je gesehen.«

Vorkosigan winkte bei dieser Idee ab, nicht sehr überzeugend. »Ich bin nicht in Form dafür, Leutnant. Übrigens, wie haben die das überhaupt herausbekommen. Haben Sie ihnen Geschichten erzählt?«

Koudelka grinste: »Ein paar. Ich denke, es würde ihnen ein Licht aufstecken. Was für eine Art Spiel das wirklich sein kann.«

»Ein schlechtes Beispiel, fürchte ich.«

»Ich habe dies nie gesehen«, murmelte Cordelia. »Ist das wirklich eine so gute Show?«

»Ich weiß nicht. Habe ich dich in letzter Zeit mal beleidigt? Wäre es für dich eine Genugtuung zu sehen, wie Bothari mich zusammenschlägt?«

»Ich denke, es wäre für dich«, sagte Cordelia und ging damit auf seinen offensichtlichen Wunsch ein, überredet zu werden. »Ich denke, dir hat diese Art von Aktivität gefehlt, in diesem Leben im Hauptquartier, das du in letzter Zeit geführt hast.«

»Ja …« Er erhob sich, während einige Leute klatschten, legte die Uniformjacke ab, die Schuhe, die Ringe und den Inhalt seiner Taschen und trat an den Ring heran, um sich dann zu strekken und Aufwärmübungen zu machen. »Sie sollten lieber Schiedsrichter machen, Kou«, rief er zurück. »Nur, damit es keine unnötige Aufregung gibt.«

»Ja, Sir.« Koudelka wandte sich Cordelia zu, bevor er zur Kampfarena zurückhinkte. »Ahem. Erinnern Sie sich nur daran, Mylady, sie haben sich in den vier Jahren, wo sie diesen Sport trieben, nie umgebracht.«

»Warum nur empfinde ich das eher ominös als beruhigend? Und doch: Bothari hat heute morgen sechs Runden gekämpft. Vielleicht wird er jetzt müde.«

Die beiden Männer traten in der Arena aufeinander zu und verneigten sich formell. Koudelka zog sich hastig aus ihrer Reichweite zurück. Die rauhen, gutgelaunten Rufe der Zuschauer erstarben, während die eiskalte und konzentrierte Ruhe der beiden Kämpfer alle Blicke auf sich zog. Sie begannen, sich leichtfüßig zu umkreisen, dann trafen sie in einer blitzschnellen Aktion aufeinander. Cordelia sah nicht genau, was geschah, aber als sie sich wieder trennten, spuckte Vorkosigan Blut aus dem verletzten Mund, und Bothari krümmte sich über seinen Bauch.

Beim nächsten Kontakt landete Bothari einen Tritt gegen Vorkosigans Rücken, dessen Echo von den Gartenmauern widerhallte und der ihn aus der Arena herausschleuderte. Vorkosigan rollte sich wieder hoch und rannte zurück, obwohl ihm der Atem wegblieb. Die Männer, deren Schutz das Leben des Regenten anvertraut war, begannen einander besorgt anzublicken. Beim nächsten Griff erlebte Vorkosigan einen heftigen Sturz, und sofort landete Bothari auf ihm für einen anschließenden Würgegriff, Cordelia meinte, sie könnte sehen, wie sich seine Rippen unter den Knien auf seinem Brustkasten bogen. Ein paar von den Wachen stürzten nach vorn, aber Koudelka winkte sie zurück, und Vorkosigan, dessen Gesicht dunkelrot anlief, klopfte ab.

»Erster Punkt an Sergeant Bothari«, rief Koudelka. »Die besten zwei von drei, Sir?«

Sergeant Bothari stand leicht lächelnd da, und Vorkosigan blieb für eine Minute auf der Matte sitzen, um wieder zu Atem zu kommen. »Noch einen, auf jeden Fall. Muß unbedingt meine Revanche bekommen. Nicht in Form.«

»Sagte ich Ihnen«, murmelte Bothari, Wieder umkreisten sie sich. Sie trafen aufeinander, trennten sich, trafen wieder aufeinander, und plötzlich vollführte Bothari einen spektakulären Radschlag, während Vorkosigan unter ihn rollte, um eine Armsperre zu greifen, bei der er sich in seinem gedrehten Wurf fast die Schulter ausrenkte. Bothari zappelte kurz gegen den Fesselgriff, dann klopfte er ab.

