Cordelia beobachtete, wie der Schatten des Leichtfliegers über den Boden dort unten dahinglitt, ein dünner Fleck, der wie ein Pfeil nach Süden flog. Der Pfeil zitterte über Felder, Bäche, Flüsse und staubige Straßen dahin — das Straßennetz war nur rudimentär vorhanden, verkümmert, seine Entwicklung war überholt worden vom Personenlufttransport, der mit der Woge galaktischer Technologie am Ende des Zeitalters der Isolation gekommen war. Mit jedem Kilometer, den sie zwischen sich und die hektische Treibhausatmosphäre der Hauptstadt brachten, lösten sich Knäuel von Spannung in Cordelias Hals. Ein Tag auf dem Land — eine ausgezeichnete Idee, schon längst überfällig. Sie wünschte sich nur, daß Aral mit von der Partie hätte sein können.
Sergeant Bothari, dem irgendeine Landmarke dort drunten als Anhaltspunkt gedient hatte, legte den Leichtflieger sanft in eine Kurve für den neuen Kurs. Droushnakovi, die den Rücksitz mit Cordelia teilte, versteifte sich bei dem Versuch, sich nicht an Cordelia zu lehnen. Dr. Henri, der vorn neben dem Sergeanten saß, blickte durch das Verdeck nach draußen mit einem Interesse, das fast so groß war wie das von Cordelia.
Dr. Henri machte eine halbe Drehung nach hinten, um über seine Schulter zu Cordelia zu sprechen: »Ich danke Ihnen für die Einladung zum Essen, Lady Vorkosigan. Es ist ein seltenes Privileg, den Familienbesitz der Vorkosigans besuchen zu dürfen.«
»Wirklich?«, sagte Cordelia. »Ich weiß, daß sie dort keine Scharen dulden, aber Graf Piotrs Pferdefreunde schauen ziemlich häufig dort vorbei. Faszinierende Tiere.« Cordelia dachte darüber eine Sekunde lang nach, dann entschied sie, daß Dr. Henri ohne weitere Worte begreifen würde, daß mit ›faszinierende Tiere‹ die Pferde gemeint waren und nicht die Freunde von Graf Piotr. »Lassen Sie nur den allerkleinsten Hinweis fallen, daß Sie dafür Interesse haben, und Graf Piotr wird Sie wahrscheinlich höchstpersönlich im Stall umherführen.«
»Ich habe den General noch nie getroffen.« Dr. Henri wirkte, als habe ihn der Gedanke an eine solche Begegnung etwas eingeschüchtert, und er fingerte am Kragen seiner grünen Interimsuniform herum. Als Wissenschaftler vom Kaiserlichen Militärkrankenhaus hatte Henri oft genug mit hochrangigen Personen zu tun, um keine Scheu vor ihnen zu haben, es mußte Piotrs Rolle in der Geschichte von Barrayar sein, die den Unterschied ausmachte.
Piotr hatte seinen jetzigen Rang im Alter von zweiundzwanzig erhalten, als er gegen die Cetagandaner in dem erbitterten Guerillakrieg kämpfte, der in den Dendarii-Bergen gewütet hatte, die sich gerade jetzt am südlichen Horizont blau abzeichneten. Der Rang war alles, was der seinerzeitige Kaiser, Dorca Vorbarra, ihm damals geben konnte, greifbarere Werte wie Verstärkungen, Nachschub und Geld standen in jener verzweifelten Zeit außer Frage. Zwanzig Jahre später hatte Piotr wieder in die Geschichte von Barrayar eingegriffen, als er in dem Bürgerkrieg, der den verrückten Kaiser Yuri stürzte, den Königsmacher für Ezar Vorbarra spielte. Kein durchschnittlicher Generalstäbler, dieser General Piotr Vorkosigan, egal, welchen Maßstab man anlegte.
»Er ist umgänglich«, beruhigte Cordelia Dr. Henri. »Bewundern Sie einfach die Pferde und stellen Sie ein paar Suggestivfragen über die Kriege, und schon können Sie sich entspannen und den Rest der Zeit mit Zuhören verbringen.«
Henris Augenbrauen hoben sich, und er suchte auf ihrem Gesicht nach Zeichen von Ironie. Henri war ein gescheiter Mann. Cordelia lächelte ihm fröhlich zu.
