KAPITEL 5

Der Geburtstag des Kaisers war ein traditioneller barrayaranischer Feiertag, er wurde gefeiert mit Festessen, Tanz, Trinkgelagen, Veteranenparaden und einer unglaublichen Menge von offensichtlich völlig unkontrolliertem Feuerwerk. Es wäre ein großartiger Tag für einen Überraschungsangriff auf die Hauptstadt, fand Cordelia, ein Artilleriefeuer könnte schon längst im Gange sein, bevor es irgend jemand in dem allgemeinen Lärm merkte. Der Tumult begann schon bei Morgengrauen.

Die diensthabenden Wachen, die sowieso schon von Natur aus bei jedem plötzlichen Lärm aufschreckten, waren unruhig und unglücklich, außer ein paar Jüngeren, die versuchten, den Tag durch Abbrennen von ein paar Knallfröschen innerhalb der Mauern zu feiern. Sie wurden vom Wachkommandanten zur Seite genommen und kamen viel später wieder heraus, bleich und kleinlaut, und stahlen sich leise davon. Cordelia sah sie später unter dem Kommando einer bissigen Hausangestellten Müll wegbringen, während ein Küchenmädchen und die zweite Köchin fröhlich aus dem Haus eilten, um einen überraschenden freien Tag zu genießen.

Der Geburtstag des Kaisers war ein beweglicher Feiertag. Die Begeisterung der Barrayaraner für diesen Feiertag wurde nicht getrübt durch die Tatsache, daß sie ihn, wegen Ezars Tod und Gregors Thronbesteigung, in diesem Jahr schon zum zweiten Mal feierten.

Cordelia schlug eine Einladung zu einer großen Truppenparade aus, die Arals ganzen Vormittag kostete, um statt dessen für das Ereignis des Abends frisch zu bleiben — für das Ereignis des Jahres, wie man ihr zu verstehen gab — persönliche Anwesenheit beim Geburtstagsdinner des Kaisers in der Kaiserlichen Residenz. Sie freute sich, Kareen und Gregor wiederzusehen, wenn auch nur kurz. Zumindest war sie sicher, daß ihre Kleidung in Ordnung war. Lady Vorpatril, die über einen ausgezeichneten Geschmack sowie Erfahrung mit Umstandskleidung im barrayaranischen Stil verfügte, hatte Mitleid mit Cordelia in deren kultureller Verwirrung gehabt und sich als fachkundige einheimische Beraterin angeboten.

Als Ergebnis trug Cordelia ein tadellos geschnittenes waldgrünes Seidenkleid, das mit einem Übergewand aus dickem, elfenbeinfarbenem Samt von der Schulter bis zum Boden wirbelte. Echte Blumen in passenden Farben waren von einer echten menschlichen Friseuse die auch Alys zu ihr geschickt hatte, in ihrem kupferfarbenen Haar arrangiert. Wie bei ihren öffentlichen Veranstaltungen machten die Barrayaraner aus ihrer Kleidung eine Art Volkskunst, die so kompliziert war wie eine betanische Körperbemalung. Über Arals Meinung war sich Cordelia nicht sicher — sein Gesicht hellte sich immer auf, wenn er sie sah —, aber nach den entzückten ›Oohs‹ von Graf Piotrs weiblichem Personal zu urteilen, hatte Cordelias Schneiderteam sich selbst übertroffen.

Als sie in der vorderen Halle am Fuß der Wendeltreppe wartete, glättete sie verstohlen den Streifen grüner Seide über ihrem Unterleib. Etwas mehr als drei Monate erhöhter Stoffwechselaktivität, und alles, was sie vorweisen konnte, war diese Schwellung von der Größe einer Grapefruit — seit der Sommermitte hatte sich so viel ereignet, daß es ihr schien, ihre Schwangerschaft müßte schneller vorankommen, um mit allem Schritt zu halten. Sie summte ein mentales Mantra in Richtung auf ihren Unterleib:

Wachse, wachse, wachse … Wenigstens begann sie jetzt schon tatsächlich schwanger auszusehen, anstatt sich nur erschöpft zu fühlen. Aral teilte ihre nächtliche Faszination über ihren Fortschritt, indem er sanft mit gespreizten Fingern nach zarten Bewegungen unter ihrer Haut fühlte — bis jetzt noch ohne Erfolg.

Jetzt erschien Aral mit Leutnant Koudelka. Sie hatten sich beide gründlich gebadet, rasiert, die Haare geschnitten und gekämmt, und jetzt funkelten sie in ihren formellen, rot-blauen kaiserlichen Paradeuniformen. Graf Piotr schloß sich ihnen an, er trug die Uniform, in der Cordelia ihn bei den Sitzungen der Vereinigten Räte gesehen hatte: braun und silbern, eine prächtigere Version der Livree seiner Garde. Piotrs zwanzig Gefolgsmänner hatten an diesem Abend alle eine Art offizieller Funktion und waren schon die ganze Woche über von ihrem hektischen Kommandanten zu peinlich genauen Vorbereitungen angetrieben worden. Droushnakovi, die Cordelia begleitete, trug ein einfacheres Kleid in Cordelias Farben, dessen sorgfältiger Schnitt rasche Bewegungen erleichterte und Waffen sowie Kom-Links verbarg.

Nachdem jeder jeden gebührend bewundert hatte, begaben sie sich durch die Vordertüren zu den wartenden Bodenwagen. Aral half Cordelia persönlich in ihr Fahrzeug, dann trat er zurück: »Ich treffe dich dann dort, Liebste.«

»Was?« Ihr Kopf fuhr herum. »Oh. Der zweite Wagen … ist dann nicht nur wegen der Größe der Gruppe dabei?«

Arals Mund verzog sich leicht: »Nein. Es scheint mir … klüger, daß wir von jetzt an in getrennten Fahrzeugen fahren.«

»Ja«, sagte sie schwach, »wirklich klüger.«

Er nickte und wendete sich dann ab. Zum Teufel mit diesem Land! Wieder wurde ein Stück aus ihrem Leben, aus ihrem Herzen genommen. Sie hatten nur noch so wenig Zeit miteinander, daß selbst ein kleiner Verlust schmerzte.

Graf Piotr sollte offensichtlich Aral vertreten, zumindest heute abend, er rutschte auf den Sitz neben ihr. Droushnakovi setzte sich ihnen gegenüber, und das Verdeck wurde geschlossen. Der Wagen bog ruhig in die Straße ein. Cordelia blickte über ihre Schulter und versuchte nach Arals Wagen zu schauen, aber er folgte zu weit hinten, als daß sie ihn hätte sehen können. Sie richtete sich auf und seufzte.