Diesmal war es Bothari, der eine Minute lang auf der Matte saß, bevor er wieder hochkam.

»Das ist unglaublich«, kommentierte Droushnakovi mit begeistertem Blick, »vor allem, wenn man bedenkt, um wieviel kleiner er ist.«

»Klein, aber gefährlich«, stimmte Cordelia fasziniert zu. »Denken Sie dran.«

Die dritte Runde war kurz. Ein Durcheinander von Griffen und Schlägen und schlampigen gemeinsamen Stürzen endete plötzlich in einer Armfesselung mit Bothari in der Oberhand. Vorkosigan versuchte unklugerweise, die Sperre zu durchbrechen, und Bothari verrenkte ihm völlig ausdruckslos den Ellbogen mit einem hörbaren Knacks. Vorkosigan brüllte auf und klopfte ab. Wieder unterdrückte Koudelka den Impuls, unaufgefordert zur Hilfe zu eilen.

»Wieder einrenken, Sergeant«, stöhnte Vorkosigan von seinem Platz am Boden, und Bothari stützte einen Fuß auf seinen früheren Kapitän und zog an dem Arm mit einem genau dosierten Ruck.

»Sie müssen dran denken«, keuchte Vorkosigan, »das nicht mehr zu tun.«

»Wenigstens hat er ihn diesmal nicht gebrochen«, sagte Koudelka aufmunternd und half ihm mit Botharis Unterstützung hoch. Vorkosigan hinkte zu seinem Gartenstuhl zurück und setzte sich sehr vorsichtig zu Cordelias Füßen. Auch Bothari bewegte sich beträchtlich langsamer und steifer.

»Und das«, sagte Vorkosigan, immer noch um Atem ringend, »war, wie … wir das Spiel an Bord der alten General Vorkraft trieben.«

»All diese Anstrengung«, bemerkte Cordelia. »Und wie oft seid ihr wirklich in die Situation eines echten Nahkampfes geraten?«

»Sehr, sehr selten. Aber wenn, dann haben wir gewonnen.«

Die Gesellschaft löste sich auf, unter gemurmelten Kommentaren der anderen Kämpfer. Cordelia begleitete Aral, um seinem Ellbogen und seinem Mund Erste Hilfe angedeihen zu lassen und um ihm bei einer heißen Dusche, dem anschließenden Trockenreiben und dem Umziehen zu helfen.

Während sie ihn frottierte, brachte sie das Personalproblem zur Sprache, das sie seit einiger Zeit beschäftigte.

»Meinst du, du könntest etwas zu Kou sagen über die Art, wie er Drou behandelt? Das paßt gar nicht zu ihm. Sie macht schon fast Saltos im Bemühen, nett zu ihm zu sein. Und er behandelt sie nicht einmal mit der gleichen Höflichkeit, die er einem seiner Männer entgegenbringen würde.

Sie ist praktisch eine Offizierskollegin. Und, wenn ich nicht total daneben liege, wahnsinnig in ihn verliebt. Warum sieht er das nicht?«

»Was läßt dich glauben, daß er es nicht sieht?«, fragte Aral langsam.

»Sein Benehmen, natürlich. Eine Schande. Und sie wären so ein schönes Paar. Glaubst du nicht, daß sie attraktiv ist?«

»Unglaublich attraktiv. Aber ich mag ja große Amazonen«, er grinste ihr über seine Schulter hinweg zu, »wie jedermann weiß. Doch das ist nicht jedermanns Geschmack, Aber falls das ein kupplerisches Funkeln ist, was ich in deinen Augen entdecke — meinst du nicht, es könnten irgendwelche mütterlichen Hormone dabei im Spiel sein?«

»Soll ich dir auch den anderen Ellbogen ausrenken?«

»Uff, nein danke. Ich hatte vergessen, wie schmerzhaft ein Training mit Bothari sein kann. Ah, das ist besser. Jetzt noch ein bißchen weiter unten …«

»Du wirst morgen hier ein paar wunderbare blaue Flecken haben.«

»Meinst du, ich weiß das nicht? Aber bevor du wegen Drous Liebesleben in Verzückung gerätst … hast du schon einmal gründlich über Koudelkas Verwundungen nachgedacht?«

»Oh.« Cordelia schwieg betroffen. »Ich hatte angenommen… daß seine Sexualfunktionen ebenso gut wiederhergestellt ist wie der Rest von ihm.«