Sie bemerkte, daß Bothari sie in dem Spiegel über seinem Armaturenbrett still beobachtete. Wieder. Der Sergeant schien heute angespannt zu sein.
Die Stellung seiner Hände und die Straffheit seiner Nackenmuskeln verrieten ihn. In Botharis ausdruckslosen gelben Augen konnte man nie etwas lesen, sie saßen tief, zu nahe beieinander und nicht ganz auf derselben Höhe über seinen scharfen Bakkenknochen und seiner langen, engen Kiefernpartie. War er wegen des Besuchs des Doktors besorgt? Verständlich.
Das Land unter ihnen zog sich sanft gewellt dahin, bald aber faltete es sich auf zu zerklüfteten Bergketten, die den Seendistrikt durchfurchten.
Dahinter erhoben sich die Berge, und Cordelia meinte, ein fernes Glitzern frühen Schnees auf dem höchsten Gipfel zu erspähen. Bothari überquerte drei querverlaufende Gebirgskämme, flog wieder eine Kurve und zog dann den Flieger in ein enges Tal hoch. Noch ein paar Minuten, noch ein Bergkamm, und dann kam der lange See in Sicht. Ein gewaltiges Labyrinth niedergebrannter Befestigungen bildete eine schwarze Krone auf einer Landzunge, und darunter duckte sich ein Dorf. Bothari landete den Flieger genau auf einem Kreis, der auf dem Pflaster der breitesten Straße des Dorfes aufgemalt war.
Dr. Henri nahm seine Tasche mit den medizinischen Geräten auf. »Die Untersuchung wird nur ein paar Minuten dauern«, beruhigte er Cordelia, »dann können wir weitermachen.«
Sagen Sie das nicht mir, sagen Sie das Bothari. Cordelia spürte, daß Dr. Henri wegen Bothari etwas nervös war. Er sprach immer sie an statt den Sergeanten, als ob sie eine Übersetzerin wäre, die alles in Begriffe übertrug, die Bothari verstünde. Bothari wirkte furchterregend, zugegeben, aber wenn man an ihm vorbeisprach, so würde das ihn nicht auf magische Weise verschwinden lassen.
Bothari führte sie in ein kleines Haus in einer engen Seitenstraße, die zu dem schimmernden Wasser hinabführte. Auf sein Klopfen hin öffnete eine massige Frau mit ergrauendem Haar die Tür und lächelte ihnen zu: »Guten Morgen, Sergeant. Kommen Sie herein, alles ist bereit. Mylady.« Sie ehrte Cordelia mit einem unbeholfenen Knicks.
Cordelia antwortete mit einem Nicken und schaute sich interessiert um.
»Guten Morgen, Frau Hysopi. Wie schön Ihr Haus heute aussieht.« Die Wohnung war sorgfältig geputzt und aufgeräumt — als Soldatenwitwe wußte Frau Hysopi über Inspektionen Bescheid. Cordelia vertraute darauf, daß die Alltagsstimmung im Haus der Pflegemutter etwas entspannter war.
»Ihre kleine Tochter war sehr brav heute morgen«, versicherte Frau Hysopi dem Sergeanten. »Hat ihre Flasche getrunken — sie hat gerade gebadet. Hier geht es lang, Doktor. Ich hoffe, Sie finden alles in Ordnung …«
Sie ging voran, eine enge Stiege hinauf. Das eine Schlafzimmer war offensichtlich das ihre, das andere, wo man durch ein großes Fenster über die Dächer hinweg zum See hinuntersehen konnte, war kürzlich in ein Kinderzimmer umgewandelt worden. In einem Kinderbettchen brabbelte ein dunkelhaariges Baby mit sich selber. »Du bist ein liebes Mädchen«, sagte Frau Hysopi lächelnd und hob das Kind hoch. »Sag hallo zu deinem Papa, na, Elena. Schön schön.«
Bothari blieb in der Tür stehen und betrachtete das Kind aufmerksam. »Ihr Kopf ist sehr gewachsen«, bemerkte er nach einer kleinen Weile.
»Das ist immer so, zwischen drei und vier Monaten«, stimmte Frau Hysopi zu.
Dr. Henri legte seine Instrumente auf dem Bettlaken bereit, Frau Hysopi brachte das Kind zurück und fing an, es auszuziehen. Die beiden begannen eine Fachsimpelei über Rezepte und Stuhlgang, und Bothari ging in dem kleinen Zimmer umher, schaute alles an, berührte aber nichts.