Die Sonne sank gelb in eine graue Wolkenbank, Lichter erglühten in dem kühlen, dunstigen Herbstabend und gaben der Stadt eine düstere, melancholische Atmosphäre. Vielleicht war ein lärmendes Straßenfest — sie fuhren an einigen vorbei — keine so schlechte Idee. Die Feiernden erinnerten Cordelia an primitive Menschen von der Erde, die auf Töpfen trommelten und Schüsse abfeuerten, um den Drachen zu verjagen, der den sich verfinsternden Mond verschlingen wollte. Diese seltsame, herbstliche Traurigkeit konnte eine unvorsichtige Seele verzehren. Gregors Geburtstag kam zur rechten Zeit.

Piotrs knorrige Hände fingerten an einem braunen Seidensäckchen herum, auf das in Silber das Wappen der Vorkosigans gestickt war.

Cordelia betrachtete es interessiert. »Was ist das?«

Piotr lächelte leicht und gab es ihr. »Goldmünzen.«

Noch mehr Volkskunst, das Säckchen und sein Inhalt waren ein Vergnügen für den Tastsinn. Sie streichelte über die Seide, bewunderte die Stickerei und schüttelte ein paar der glänzenden Scheibchen heraus, auf ihre Hand. »Hübsch.« Cordelia erinnerte sich gelesen zu haben, daß vor dem Ende der Zeit der Isolation Gold auf Barrayar einen großen Wert besessen hatte. Gold war für ihr betanisches Denken etwa Metall, das manchmal für die elektronische Industrie nützlich ist, aber alte Völker hatten damit etwas Mystisches verbunden. »Bedeutet das irgend etwas?«

»Aber ja! Das ist das Geburtstagsgeschenk für den Kaiser.«

Cordelia stellte sich den fünfjährigen Gregor vor, wie er mit einem Säckchen voll Gold spielte. Was konnte der Junge denn damit anfangen, außer Türmchen zu bauen und vielleicht das Zählen zu üben? Sie hoffte, daß er schon aus dem Alter heraus war, wo Kinder alles in den Mund stecken, denn diese Scheibchen hatten genau die richtige Größe, daß ein Kind sie verschlucken oder daran ersticken konnte. »Ich bin sicher, er wird sich freuen«, sagte sie mit leisem Zweifel.

Piotr kicherte. »Du weißt, was damit los ist, nicht wahr?«

Cordelia seufzte: »Das weiß ich fast nie. Gib mir einen Tip.« Sie lehnte sich zurück und lächelte. Piotr hatte sich nach und nach dafür begeistert, ihr Barrayar zu erklären, er schien sich immer zu freuen, wenn er einen neuen weißen Fleck der Unwissenheit bei ihr entdeckte, den er mit Informationen und Meinungen füllen konnte. Sie hatte das Gefühl, er könnte ihr die ganzen nächsten zwanzig Jahre lang Vorträge halten, ohne Mangel an verblüffenden Themen zu haben.

»Des Kaisers Geburtstag ist das traditionelle Ende des Rechnungsjahres, für den Distrikt eines jeden Grafen in Beziehung zur kaiserlichen Regierung. Mit anderen Worten, es ist der Tag, an dem die Steuern fällig werden, außer — daß die Vor nicht besteuert werden. Das würde eine zu untergeordnete Beziehung zum Imperium bedeuten. Statt dessen geben wir dem Kaiser ein Geschenk.«

»Aha …«, sagte Cordelia. »Sie verwalten doch diese Gegend nicht für ein Jahr um sechzig kleiner Säcke voll Gold willen, Sir.«

»Natürlich nicht. Die wirklichen Summen sind heute schon vorher von Hassadar nach Vorbar Sultana über Kom-Link transferiert worden. Das Gold ist nur symbolisch.«

Cordelia runzelte die Stirn: »Einen Augenblick. Habt ihr das nicht schon einmal in diesem Jahr getan?«

»Im Frühling für Ezar, ja. So haben wir nur das Datum für unser Rechnungsjahr geändert.«

»Bringt das nicht euer Banksystem durcheinander?«

Er zuckte die Achseln: »Wir kommen zurecht.« Plötzlich grinste er: »Was glaubst du, woher überhaupt das Wort ›Graf‹ kommt?«

»Von der Erde, dachte ich. Ein Wort aus der Voratomzeit — tatsächlich spätrömisch — für einen Adeligen, der eine Grafschaft leitete. Oder vielleicht war der Distrikt nach dem Rang benannt.«

»Auf Barrayar ist Count, also ›Graf‹, eine Abkürzung von ›Accountant‹, d. h. Buchhalter. Die ersten ›Counts‹ waren Varadar Taus Steuereintreiber. Übrigens ein erstaunlicher Bandit, dieser Varadar Tau, du solltest einmal etwas über ihn nachlesen.«

»Und die ganze Zeit dachte ich, Graf wäre ein militärischer Rang, der mittelalterliche Geschichte nachahmt!«

»Oh, der militärische Teil kam gleich darauf, als die alten Schläger zum erstenmal versuchten, einen fertigzumachen, der keinen Tribut zahlen wollte. Später bekam dann der Rang mehr Glanz.«

»Das habe ich nicht gewußt.« Sie schaute ihn mit einem plötzlichen Verdacht an: »Du nimmst mich doch nicht auf den Arm, Sir, oder?«

Er breitete seine Hände in einer abwehrenden Geste aus.

Überprüfe deine Vermutungen, dachte Cordelia amüsiert bei sich, wirklich, überprüfe deine Vermutungen schon an der Tür.

Sie kamen am großen Tor der Kaiserlichen Residenz an. Die Atmosphäre war an diesem Abend ganz anders als bei einigen von Cordelias früheren Besuchen bei dem sterbenden Ezar und den anschließenden Trauerzeremonien.

Bunte Lichter hoben architektonische Details an den steinernen Fassaden hervor. Die Gärten leuchteten, Fontänen glitzerten.

Schön gekleidete Menschen belebten die Szenerie, sie strömten aus den Staatsräumen des Nordflügels auf die Terrassen. Aber die Überprüfungen durch die Wachen waren nicht weniger gründlich, und die Anzahl der Wachen hatte sich beträchtlich vervielfacht. Cordelia hatte das Gefühl, dies würde ein wesentlich weniger ausgelassenes Fest als manche, an denen sie in den Straßen der Stadt vorbeigekommen waren.