»Oder ebenso schlecht. Das ist ein ziemlich heikles Kapitel Chirurgie.«

Cordelia schürzte ihre Lippen: »Weißt du das tatsächlich?«

»Nein, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß in all unseren Gesprächen dieses Thema nie berührt wurde. Nie.«

»Hm. Ich wünsche mir, ich wüßte, wie ich das deuten soll. Es klingt ein bißchen problematisch. Meinst du nicht, du könntest einmal fragen …?«

»Du lieber Gott, Cordelia, natürlich nicht! Was für eine Frage an einen Mann. Vor allem, wenn die Antwort nein lautet. Ich muß mit ihm zusammenarbeiten, denk dran.«

»Nun ja, und ich muß mit Droushnakovi zusammenarbeiten. Sie nützt mir nichts, wenn sie verschmachtet und an gebrochenem Herzen stirbt. Er hat sie zum Weinen gebracht, mehr als einmal. Sie heult los, wenn sie denkt, daß niemand sie sieht.«

»Wirklich? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.«

»Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich ihr sage, er sei es gar nicht wert, wenn man alles in Betracht zieht. Aber hat er wirklich eine Abneigung gegen sie? Oder ist das nur Selbstschutz?«

»Eine gute Frage … Ich weiß nicht, was ich davon halten soll: mein Fahrer machte neulich eine scherzhafte Bemerkung über sie — keine sehr anstößige —, und Kou reagierte darauf sehr frostig. Ich glaube nicht, daß er eine Abneigung gegen sie hat. Aber ich glaube, daß er sie beneidet.«

Cordelia beließ das Thema bei diesem Unentschieden. Sie wollte dem Paar helfen, wußte aber keine Antwort für dessen Dilemma. Ihr Verstand hatte zwar keine Schwierigkeiten, sich kreative Lösungen auszudenken für die praktischen Probleme der körperlichen Intimität, die durch die Verwundungen des Leutnants verursacht waren, aber sie zuckte zurück vor der Verletzung ihrer scheuen Zurückhaltung, die ein solches Angebot zur Folge haben würde. Sie vermutete, daß sie sie nur schockieren würde.

Sextherapie war anscheinend hierzulande noch unbekannt.

Als wahre Betanerin hatte sie immer eine doppelte Moral im Sexualverhalten für eine logische Unmöglichkeit gehalten. Seit sie sich in Vorkosigans Kielwasser jetzt am Rande der guten Gesellschaft von Barrayar bewegte, begann sie endlich zu verstehen, wie dies doch möglich war. Es schien alles darauf hinauszulaufen, daß der freie Fluß von Informationen gegenüber bestimmten Personen behindert wurde, vorsortiert nach einem unausgesprochenen Code, der allen Anwesenden außer ihr irgendwie bekannt und akzeptiert war. Man konnte Sex nicht gegenüber oder vor unverheirateten Frauen oder Kindern erwähnen. Junge Männer, so schien es, waren von allen Regeln befreit, wenn sie miteinander sprachen, aber nicht, wenn irgendeine Frau — gleich welchen Alters oder Ranges — zugegen war. Die Regeln änderten sich auch auf verwirrende Weise mit Veränderungen im sozialen Status der Anwesenden. Und verheiratete Frauen in Gruppen, die sich sicher vor männlichen Lauschern fühlten, verwandelten sich manchmal ganz überraschend in scheinbare Datenbanken. Über manche Themen konnte man zwar Witze machen, aber nicht ernsthaft reden. Und manche Varianten konnten überhaupt nicht erwähnt werden. Sie hatte mehr als eine Konversation hoffnungslos aus dem Geleise gebracht mit dem, was sie für eine völlig selbstverständliche und beiläufige Bemerkung gehalten hatte, und war dann von Aral beiseite genommen worden für eine schnelle Lagebesprechung.

Sie versuchte, eine Liste der Regeln zusammenzustellen, von denen sie glaubte, sie habe sie herausgefunden, aber sie fand sie so unlogisch und widersprüchlich, vor allem da, wo es darum ging, was bestimmte Leute in Gegenwart anderer bestimmter Leute vorgeben sollten, nicht zu wissen, daß sie ihre Bemühung aufgab. Sie zeigte die Liste Aral, der sie eines Nachts im Bett las und sich vor Lachen fast krümmte.