Er wirkte schrecklich groß und fehl am Platz inmitten der farbenfrohen, zierlichen Kindermöbel, dunkel und gefährlich in seiner braun-silbernen Uniform. Sein Kopf stieß an die schräge Decke, und er zog sich vorsichtig zur Tür zurück.
Cordelia spähte neugierig über die Schultern von Dr. Henri und Frau Hysopi und beobachtete das kleine Mädchen, wie es sich bewegte und sich umzurollen versuchte. Kleine Kinder. Bald würde sie auch eines haben. Als käme da eine Antwort, bewegte es sich in ihrem Bauch. Piotr Miles war glücklicherweise noch nicht stark genug, um sich seinen Weg aus einer Papiertüte freizukämpfen, aber wenn seine Entwicklung weiter so anhielt wie bisher, dann würden die letzten paar Monate der Schwangerschaft für Cordelia dauernde Schlaflosigkeit bedeuten. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte damals auf Kolonie Beta einen Trainingskurs für Eltern mitgemacht, selbst wenn sie noch nicht bereit gewesen war, eine Elternlizenz zu beantragen. Aber barrayaranische Eltern schienen aus dem Stegreif damit fertigzuwerden. Frau Hysopi hatte durch die Praxis gelernt, und sie hatte jetzt schon drei erwachsene Kinder.
»Erstaunlich«, sagte Dr. Henri, während er unter Kopfschütteln seine Ergebnisse notierte. »Absolut normale Entwicklung, so weit ich sagen kann. Nichts läßt erkennen, daß sie aus einem Uterusreplikator kam.«
»Ich kam auch aus einem Uterusreplikator«, merkte Cordelia amüsiert an.
Henri schaute sie unwillkürlich von oben bis unten an, als ob er plötzlich erwartete, Antennen zu entdecken, die aus ihrem Kopf wuchsen.
»Die betanischen Erfahrungen deuten darauf hin, daß es nicht so sehr darauf ankommt, wie man hierher gelangt, sondern allein darauf, was man nach seiner Ankunft macht.«
»Wirklich?« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Und Sie sind frei von genetischen Defekten?«
»Ist mir bescheinigt«, bestätigte Cordelia.
»Wir brauchen diese Technologie.« Er seufzte und begann, seine Sachen wieder einzupacken. »Es geht ihr gut, Sie können sie wieder anziehen«, fügte er zu Frau Hysopi gewandt hinzu.
Bothari baute sich schließlich vor dem Kinderbett auf und blickte hinein, mit tiefen Falten zwischen den Augen. Er berührte das Kind nur einmal, mit einem Finger an der Wange, dann rieb er den Finger an seinem Daumen, als wolle er seine Nervenfunktion prüfen. Frau Hysopi beobachtete ihn von der Seite, sagte aber nichts. Während Bothari noch blieb, um Frau Hysopi die monatlichen Ausgaben zu begleichen, schlenderten Cordelia und Dr. Henri zum See hinunter. Droushnakovi folgte ihnen.
»Als diese siebzehn escobaranischen Uterusreplikatoren im Kaiserlichen Militärkrankenhaus ankamen«, sagte Henri, »zu uns aus dem Kriegsgebiet geschickt, da war ich echt erschrocken. Warum sollte man diese unerwünschten Föten retten, und noch dazu zu solchen Kosten? Warum hat man sie ausgerechnet an meine Abteilung abgeschoben? Inzwischen halte ich sehr viel davon, Mylady. Ich habe sogar an eine Anwendung gedacht, ein technologisches Nebenprodukt, für Verbrennungspatienten. Jetzt arbeite ich daran, die Zustimmung zu dem Projekt traf vor genau einer Woche ein.« Seine Augen funkelten vor Eifer, als er seine Theorie darlegte, die sich vernünftig anhörte, soweit Cordelia die Prinzipien verstand.
»Meine Mutter ist Ingenieurin für medizinische Geräte im Silica- Hospital«, erklärte sie Henri, als er innehielt, um Atem zu schöpfen und Zustimmung zu ernten. »Sie arbeitet ständig an dieser Art von Anwendung.« Henri intensivierte daraufhin seine technischen Ausführungen.
Cordelia grüßte zwei Frauen auf der Straße mit Namen und stellte sie Dr. Henri vor.