Arals Wagen hielt hinter ihrem, als sie bei einem westlichen Säulengang ausstiegen, und Cordelia hängte sich wieder dankbar an seinem Arm ein.

Er lächelte sie stolz an, und als sie einen Augenblick relativ unbeobachtet waren, küßte er sie verstohlen auf ihren Nacken und genoß den Duft der Blumen in ihrem Haar. Sie erwiderte seine Zärtlichkeit, indem sie heimlich seine Hand drückte. Sie schritten durch die Türen und einen Korridor. Ein Haushofmeister in der Livree des Hauses Vorbarra kündigte sie laut und vernehmlich an, und dann fanden sie die Blicke von — so schien es Cordelia einen Moment lang — einigen tausend kritischen Augenpaaren der barrayaranischen Vor-Klasse auf sich gerichtet. In Wirklichkeit waren nur ein paar hundert Leute in dem Raum. Besser als die Mündung eines auf volle Kraft eingestellten Nervendisruptors zu schauen, allemal. Wirklich.

Sie gingen herum, tauschten Grüße aus, erwiesen Reverenzen. Warum können diese Leute keine Namensschilder tragen? dachte Cordelia hilflos.

Wie üblich schien jeder außer ihr jeden anderen zu kennen. Sie stellte sich vor, eine Gespräch so zu eröffnen: Hallo Sie, VorTyp … Sie packte Aral fester und versuchte, eher geheimnisvoll und exotisch auszusehen als sprachlos und verloren.

Die kleine Zeremonie mit den Säckchen voller Münzen fand in einem anderen Saal statt, die Grafen oder ihre Repräsentanten standen Schlange, um sich jeder mit ein paar formellen Worten ihrer Verpflichtung zu entledigen.

Kaiser Gregor, dessen Zeit ins Bett zu gehen nach Cordelias Vermutung schon längst gekommen war, saß mit seiner Mutter auf einer erhöhten Bank, er wirkte klein und wie in einer Falle gefangen und versuchte mannhaft, sein Gähnen zu unterdrükken. Cordelia kam der Gedanke, ob er die Säcke mit den Münzen tatsächlich behalten mußte oder ob sie einfach wieder in Umlauf gebracht und nächstes Jahr wieder präsentiert wurden.

Tolle Geburtstagsfeier: Kein einziges anderes Kind war zu sehen. Aber die Abfertigung der Grafen ging ziemlich flott vor sich, vielleicht konnte das Kind dem Ganzen bald entfliehen.

Ein Vasall in rot-blauer Uniform kniete vor Gregor und Kareen nieder und überreichte sein Säckchen aus kastanienbrauner und goldener Seide.

Cordelia erkannte Graf Vidal Vordarian, den tellergesichtigen Mann, von dem Aral höflich gesagt hatte, er gehöre der ›zweitkonservativsten Partei‹ an, d. h. er habe in etwa die gleichen politischen Anschauungen wie Graf Piotr. Arals Ton hatte dabei aber geklungen, als sei dies eine Code-Formel für ›isolationistischer Fanatiker‹. Der Mann sah nicht wie ein Fanatiker aus. Frei von entstellendem Ärger war sein Gesicht viel anziehender, er wandte es jetzt Prinzessin Kareen zu und sagte etwas, das sie veranlaßte, ihr Kinn zu heben und zu lachen. Seine Hand ruhte für einen Moment auf ihrem vom Kleid verdeckten Knie, und ihre Hand bedeckte kurz die seine, bevor er sich wieder etwas mühsam erhob, sich verneigte und Platz für den nächsten Mann machte. Kareens Lächeln erlosch, als Vordarian ihr den Rücken kehrte.

Gregors bekümmerter Blick traf auf Aral, Cordelia und Droushnakovi, er sprach ernst zu seiner Mutter. Kareen winkte eine Wache herbei, und ein paar Minuten später näherte sich ein Wachkommandant Aral und Cordelia und bat um die Erlaubnis, Drou wegholen zu dürfen. Sie wurde durch einen unauffälligen jungen Mann ersetzt, der ihnen außerhalb Hörweite folgte und nur undeutlich in den Augenwinkeln sichtbar wurde, ein hübscher Trick für einen Kerl dieser Größe.

Glücklicherweise trafen Cordelia und Aral bald auf Lord und Lady Vorpatril, mit denen sich Cordelia ohne politisch-soziale Vorbehalte zu sprechen traute. Lord Vorpatrils rot-blaue Paradeuniform machte die gute Erscheinung des dunkelhaarigen Obersten vollkommen. Lady Vorpatril übertraf ihn noch in einem karneolfarbenen Kleid mit dazu passenden Rosen in der Wolke ihres schwarzen Haares, das die samtige Weiße ihrer Haut betörend hervorhob. Die beiden bildeten, so dachte Cordelia, ein archetypisches Vor-Paar, kultiviert und von heiterer Gelassenheit. Der Eindruck wurde nur leicht getrübt dadurch, daß Cordelia allmählich aus der etwas zusammenhanglosen Konversation Oberst Vorpatrils erkannte, daß dieser betrunken war. Er war allerdings ein fröhlicher Betrunkener, seine Persönlichkeit wurde nur etwas erweitert, nicht unangenehm verändert.

Vorkosigan, der von einigen Männern weggezogen wurde, die sich ihm mit entschlossenem Blick genähert hatten, übergab Cordelia der Obhut von Lady Vorpatril. Die beiden Frauen steuerten auf die eleganten Hors d’oeuvre-Tabletts zu, die von noch mehr menschlichen Dienern dargereicht wurden, und tauschten Schwangerschaftsklatsch aus. Lord Vorpatril entschuldigte sich hastig und folgte einem Tablett, auf dem Wein angeboten wurde. Alys entwarf die Farben und den Schnitt für Cordelias nächstes Kleid. »Schwarz und weiß, für dich, für das Winterfest«, entschied sie mit Autorität. Cordelia nickte sanft und fragte sich, ob sie sich wirklich bald zu einem Festmahl niedersetzen würde oder ob man von ihnen erwartete, daß sie weiterhin die vorbeigetragenen Tabletts leerten.

Alys führte sie auf die Damentoilette, einem Gegenstand ihres stündlichen Interesses aufgrund ihrer schwangerschaftsbelasteten Blasen, und stellte sie auf dem Rückweg einigen weiteren Damen ihres verfeinerten gesellschaftlichen Kreises vor. Alys geriet dann in eine lebhafte Diskussion mit einer alten Freundin bezüglich einer bevorstehenden Party für die Tochter dieser Frau, und Cordelia wanderte an den Rand der Gruppe.