»Sehen wir so wirklich für dich aus? Ich mag deine Regel Sieben. Muß sie mir merken … Ich wünschte mir, ich hätte sie in meiner Jugend gekannt. Dann hätte ich mir all die scheußlichen Trainingsvids bei der Armee ersparen können.«

»Wenn du noch mehr wieherst, dann kriegst du Nasenbluten«, sagte sie scharf. »Das sind eure Regeln, nicht meine. Deine Leute verhalten sich danach. Ich versuche nur, sie herauszufinden.«

»Mein süße Wissenschaftlerin. Hm. Du nennst sicherlich die Dinge bei ihren richtigen Namen. Wir haben das nie versucht … Würdest du gern mit mir gegen Regel Elf verstoßen, lieber Captain?«

»Laß mich mal sehen, welche das ist — o ja! Sicher. Jetzt? Und wenn wir schon dabei sind, erledigen wir noch schnell Regel Dreizehn. Meine Hormone sind aktiv. Ich erinnere mich, daß die Gefährtin meines Bruders mir über diese Wirkung erzählt hat, aber damals habe ich ihr nicht wirklich geglaubt. Sie sagte, man macht das später wieder gut, nach der Geburt.«

»Dreizehn? Ich hätte nie gedacht …«

»Das liegt daran, daß du als Barrayaraner soviel Zeit damit verbringst, Regel Zwei zu befolgen.«

Für einige Zeit war die Anthropologie vergessen. Aber sie fand heraus, daß sie ihn später immer mit einem zum richtigen Zeitpunkt gemurmelten ›RegeI Neun, Sir‹ zum Lachen bringen konnte.

Die Jahreszeiten wechselten. An diesem Morgen war eine Andeutung von Winter in der Luft gewesen, Frost, der einige Pflanzen in Graf Piotrs Hintergarten hatte eingehen lassen. Cordelia erwartete ihrem ersten echten Winter mit Faszination. Vorkosigan versprach ihr Schnee, gefrorenes Wasser, etwas, das sie nur auf zwei Erkundungsmissionen erlebt hatte.

Noch vor dem Frühling werde ich einen Sohn gebären. Ha!

Aber der Nachmittag war übersonnt vom Herbstlicht, und es war wieder warm geworden. Das flache Dach des Vorderflügels von Palais Vorkosigan strahlte nun diese Wärme wieder ab, um Cordelias Fußknöchel herum, als sie dort oben sich ihren Weg suchte, während die Luft in Höhe ihrer Wangen schon wieder zur Frische abkühlte und die Sonne zum Horizont der Stadt hinabsank.

»Guten Abend, Jungs.« Cordelia nickte den beiden Wachen zu, die hier auf dem Dach postiert waren.

Sie nickten zurück, der ältere berührte seine Stirn in einem zögernden Geste des Salutierens: »Mylady.«

Cordelia hatte es sich angewöhnt, von hier oben regelmäßig den Sonnenuntergang zu betrachten. Der Ausblick auf die Stadtlandschaft von diesem Aussichtspunkt über dem dritten Stock war sehr schön. Sie konnte jenseits von Bäumen und Gebäuden den Fluß glitzern sehen, der die Stadt teilte. Ein tiefes Loch, das ein paar Häuserblocks weiter in Blickrichtung ausgehoben war, ließ allerdings den Schluß zu, daß die Flußszenerie bald von neuer Architektur verdeckt sein würde. Von dem Steilufer oberhalb des Wassers grüßte das höchste Türmchen von Schloß Vorhartung, wo sie all diesen Zeremonien im Saal des Rates der Grafen beigewohnt hatte. Jenseits von Schloß Vorhartung lagen die ältesten Viertel der Hauptstadt.

Diese Gegend hatte sie noch nicht gesehen, denn ihre verwinkelten Gassen, gerade breit genug für ein Pferd, waren unpassierbar für Bodenwagen.

Allerdings war sie schon hinweggeflogen über diese seltsamen, niedrigen dunklen Flecken im Herzen der Stadt. Die neueren Stadtteile, die sich glitzernd bis zum Horizont ausdehnten, entsprachen mehr dem galaktischen Standard, und sie waren um die modernen Verkehrssysteme herum angelegt.