Sie trat still zurück und trennte sich von ihnen (sie versuchte, nicht zu denken: von der Herde) für einen Moment ruhiger Betrachtung. Was für eine seltsame Mischung Barrayar war, im einen Augenblick heimelig und vertraut, im nächsten erschrekkend und fremdartig … aber sie zogen eine tolle Show ab … ah! Das war es, was an der Szene fehlte, erkannte Cordelia: Auf Kolonie Beta würde man eine Zeremonie dieser Größe komplett über Holovid übertragen, damit man planetenweit live daran teilnehmen konnte. Jede Bewegung würde zu einem sorgfältig choreographierten Tanz um die Vid-Ecken und das Timing der Kommentatoren gehören, und zwar so sehr, daß das Ereignis, das aufgezeichnet wurde, dadurch fast zunichte gemacht würde. Hier war kein Holovid in Sicht. Die einzigen Aufnahmen wurden von der Sicherheitsabteilung gemacht, und zwar für deren eigene Zwecke, zu denen Choreographie nicht gehörte. Die Menschen in diesem Raum tanzten nur füreinander, die ganze prunkvolle Darbietung wurde vergnügt der Zeit überantwortet, die sie für immer mit sich nahm: schon morgen würde das Ereignis nur noch in ihren Gedächtnissen existieren.

»Lady Vorkosigan?«

Cordelia wurde von einer höflichen Stimme aus ihrem Nachsinnen gerissen. Sie wandte sich um und sah Kommodore Graf Vordarian. Daß er die rot-blaue Uniform trug statt der persönlichen Livree in den Farben seines Hauses, zeigte an, daß er im aktiven Dienst stand, zweifellos schmückte er das Kaiserliche Hauptquartier — in welcher Abteilung? Ach ja, Einsatzplanung, hatte Aral gesagt. Er hatte ein Glas in der Hand und lächelte freundlich.

»Graf Vordarian«, erwiderte sie und lächelte ebenfalls. Sie hatten sich oft genug im Vorübergehen gesehen, so daß Cordelia beschloß, sie als einander vorgestellt zu betrachten. Diese Geschichte mit der Regentschaft würde nicht vorbeigehen, wie sehr sie sich das auch wünschte, es war Zeit, und zwar schon längst, daß sie ihre eigenen Beziehungen knüpfte und aufhörte, Aral bei jedem neuen Schritt mit der Bitte um Rat zu behelligen.

»Gefällt es Ihnen hier?«, fragte er.

»O ja.« Sie versuchte, noch ein paar weitere Worte zu finden. »Es ist außerordentlich schön.«

»Wie Sie, Mylady.« Er hob sein Glas in ihre Richtung mit der Geste eines Toasts und nippte dann daran.

Ihr Herz krampfte sich zusammen, aber sie erkannte den Grund dafür, bevor ihre Augen mehr taten als sich nur leicht zu weiten: Der letzte barrayaranische Offizier, der ihr zugetoastet hatte, war der verstorbene Admiral Vorrutyer gewesen, in einer ganz anderen gesellschaftlichen Situation. Vordarian hatte zufällig genau diese Geste nachgeahmt. Aber jetzt war keine Zeit für Erinnerungen an die damalige Tortur. Cordelia blinzelte. »Lady Vorpatril hat mir viel geholfen. Sie ist sehr großzügig.«

Vordarian nickte taktvoll in Richtung ihres Rumpfes. »Ich habe gehört, daß man auch Ihnen gratulieren darf. Wird es ein Junge oder ein Mädchen?«

»Wie? Ach ja. Ja, ein Junge, danke. Er soll Piotr Miles heißen, sagte man mir.«

»Ich bin überrascht. Ich dachte, der Lordregent hätte zuerst gern eine Tochter gehabt.«

Cordelia reckte den Kopf, Vordarians ironischer Ton irritierte sie. »Wir haben das begonnen, bevor Aral Regent wurde.«

»Aber Sie wußten sicher, daß er die Ernennung bekommen würde.«

»Ich wußte es nicht. Aber ich dachte, ihr barrayaranischen Militaristen wäret alle verrückt auf Söhne. Warum dachten Sie an eine Tochter?« Ich möchte ja eine Tochter …

»Ich nahm an, Lord Vorkosigan würde bezüglich seiner langandauernden … hm … Tätigkeit natürlich vorausdenken. Was für eine bessere Methode gäbe es denn, die Fortdauer seiner Macht nach dem Ende der Regentschaft zu sichern, als hübsch in die Position des Schwiegervaters des Kaisers zu schlüpfen?«

Cordelia stutzte. »Denken Sie, er würde bei der Kontinuität einer planetarischen Regierung auf den Zufall setzen, daß zwei Teenager in eineinhalb Jahrzehnten sich ineinander verlieben könnten?«

»Verlieben?« Jetzt schaute er verblüfft drein.

»Ihr Barrayaraner seid ja …«, sie biß sich auf die Lippe, bevor sie sagen konnte: verrückt. Das wäre unhöflich gewesen. »Aral ist sicher … praktischer.« Obwohl sie ihn wohl kaum unromantisch nennen konnte.

»Das ist außerordentlich interessant«, stieß er hervor. Sein Blick fiel immer wieder auf ihren Unterleib. »Glauben Sie, er erwägt etwas Direkteres?«

Ihr Denken lief irgendwie nur am Rande des sich im Kreis drehenden Gesprächs nebenher. »Wie bitte?«

Er lächelte und zuckte die Achseln.

Cordelia runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, wenn wir ein Mädchen hätten, dann würden alle so denken?«

»Sicherlich.«

Sie atmete hörbar aus. »O Gott. Das ist ja … Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand, der seinen Verstand beisammen hat, es sich wünschen kann, in die Nähe der Herrschaft über Barrayar zu kommen. Dadurch macht man sich doch nur zur Zielscheibe für jeden Verrückten, der irgendeinen Groll hegt, soweit ich sehen kann.« Das Bild von Leutnant Koudelka, mit blutigem Gesicht und betäubt, kam ihr in den Sinn. »Es wäre auch schlimm für den armen Kerl, der Pech genug hat, neben einem zu stehen.«

Seine Aufmerksamkeit nahm zu. »Ach ja, der unglückliche Vorfall neulich. Wissen Sie vielleicht, ob bei den Untersuchungen schon irgend etwas herausgekommen ist?«

»Nichts, von dem ich gehört hätte. Negri und Illyan reden meistens über Cetagandaner. Aber der Kerl, der die Granate abgeschossen hat, ist unbehelligt davongekommen.«

»Zu schlimm.« Er leerte sein Glas und tauschte es dann gegen ein frisch gefülltes aus, das ihm sofort von einem vorübergehenden Diener in der Livree des Hauses Vorbarra gereicht wurde. Cordelia blickte sehnsüchtig auf die Weingläser. Aber für die Zeit der Schwangerschaft enthielt sie sich der Stoffwechselgifte. Das war noch ein anderer Vorteil der Schwangerschaft in Uterusreplikatoren auf betanische Art: kein Zwang zu diesem verdammten enthaltsamen Leben. Zu Hause hätte sie sich nach Belieben vergiften und gefährden können, während ihr Kind heranwuchs, rund um die Uhr von nüchternen Fortpflanzungstechnikern voll überwacht, sicher und geschützt in den Replikatorenbanken. Wenn sie sich nur vorstellte, sie wäre mit der Schallgranate beschossen worden …

Sie hatte Verlangen nach einem Drink.

Nun ja, sie brauchte nicht die den Verstand betäubende Euphorie des Äthanols, Konversation mit Barrayaranern betäubte den Verstand zur Genüge. Ihre Augen suchten Aral in der Menge — da war er, mit Kou neben sich, im Gespräch mit Piotr und zwei anderen grauhaarigen alten Männern in Grafenlivree. Wie Aral vorhergesagt hatte, war sein Gehör innerhalb weniger Tage wieder normal geworden. Aber immer noch wanderten seine Blicke von Gesicht zu Gesicht, nahmen Hinweise aus Gesten und Nuancen auf, sein Glas, von dem er noch nicht getrunken hatte, war nur Dekoration in seiner Hand. Er war im Dienst, ohne Frage.

War er überhaupt noch einmal außer Dienst?

»War er sehr beunruhigt durch diesen Angriff?«, fragte Vordarian, der ihrem Blick zu Aral gefolgt war.

»Wären Sie nicht beunruhigt?«, sagte Cordelia. »Ich weiß es nicht … Er hat so viel Gewalt in seinem Leben gesehen, fast mehr als ich mir vorstellen kann. Vielleicht ist es für ihn fast so etwas wie … weißes Rauschen. Einfach ausgeblendet.« Ich wünsche, ich könnte es ausblenden.

»Sie kennen ihn allerdings noch nicht so lang. Erst seit Escobar.«

»Wir haben uns einmal vor dem Krieg getroffen. Kurz.«

»Oh?« Seine Augenbrauen hoben sich. »Das wußte ich nicht. Wie wenig man doch wirklich von den Leuten weiß.« Er machte eine Pause, beobachtete Aral, beobachtete sie, wie sie Aral beobachtete. Einer seiner Mundwinkel krümmte sich nach oben, dann verschwand das Zucken, als er nachdenklich seine Lippen schürzte. »Er ist bisexuell, wissen Sie.« Er trank einen kleinen Schluck von seinem Wein.

»War bisexuell«, korrigierte sie gedankenverloren, während sie zärtlich durch den Saal blickte. »Jetzt ist er monogam.«

Vordarian verschluckte sich und prustete. Cordelia beobachtete ihn besorgt und überlegte, ob sie ihn auf den Rücken klopfen sollte oder so, aber er kam wieder zu Atem und faßte sich. »Er hat Ihnen das gesagt?«, schnaufte er verwundert.

»Nein, Vorrutyer sagte es mir. Kurz bevor ihm sein … ähm … tödlicher Unfall widerfuhr.« Vordarian stand wie zu Eis erstarrt da: es bereitete ihr ein gewisses boshaftes Vergnügen, endlich einen Barrayaraner so sehr verblüfft zu haben, wie die Barrayaraner manchmal sie verblüfften. Nun, wenn sie nur herausbringen könnte, welcher Teil ihrer Aussage ihn aus der Fassung gebracht hatte … Sie fuhr ernsthaft fort: »Je mehr ich auf Vorrutyer zurückschaue, desto mehr erscheint er mir als tragische Figur. Immer noch besessen von einer Liebesaffäre, die schon seit achtzehn Jahren vorbei war. Aber ich frage mich manchmal, ob er das, was er damals wollte, hätte haben können — Aral behalten —, wenn Aral die sadistische Veranlagung, die am Ende Vorrutyers geistige Gesundheit zerstörte, hätte unter Kontrolle halten können. Es ist, als hätten die beiden sich auf einer unheimlichen Schaukel befunden, wo das Überleben des einen immer die Zerstörung des anderen zur Folge hatte.«

»Eine Betanerin.« Sein Gesichtsausdruck der Verblüffung wich allmählich einem anderen, den Cordelia im stillen ›furchtbare Erkenntnis‹ nannte.

»Ich hätte darauf kommen sollen. Ihr seid immerhin, die Leute, die mit Biotechnik Hermaphroditen hervorgebracht haben …« Er machte eine Pause. »Wie lange kannten Sie Vorrutyer?«

»Ungefähr zwanzig Minuten. Aber das waren sehr intensive zwanzig Minuten.« Sie beschloß, ihn raten zu lassen, was, zum Teufel, das bedeutete.

»Ihre … hm … Affäre, wie Sie es nennen, war seinerzeit ein großer geheimer Skandal.«

Sie rümpfte die Nase. »Großer geheimer Skandal? Ist das nicht ein Oxymoron? Wie ›militärische Intelligenz‹ oder ›freundliches Feuer‹. Also ein typischer Barrayarismus, wenn ich es mir recht überlege.«

Vordarians Gesicht zeigte den seltsamsten Ausdruck. Er sah aus, fand sie, genau wie ein Mann, der eine Bombe geworfen hatte, die nur ›fffft‹ machte statt ›BUMM!‹, und der nun zu entscheiden versuchte, ob er seine Hand hineinstecken und auf den Zündmechanismus klopfen sollte, um ihn zu testen.