Nichts davon war wie auf Kolonie Beta. Vorbarr Sultana dehnte sich ganz auf der Oberfläche aus oder stieg zum Himmel empor, auf seltsame Weise zweidimensional und ungeschützt. Die Städte auf Kolonie Beta jedoch tauchten hinab in Schächte und Tunnel, vielschichtig und komplex, behaglich und sicher. In der Tat, auf Kolonie Beta war Architektur eigentlich mehr Innenarchitektur. Erstaunlich war die Vielfalt von Mustern, mit denen die Menschen Wohnungen variierten, die Außenseiten hatten.

Die Wachen zuckten zusammen und seufzten, als sie sich auf das Steingeländer lehnte und hinabblickte. Sie mochten es gar nicht, wenn sie näher als drei Meter an den Rand herantrat, obwohl die ganze Örtlichkeit nur sechs Meter breit war. Aber sie wollte Vorkosigans Bodenwagen erkennen, der bald in die Straße einbiegen mußte. Sonnenuntergänge waren recht schön, aber jetzt waren ihre Augen nach unten gerichtet.

Sie atmete den vielfältigen Geruch ein, von Vegetation, Wasserdunst, industriellen Abgasen. Barrayar erlaubte ein erstaunliches Ausmaß von Luftimmission, als ob … Nun ja, die Luft war hier kostenlos. Niemand maß sie zu, es gab keine Gebühren für Luftbearbeitung und Filtration …

Wußten diese Leute überhaupt, wie reich sie waren? All die Luft, die sie atmen konnten, einfach indem sie nach draußen traten, betrachteten sie gleichgültigerweise als so selbstverständlich wie das gefrorene Wasser, das vom Himmel fiel. Sie nahm einen extra Atemzug, als könnte sie die Luft irgendwie gierig horten, und lächelte …

Ein fernes, scharfes, knatterndes Krachen unterbrach ihre Gedanken und ließ sie den Atem anhalten. Beide Wachen sprangen auf. Also, du hast einen Knall gehört. Das muß nicht unbedingt etwas mit Aral zu tun haben. Und dann der eisige Gedanke: Es klang wie eine Schallgranate.

Keine kleine. Lieber Gott! Da stieg eine Säule von Rauch und Staub aus einer Straßenschlucht ein paar Häuserblocks weiter, sie konnte deren Ursprung nicht sehen … sie lehnte sich hinaus …

»Mylady!« Der jüngere der beiden Wächter ergriff ihren Oberarm. »Bitte gehen Sie hinein.« Sein Gesicht war gespannt, seine Augen geweitet. Der ältere hielt die Hand ans Ohr gepreßt, er versuchte Informationen über seinen Kommunikationskanal zu bekommen — sie hatte kein Kom-Link dabei.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Mylady, bitte gehen Sie nach unten!« Der Wächter drängte sie zu der Falltür zur Dachstube, von der eine Treppe zum dritten Stock führte. »Ich bin sicher, das war nichts besonderes«, beschwichtigte er, während er sie schob.

»Das war eine Schallgranate Klasse Vier, vermutlich mit einem Luftrohr abgefeuert«, setzte sie seiner beängstigenden Unwissenheit entgegen. »Es sei denn, ein Selbstmörder hat sie geworfen. Haben Sie noch nie eine explodieren hören?«

Droushnakovi kam durch die Falltür geschossen, eine zerdrückte Buttersemmel in der einen Hand und ihren Betäuber in der anderen.

»Mylady?« Der Wächter blickte erleichtert drein, schob Cordelia ihr zu und kehrte zu seinem Vorgesetzten zurück. Cordelia, die am liebsten laut geschrieen hatte, grinste mit zusammengebissenen Zähnen, ließ sich beschützen und kletterte folgsam durch die Falltür hinab.

»Was ist geschehen?«, zischte sie Droushnakovi zu.

»Ich weiß es noch nicht. Das rote Alarmsignal leuchtete im Erfrischungsraum im Keller auf, und jeder rannte auf seinen Posten«, keuchte Drou. Sie mußte sich praktisch die sechs Treppen hinaufteleportiert haben.

Cordelia raste die Treppen hinab und wünschte sich, es gäbe hier ein Fallrohr. Die Kommunikationskonsole in der Bibliothek war sicherlich besetzt — irgend jemand mußte ein Kom-Link haben — sie wirbelte die Wendeltreppe hinunter und flitzte über die schwarzen und weißen Steinfliesen.