Dann war sie an der Reihe mit der furchtbaren Erkenntnis. Dieser Mann hat gerade versucht, meine Ehe zu zerstören. Nein — Aral’s Ehe. Sie setzte ein strahlendes, sonniges, unschuldiges Lächeln auf und ihr Gehirn schaltete — endlich! — in den Schnellgang. Vordarian konnte keiner von Vorrutyers alter Kriegspartei sein, ihre Führer hatten alle ihre tödlichen Unfälle erlitten, bevor Ezar sich verabschiedet hatte, und der Rest war zerstreut und hielt sich versteckt. Was wollte er eigentlich? Sie fingerte an einer Blume in ihrem Haar herum und sagte einfältig lächelnd: »Ich hatte mir nicht vorgestellt, daß ich einen vierundvierzigjährigen unberührten Jüngling heiraten würde, Graf Vordarian.«

»Es scheint so.« Er kippte einen weiteren Schluck Wein hinunter. »Ihr Galaktiker seid alle degeneriert … Welche Perversionen toleriert er seinerseits, frage ich mich.« In seinen Augen funkelte plötzlich offene Bosheit. »Wissen Sie, wie Lord Vorkosigans erste Frau starb?«

»Selbstmord. Plasmabogen in den Kopf«, erwiderte sie prompt.

»Es gab das Gerücht, daß er sie ermordet hat. Wegen Ehebruchs. Betanerin, seien Sie auf der Hut.« Sein Lächeln war jetzt ganz bissig geworden.

»Ja, das wußte ich auch. In diesem Fall ein unwahres Gerücht.« Jeder Schein von Freundlichkeit war jetzt von ihrem Gespräch gewichen.

Cordelia hatte das schlimme Gefühl, daß auch alle ihre Beherrschung von ihr wich. Sie lehnte sich vor und dämpfte ihre Stimme. »Wissen Sie, warum Vorrutyer starb?«

Er konnte nicht widerstehen, er neigte sich ihr wißbegierig zu. »Nein …«

»Er versuchte, Aral durch mich zu verwunden. Ich empfand das … ärgerlich. Ich wünsche mir, Sie würden aufhören mit Ihren Versuchen, mich zu ärgern, Graf Vordarian, ich fürchte, Sie könnten nämlich Erfolg haben.« Ihre Stimme wurde noch leiser, fast ein Flüstern: »Sie sollten das auch fürchten.«

Sein anfänglicher herablassender Ton war der Vorsicht gewichen. Er machte eine sanfte, großzügige Geste, die eine Verbeugung des Abschieds zu symbolisieren schien und zog sich zurück. »Mylady.« Während er wegging, schaute er noch einmal über seine Schulter zurück, mit einem zutiefst erschrockenen Blick.

Stirnrunzelnd blickte sie ihm nach. Puh! Was für ein seltsamer Wortwechsel. Was hatte der Mann sich davon erwartet, daß er sie mit diesem uralten Kram behelligte, als handelte es sich darum um eine schockierende Überraschung? Stellte sich Vordarian wirklich vor, sie würde in die Luft gehen und ihren Ehemann zur Rede stellen, was für einen schlechten Geschmack bei der Auswahl seiner Gefährten er vor zwanzig Jahren gehabt hatte? Hätte eine naive junge barrayaranische Braut wohl einen hysterischen Anfall bekommen? Nicht Lady Vorpa-tril, deren gesellschaftliche Schwärmerei nur eine scharfe Urteilskraft kaschierte, und nicht Prinzessin Kareen, deren Naivität sicher schon vor langer Zeit von dem erfahrenen Sadisten Serg zunichte gemacht worden war. Er hat geschossen, aber er traf daneben.

Und, kühler: Hat er schon einmal zuvor geschossen und danebengetroffen? Das war keine normal gesellschaftliche Begegnung gewesen, nicht einmal nach den barrayaranischen Maßstäben der Kunst, dem andern immer um eine Nasenlänge voraus zu sein. Oder vielleicht war er einfach betrunken. Sie hatte plötzlich den Wunsch, mit Illyan zu sprechen. Sie schloß die Augen und versuchte, Klarheit in ihren verwirrten Kopf zu bringen.

»Fühlst du dich wohl, Liebste?«, murmelte Arals besorgte Stimme in ihr Ohr. »Brauchst du dein Mittel gegen Übelkeit?«

Sie riß die Augen auf. Da war er, gesund und sicher, neben ihr.

»Oh, mir geht es gut.« Sie hängte sich an seinen Arm ein, ganz leicht, nicht mit panischer Anklammerung. »Ich dachte nur über etwas nach.«

»Wir sollten uns nun an die Tafel setzen.«

»Gut. Es wird mir guttun zu sitzen, meine Füße schwellen an.«

Er schaute sie an, als wollte er sie hochheben und zum Tisch tragen, aber sie schritten ganz normal zu ihren Plätzen und schlossen sich den anderen Paaren an. Sie saßen an einem erhöhten Tisch etwas entfernt von den anderen, mit Gregor, Kareen, Piotr, dem Lordwächter des Sprecherkreises und seiner Frau, und Premierminister Vortala, auf Gregors ausdrücklichen Wunsch hin saß auch Droushnakovi bei ihnen, der Knabe schien hocherfreut zu sein, daß er seine frühere Leibwächterin wieder bei sich hatte.

Habe ich dir deine Spielkameradin genommen, Kind? fragte sich Cordelia reumütig. Es sah so aus. Gregor verhandelte mit Kareen darüber, daß Drou allwöchentlich wiederkommen sollte, ›für Judo-Stunden‹. Drou, die an die Atmosphäre der Residenz gewöhnt war, war nicht so eingeschüchtert wie Koudelka, der ganz steif war vor übertriebener Sorge, er könnte sich durch seine eigene Unbeholfenheit verraten.

Cordelia saß zwischen Vortala und dem Sprecher und führte mit ihnen ein ungezwungenes Gespräch, Vortala war charmant, in seiner etwas ungeschliffenen Art. Cordelia brachte es fertig, von jeder der elegant servierten Speisen einen Happen zu essen, außer einem Stück vom Rumpf eines gebratenen Rindes, das im Ganzen hereingetragen wurde.

Gewöhnlich konnte Cordelia vergessen, daß auf Barrayar das Protein nicht in Bottichen wuchs, sondern von den Körpern wirklicher toter Tiere stammte. Sie hatte immerhin über die hiesigen primitiven kulinarischen Praktiken Bescheid gewußt, bevor sie sich entschieden hatte, hierher zu kommen, und sie hatte von Tiermuskeln schon früher gekostet, auf Erkundungsmissionen, im Interesse der Wissenschaft, des Überlebens oder der Entwicklung potentieller neuer Produkte für den Heimatplaneten.

Die Barrayaraner klatschten Beifall für das mit Früchten und Blumen garnierte Tier: sie schienen es wirklich reizvoll zu finden und nicht schrecklich, und der Koch, der besorgt hinterhergekommen war, verbeugte sich. Die primitiven Geruchszentren ihres Gehirns mußten beistimmen: es roch großartig. Vorkosigan nahm eine Portion, die nicht durchgebraten, sondern noch blutig war. Cordelia nippte an ihrem Wasser.

Nach dem Dessert und einigen kurzen offiziellen Trinksprüchen, die Vortala und Vorkosigan ausbrachten, wurde Gregor endlich von seiner Mutter zu Bett gebracht.

Kareen gab Cordelia und Droushnakovi ein Zeichen, ihr zu folgen. Die Spannung in Cordelias Schultern ließ nach, als sie die große öffentliche Versammlung verließen und zu den ruhigen Privaträumen des Kaisers hinaufstiegen.

Gregor wurde aus seiner kleinen Uniform geschält und in einen Pyjama gesteckt, und so wurde aus dem Symbol wieder ein Junge. Drou beaufsichtigte sein Zähneputzen und wurde dann verführt zu ›nur einer einzigen Runde‹ eines Spiels, das sie mit einem Brett und Spielfiguren als Betthupferl zu spielen pflegten. Kareen erlaubte dies nachsichtig, und nach einem Kuß von Mutter und Sohn zog sie sich mit Cordelia in ein gedämpft beleuchtetes Wohnzimmer nebenan zurück. Die beiden Frauen setzten sich mit einem Seufzer der Erleichterung nieder und entspannten sich. Kareen entledigte sich ihrer Schuhe, und Cordelia folgte sofort ihrem Beispiel. Durch die Fenster kamen die durch die Entfernung gedämpften Laute von Stimmen und Gelächter aus den Gärten unten.

»Wie lange wird dieses Fest noch dauern?«, fragte Cordelia.

»Bis zum Morgengrauen, für die Leute mit mehr Ausdauer als ich. Ich werde mich um Mitternacht zurückziehen, danach bestimmen die ernsthaften Trinker die Szene.«

»Einige von ihnen schienen schon jetzt ziemlich ernsthaft.«

»Unglücklicherweise.« Kareen lächelte. »Sie werden die VorKIasse sowohl von ihrer besten wie von ihrer schlechtesten Seite erleben, bevor die Nacht vorüber ist.«

»Ich kann es mir vorstellen. Ich bin überrascht, daß ihr keine weniger gefährlichen stimmungsverändernden Drogen importiert.«

Kareens Lächeln wurde herb. »Aber Raufereien im Suff haben Tradition.«

Sie nahm die Schärfe aus ihrer Stimme. »Tatsächlich kommen solche Dinge herein, zumindest in den Städten mit Shuttlehäfen. Wie üblich scheinen wir neue Gewohnheiten hinzuzunehmen, statt unsere alten zu ersetzen.«

»Vielleicht ist das die beste Methode.« Cordelia runzelte die Stirn. Wie konnte sie taktvoll sondieren …? »Ist Graf Vidal Vordarian einer von denen, die die Gewohnheit haben, sich in der Öffentlichkeit zu betrinken?«

»Nein.« Kareen blickte auf und kniff die Augen zusammen. »Warum fragen Sie danach?«

»Ich hatte eine eigenartige Unterhaltung mit ihm. Ich dachte, eine Überdosis von Äthanol könnte dafür die Ursache sein.« Sie erinnerte sich daran, wie Vordarians Hand leicht auf dem Knie der Prinzessin gelegen war, knapp vor einer intimen Liebkosung. »Kennen Sie ihn gut? Wie würden Sie ihn einschätzen?«

Kareen sagte wohlüberlegt: »Er ist reich … stolz … Er hielt loyal zu Ezar während Sergs letzten Machenschaften gegen seinen Vater. Loyal zum Imperium, zur Vor-Klasse. In Vordarians Distrikt gibt es vier bedeutende Industriestädte, dazu Militärbasen, Nachschubdepots, den größten militärischen Shuttlehafen … Vidals Distrikt ist heute sicherlich das wirtschaftlich bedeutendste Gebiet auf Barrayar. Der Krieg hat den Distrikt der Vordarians kaum berührt, er ist einer der wenigen, aus dem die Cetagandaner nach Verhandlungen abgezogen sind. Wir haben dort unsere ersten Raumbasen errichtet, weil wir Einrichtungen übernahmen, die die Cetagandaner gebaut und dann verlassen hatten, und daraus folgte ein größer Anteil der wirtschaftlichen Entwicklung.«

»Das ist … interessant«, sagte Cordelia, »aber ich wollte gern etwas über den Mann selbst wissen. Seine … hm … Vorlieben und Abneigungen, zum Beispiel. Mögen Sie ihn?«

»Früher einmal«, sagte Kareen langsam, »überlegte ich, ob Vidal mächtig genug wäre, um mich vor Serg zu beschützen. Nachdem Ezar gestorben wäre. Als Ezar kränker wurde, dachte ich, ich sollte mich besser nach meinem eigenen Schutz umschauen. Nichts schien zu geschehen, und niemand sagte mir irgend etwas.«

»Wenn Serg Kaiser geworden wäre, wie hätte denn ein bloßer Graf Sie schützen können?«, fragte Cordelia.

»Er hätte … mehr werden müssen. Vidal hatte Ehrgeiz, wenn der richtig ermutigt wurde — und Patriotismus. Gott weiß, wenn Serg überlebt hätte, so hätte er vielleicht Barrayar zerstört — Vidal hätte vielleicht uns alle gerettet. Aber Ezar versprach, ich hätte nichts zu fürchten, und Ezar rettete uns. Serg starb vor Ezar und … und ich habe seitdem versucht, die Beziehung zu Vidal abkühlen zu lassen.«

Cordelia rieb zerstreut ihre Unterlippe. »Oh. Aber Sie persönlich — ich meine, mögen Sie ihn? Wäre es eines Tages nicht schön, als Gräfin Vordarian sich von den Aufgaben der Prinzessin-Witwe zurückziehen zu können?«

»Oh! Nicht jetzt. Der Stiefvater des Kaisers wäre ein zu mächtiger Mann gegenüber dem Regenten. Eine gefährliche Polarität, wenn sie nicht verbündet oder genau im Gleichgewicht wären. Oder nicht in einer Person kombiniert wären.«

»Wie zum Beispiel es beim Schwiegervater des Kaisers wäre?«

»Ja, genau.«

»Ich habe Schwierigkeiten, diese … geschlechtliche Übertragung von Macht zu verstehen. Haben Sie einen Anspruch auf die Herrschaft aus eigenem Recht, oder nicht?«

»Nun, hier haben wir — psst«, er grinste ihr in der Dunkelheit zu und drückte warnend ihre Hand. Sie hielten beide an, vor ihnen der Eingang zu einem kleinen offenen Fleck, der von Eiben und irgendeiner rosafarbenen, federartigen nichtirdischen Pflanze gegen Blicke von oben abgeschirmt war. Die Musik drang klar hörbar bis hierher.