Der Wachkommandant des Hauses war tatsächlich auf seinem Posten und erteilte Befehle über das Mikrophon. Der Oberste von Graf Piotrs Livrierten hampelte nervös hinter ihm herum. »Sie kommen direkt hierher«, sagte der Sicherheitsbeamte über seine Schulter, »holen Sie den Doktor!« Der Mann in der braunen Uniform rannte davon.

»Was ist geschehen?«, wollte Cordelia wissen. Ihr Herz hämmerte in der Brust, und das nicht nur davon, daß sie die Treppe herabgerannt war.

Der Sicherheitsmann blickte zu ihr auf, setzte an, etwas Beruhigendes und Bedeutungsloses zu sagen, doch dann besann er sich anders und sagte: »Jemand hat aus dem Hinterhalt auf den Bodenwagen des Regenten geschossen. Daneben. Sie fahren weiter, hierher.«

»Wie nah daneben?«

»Ich weiß es nicht, Mylady.«

Vermutlich wußte er es nicht. Aber wenn der Bodenwagen noch funktionierte … Mit einer hilflosen Geste bedeutete sie ihm, sich wieder seiner Arbeit zu widmen, und eilte in das Foyer, wo jetzt einige von Graf Piotrs Männern zusammengelaufen waren, die sie davon abhielten, zu nahe an der Tür zu stehen. Sie nahm drei Stufen, klammerte sich ans Treppengeländer und biß sich auf die Lippe.

»War Leutnant Koudelka bei ihm, was meinen Sie?«, fragte Droushnakovi zaghaft.

»Vermutlich, Gewöhnlich ist er ja dabei«, antwortete Cordelia geistesabwesend, den Blick auf die Tür gerichtet, und wartete, wartete …

Sie hörte den Wagen herankommen. Einer von Graf Piotrs Männern öffnete die Haustür. Sicherheitsleute umschwärmten das silbrige Fahrzeug im Säulengang — Gott, woher waren denn die alle gekommen? Der glänzende Lack des Wagens war verkratzt und zeigte Brandspuren, aber es gab keine tiefen Dellen. Das hintere Verdeck war nicht zerbrochen, das vordere hatte Schrammen abbekommen. Die hinteren Türen schwangen hoch, und Cordelia streckte sich, um einen Blick auf Vorkosigan werfen zu können, doch es war zum Verrücktwerden: die grünen Rücken der Sicherheitsleute nahmen ihr die Sicht. Endlich gingen sie zur Seite. In der Türöffnung saß Leutnant Koudelka und blinzelte benommen, während Blut an seinem Kinn herabtropfte. Ein Wächter half ihm auf die Füße.

Schließlich kam Vorkosigan heraus, er ließ sich nicht heben und lehnte Hilfe ab. Selbst die besorgtesten Wachen wagten es nicht, ihn ohne Aufforderung zu berühren. Er schritt ins Haus, mit grimmigem und bleichem Gesicht. Koudelka folgte, gestützt auf seinen Stock und einen Korporal der Sicherheitstruppe. Er sah verstörter aus als Vorkosigan, aus seiner Nase strömte Blut. Piotrs Mann schlug die Vordertür von Palais Vorkosigan zu und schloß damit drei Viertel des Durcheinanders aus.

Über die Köpfe der Männer hinweg begegnete Aral ihrem Blick, und der finstere Ausdruck auf seinem Gesicht ließ etwas nach. Er nickte ihr unmerklich zu: Mir ist nichts passiert. Sie preßte ihre Lippen erwidernd zusammen: Ich hoffe bei Gott, das stimmt …

Kou sagte mit zitternder Stimme: »… schrecklich großes Loch in der Straße! Hätte glatt ein Lastwagen drin verschwinden können. Dieser Fahrer hat erstaunliche Reflexe — was?« Er schüttelte den Kopf, als ihm jemand eine Frage stellte. »Tut mir leid, mir klingen meine Ohren — was haben Sie gesagt?« Er stand da mit offenem Mund, als könnte er die Töne durch den Mund aufnehmen, berührte sein Gesicht und starrte überrascht auf seine blutverschmierte Hand.

»Ihre Ohren sind nur betäubt«, sagte Vorkosigan. Seine Stimme war ruhig, aber viel zu laut. »Morgen früh werden sie wieder in Ordnung sein.« Nur Cordelia erkannte, daß er nicht Koudelka zuliebe so laut sprach — Vorkosigan selbst konnte auch nichts hören. Seine Augen wanderten zu schnell umher: das einzige Anzeichen dafür, daß er versuchte, den anderen von den Lippen abzulesen.

Simon Illyan und ein Arzt kamen fast im gleichen Augenblick an.

Vorkosigan und Koudelka wurden in ein ruhiges Hinterzimmer gebracht, und die ganzen — nach Cordelias Auffassung ziemlich nutzlosen — Wachen wurden weggeschickt. Cordelia und Droushnakovi folgten den Verletzten. Der Arzt begann sofort mit der Untersuchung, und zwar, auf Vorkosigans Befehl, bei dem blutbesudelten Koudelka.

»Ein Schuß?«, fragte Illyan.

»Nur einer«, bestätigte Vorkosigan, der auf Illyans Gesicht blickte. »Wenn sie lang genug für einen zweiten Versuch geblieben wären, dann hätten sie mich in die Zange nehmen können.«

»Wenn er länger geblieben wäre, dann hätten wir ihn in die Zange nehmen können. Ein Spurensicherungsteam ist jetzt am Tatort. Der Attentäter ist natürlich längst auf und davon. Eine schlau ausgewählte Stelle: von dort hatte er ein Dutzend Fluchtwege.«

»Wir ändern unsere Route täglich«, sagte Leutnant Koudelka, der dem Gespräch mit Mühe folgte, während er ein Tuch an sein Gesicht preßte. »Wie wußte er, wo er seinen Hinterhalt legen mußte?«

»Interne Informationen?« Illyan hob die Schultern und biß seine Zähne zusammen.

»Nicht unbedingt«, sagte Vorkosigan. »Es gibt nur ein paar Routen, so nahe am Haus. Er kann schon Tage darauf gewartet haben.«

»Genau an der Grenze unseres Intensivschutz-Bereichs?«, sagte Illyan. »Das gefällt mir nicht.«

»Mich beunruhigt mehr, daß er danebengeschossen hat«, sagte Vorkosigan. »Warum? Kann es ein Warnschuß gewesen sein? Ein Angriff nicht auf mein Leben, sondern auf mein seelisches Gleichgewicht?«

»Das Geschütz war alt«, sagte Illyan. »Möglicherweise war etwas mit seiner Zieleinrichtung nicht in Ordnung — niemand hat einen Impuls eines Laser-Entfernungsmessers festgestellt.« Er hielt inne und blickte auf Cordelias bleiches Gesicht. »Ich bin sicher, das war ein verrückter Einzelgänger, Mylady. Zumindest war es sicherlich nur ein einziger Mann.«

»Wie kommt ein verrückter Einzelgänger an militärische Waffen?«, fragte sie scharf.

Illyan schaute unbehaglich drein. »Wir werden das untersuchen. Es war auf jeden Fall ein veraltetes Gerät.«

»Werden denn veraltete Waffenbestände hier nicht vernichtet?«

»Es gibt so viel davon …«

Auf diese törichte Aussage reagierte Cordelia wütend: »Er brauchte nur einen einzigen Schuß. Wenn ihm ein direkter Treffer auf den hermetisch abgeschlossenen Wagen gelungen wäre, dann wäre Aral jetzt emulgiert. Und Ihr Spurensicherungsteam wäre jetzt dabei, auseinanderzusortieren, welche Moleküle zu ihm und welche zu Koudelka gehörten.«

Droushnakovi wurde leicht grün im Gesicht, Vorkosigans Züge zeigten jetzt wieder den finsteren Ausdruck wie zuvor.

»Wollen Sie, daß ich Ihnen eine genaue Resonanzreflektionsamplitude für diese geschlossene Passagierkabine ausrechne, Simon?«, fuhr Cordelia gereizt fort, »Wer auch immer diese Waffe auswählte, war ein fähiger Militärtechniker — wenn auch, glücklicherweise, ein schlechter Schütze.« Sie schluckte weitere Worte hinunter, da sie, vielleicht sogar als einzige, die unterdrückte Hysterie spürte, die sie ihre Sätze hervorsprudeln ließ.

»Ich bitte um Verzeihung, Captain Naismith.« Illyans Ton war schneidig. »Sie haben völlig recht.« Sein Kopfnicken war eine Nuance respektvoller.

Aral hatte dieses Intermezzo mit verborgenem Amüsement verfolgt, und dabei hatte sein Gesicht sich zum ersten Mal aufgehellt.