»Versuchen Sie es, Kou«, drängte Droushnakovis Stimme. Drou und Kou standen am anderen Ende des Terrassenwinkels einander gegenüber.

Zögernd setzte Koudelka seinen Stock an der Steinbalustrade ab und hielt seine Hände den ihren entgegen. Sie begannen zu schreiten, zu gleiten und sich zu verneigen, wobei Drou ernsthaft zählte: »Eins-zwei-drei, eins-zwei- drei …«

Koudelka stolperte, und sie fing ihn auf, er griff sie um die Taille. »Da wird nichts draus, Drou.« Er schüttelte frustriert den Kopf.

»Pst …« Ihre Hand berührte seine Lippen. »Versuchen Sie es noch einmal. Ich bin dafür. Was sagten Sie, wie lange mußten Sie diese Handkoordination üben, bevor Sie es konnten? Mehr als einmal, da wette ich.«

»Der Alte wollte mich nicht aufgeben lassen.«

»Nun, vielleicht lasse auch ich Sie nicht aufgeben.«

»Ich bin müde«, beschwerte sich Koudelka.

Also, dann geht doch zum Küssen über, dachte sich Cordelia im stillen und unterdrückte ein Lachen. Das kann man auch im Sitzen machen.

Droushnakovi jedoch war fest entschlossen, und sie fingen wieder an.

»Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei …« Wieder endeten die Bemühungen in etwas, das Cordelia als ein sehr guter Beginn einer Umarmung erschien, wenn nur einer von beiden seinen Kopf und seine Nerven beisammen gehabt hätte, um die Sache voranzutreiben.

Aral schüttelte den Kopf, und sie zogen sich schweigend hinter das Gebüsch zurück. Offensichtlich war er ein bißchen vom Gesehenen inspiriert, seine Lippen suchten die ihren, um sein eigenes Kichern zu ersticken.

Leider war ihr Taktgefühl umsonst: ein unbekannter Vor-Lord hastete blind an ihnen vorbei, stolperte durch den Winkel der Terrasse (Kou und Drou erstarrten mitten in der Bewegung) und beugte sich dann über die Steinbalustrade, um sich sehr traditionell in die darunter stehenden Büsche zu erbrechen. Plötzlich ertönten Flüche anderer Stimmen, einer männlichen und einer weiblichen, aus dem dunklen, abgeschirmten Zielgebiet. Koudelka nahm seinen Stock und die beiden Beinahe-Tänzer zogen sich hastig zurück. Der Vor-Lord mußte sich wieder übergeben, und sein männliches Opfer begann hochzuklettern, rutschte auf den besudelten Steinen aus und versprach gewalttätige Vergeltung. Vorkosigan führte Cordelia klugerweise vom Schauplatz hinweg.

Später, während sie an einem der Eingänge der Residenz auf die Bodenwagen warteten, stand Cordelia zufällig neben dem Leutnant.

Koudelka blickte nachdenklich über seine Schulter auf die Residenz zurück, von wo Musik und Festlärm fast unvermindert herüberklangen.

»Hat es Ihnen gefallen, Kou?«, fragte sie freundlich.

»Wie? O ja, erstaunlich. Als ich in den Armeedienst eintrat, hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich mal hierher kommen würde.« Er blinzelte. »Es gab eine Zeit, da dachte ich, ich würde nirgendwohin kommen.« Und dann fügte er etwas hinzu, das für Cordelia wie eine Art sanfter, mentaler Peitschenschlag war: »Ich wünschte mir, es gäbe Bedienungsanleitungen für Frauen.«

Cordelia lachte laut: »Dasselbe könnte ich über die Männer sagen.«

»Aber Sie und Admiral Vorkosigan — Sie sind anders.«

»Nicht … wirklich. Vielleicht haben wir aus Erfahrungen gelernt. Viele Leute tun das nicht.«

»Glauben Sie, daß ich eine Chance für ein normales Leben habe?« Er blickte sie nicht an, sondern schaute in die Dunkelheit.

»Sie schaffen sich Ihre eigenen Chancen. Und Ihre eigenen Tänze.«

»Sie reden genau wie der Admiral.«

Cordelia fing Illyan am nächsten Morgen ab, als er in Palais Vorkosigan vorbeikam, um den täglichen Bericht seines Wachkommandanten zu hören.

»Sagen Sie mir, Simon: Steht Vidal Vordarian auf Ihrer kurzen Liste, oder auf der langen?«

»Jeder steht auf meiner langen Liste«, seufzte Illyan.

»Ich möchte, daß Sie ihn auf Ihre kurze Liste setzen.«

Sein Kopf fuhr hoch. »Warum?«

Sie zögerte. Sie wollte nicht antworten: Intuition, obwohl das es genau war, worauf diese unterbewußten Signale hinausliefen. »Er scheint mir die Mentalität eines Attentäters zu haben. Die Art, die aus einer Deckung in den Rücken des Feindes schießt.«

Illyan lächelte amüsiert. »Verzeihen Sie, Mylady, aber das klingt nicht nach dem Vordarian, den ich kenne. Ich habe ihn mehr als den offen und ungestüm losstürmenden Typ erlebt.«

Wie schlimm mußte ein ungestümer Mann verletzt sein, von welch brennendem Verlangen gequält, daß er auf einmal raffiniert wurde? Sie war unsicher. Vielleicht ahnte Vordarian nicht, wie tief Arals Glück mit ihr reichte, und begriff deshalb nicht, wie gemein sein Angriff auf dieses Glück war? Und: liefen persönliche und politische Animositäten notwendigerweise zusammen? Nein. Der Haß des Mannes war abgrundtief gewesen, sein Schlag, wenn auch irrtümlich, genau gezielt.

»Setzen Sie ihn auf Ihre kurze Liste«, sagte sie.

Illyan öffnete seine Hand. Es war keine Geste der Beschwichtigung, sein Gesichtsausdruck verriet, daß ein Gedankengang eingesetzt hatte. »Na schön, Mylady.«

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