Illyan machte sich fort, ohne Zweifel den Kopf voller Verschwörungstheorien. Der Doktor bestätigte Arals aus Kampferfahrung stammende Diagnose auraler Betäubung, verschrieb starke Tabletten gegen Kopfschmerzen — Aral bestand entschlossen auf seinem gewohnten Medikament — und vereinbarte eine Nachuntersuchung der beiden Männer am nächsten Morgen.

Als Illyan am späten Abend wieder in Palais Vorkosigan eintraf, um sich mit seinem Wachkommandanten zu beraten, mußte Cordelia sehr an sich halten, um ihn nicht an seiner Jacke zu packen und an die nächste Wand drücken, um seine Informationen aus ihm herauszupressen. Statt dessen beschränkte sie sich darauf, ihn einfach zu fragen: »Wer hat versucht, Aral umzubringen? Wer will Aral umbringen? Welchen Nutzen versprechen sie sich davon?«

Illyan seufzte: »Wollen Sie die kurze Liste oder die lange, Mylady?«

»Wie lang ist die kurze Liste?«, fragte sie in morbider Faszination.

»Zu lang. Aber ich kann Ihnen den oberen Teil aufzählen, wenn Sie wollen.« Er zählte sie an den Fingern ab: »Die Cetagandaner, immer. Sie hatten mit politischem Chaos hier gerechnet, nach Ezars Tod. Sie scheuen sich nicht, es hier zu provozieren. Ein Attentat ist eine billige Einmischung, verglichen mit einer Invasionsflotte. Die Komarraner, als alte Rache oder neue Revolte. Dort bezeichnen einige den Admiral immer noch als den Schlächter von Komarr …«

Cordelia, die die ganze Geschichte hinter diesem verhaßten Beinamen kannte, zuckte zusammen.

»Die Anti-Vor, denn der Regent ist für ihren Geschmack zu konservativ. Die rechten Militärs, die fürchten, er sei zu progressiv. Übriggebliebene Mitglieder von Prinz Sergs und Vorrutyers alter Kriegspartei. Frühere Funktionäre des jetzt unterdrückten Ministeriums für Politische Erziehung, obwohl ich bezweifle, daß einer von denen danebengeschossen hätte. Denn Negris Abteilung hatte sie trainiert. Irgendein verärgerter Vor, der meint, er sei beim kürzlichen Machtwechsel zu kurz gekommen. Ein x-beliebiger Verrückter mit Zugang zu Waffen und dem Verlangen nach schnellem Ruhm als Großwildjäger — soll ich weitermachen?«

»Nein, bitte nicht. Aber wie steht’s heute? Wenn das Motiv eine zu große Auswahl an Verdächtigen zuläßt, was ist dann mit Methode und Gelegenheit?«

»In dieser Hinsicht haben wir noch einiges zu tun, obwohl zu viel davon negativ ausgeht. Wie ich schon festgestellt habe, war es ein ganz geschickt ausgeführter Versuch. Wer auch immer ihn geplant hat, mußte Zugang zu einer bestimmten Art von Wissen haben. Wir werden zuerst diese Aspekte untersuchen.«

Cordelia kam zu dem Schluß, daß die Anonymität des versuchten Attentats es war, was sie am meisten beunruhigte. Wenn der Mörder jeder Beliebige sein konnte, dann wurde das Verlangen übermächtig, jeden zu verdächtigen. Verfolgungswahn war hier anscheinend eine ansteckende Krankheit, die Barrayaraner infizierten sich damit gegenseitig. Nun ja, die vereinten Mannschaften von Negri und Illyan mußten ja bald einige konkrete Fakten ans Tageslicht bringen. Sie packte alle ihre Ängste in ein kleines, winziges Verlies in ihrer Magengrube und schloß sie dort ein.

Neben ihrem Kind.

In dieser Nacht hielt Vorkosigan sie ganz eng in die Wölbung seines kräftigen Körpers gekuschelt, obwohl er ihr keine sexuellen Avancen machte. Er hielt sie nur. Er blieb stundenlang wach, trotz der Schmerztabletten, die seine Augen glasig machten. Sie schlief erst ein, als er schon schlief. Sein Schnarchen lullte sie ein. Es gab nicht viel zu sagen.

Sie haben danebengetroffen: wir machen weiter.

Bis zum nächsten Versuch.

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