»Sie sind die Ehefrauen von zwei geschworenen Gefolgsleuten von Graf Piotr«, erklärte sie, als sie weitergingen.
»Eigentlich müßten die doch in der Hauptstadt leben wollen, sollte man annehmen.«
»Einige leben dort, einige bleiben hier. Es scheint von ihrer Neigung abzuhängen. Die Lebenskosten sind hier draußen viel niedriger, und diese Burschen sind nicht so gut bezahlt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Einige von den Landbewohnern trauen dem Leben in der Stadt nicht, sie scheinen zu denken, daß es hier sauberer ist.« Sie mußte kurz grinsen. »Einer der Kerle hat an jedem Standort eine Frau. Keiner seiner Kameraden hat ihn bis jetzt verpfiffen. Der Haufen hält zusammen.«
Henris Augenbrauen hoben sich: »Wie hübsch für ihn.«
»Eigentlich nicht. Er ist immer knapp bei Kasse und sieht immer sorgengeplagt aus. Aber er kann sich nicht entscheiden, welche Frau er aufgeben soll. Anscheinend liebt er wirklich beide.«
An der Bootsanlegestelle sahen sie einen alten Mann herumwerkeln. Als Dr. Henri zu ihm ging und sich bei ihm nach der Möglichkeit erkundigte, ein Boot zu mieten, trat Droushnakovi zu Cordelia und sprach sie leise an.
Sie schaute verwirrt drein. »Mylady … wie in der Welt ist Sergeant Bothari zu einem Baby gekommen? Er ist doch nicht verheiratet, oder?«
»Glauben Sie, der Storch hat die Kleine gebracht?«, sagte Cordelia leichthin.
»Nein.«
Nach ihrem Stirnrunzeln zu schließen schien Drou diese Frivolität nicht zu billigen. Cordelia konnte es ihr nicht übelnehmen. Sie seufzte. Wie kann ich mich da bloß herauswinden? »Aber so war es fast. Ihr Uterusreplikator wurde mit einem Schnellkurier aus Escobar gebracht, nach dem Krieg. Sie hat ihre vorgeburtliche Zeit in einem Labor im Kaiserlichen Militärkrankenhaus vollendet, unter der Aufsicht von Dr. Henri.«
»Ist sie wirklich Botharis Kind?«
»O ja, genetisch bestätigt. Auf diese Weise identifizierte man …« Cordelia brach den Satz mittendrin ab. Jetzt vorsichtig …
»Aber war da nicht die Rede von siebzehn Replikatoren? Und wie kam das Baby in den Replikator? War … war es ein Experiment?«
»Plazentaübertragung. Eine schwierige Operation, selbst nach galaktischen Maßstäben, aber kein Experiment mehr. Schauen Sie«, Cordelia hielt inne und überlegte schnell, »ich werde Ihnen die Wahrheit sagen.« Aber nicht die ganze Wahrheit. »Die kleine Elena ist die Tochter von Bothari und einer jungen escobaranischen Offizierin namens Elena Visconti. Bothari … liebte sie … sehr. Aber nach dem Krieg wollte sie nicht mit ihm nach Barrayar kommen. Das Kind wurde gezeugt, hm … auf barrayaranische Weise, und später in den Replikator übertragen, als sie sich trennten. Es gab einige ähnliche Fälle. Die Replikatoren wurden alle an das Kaiserliche Militärkrankenhaus geschickt, das mehr über diese Technologie lernen wollte. Bothari befand sich in … medizinischer Behandlung, ziemlich lange Zeit, nach dem Krieg. Aber als er entlassen wurde und sie aus dem Replikator kam, übernahm er das Sorgerecht für sie.«
»Nahmen die anderen auch ihre Babies?«
»Die meisten anderen Väter waren damals schon tot. Die Kinder kamen in das Waisenhaus der Kaiserlichen Armee.«
Das also war die offizielle Version, ganz korrekt und schlüssig.
»Oh.« Drou blickte mit gerunzelter Stirn auf ihre Füße. »Das ist überhaupt nicht … es ist schwer, sich Bothari vorzustellen … Um ganz ehrlich zu sein«, sagte sie in einem Anfall von Offenheit, »ich glaube nicht, daß ich auch nur eine Katze der Obhut von Bothari anvertrauen würde. Kommt er Ihnen nicht ein bißchen seltsam vor?«
»Aral und ich haben ein Auge auf ihn. Bothari macht sich bis jetzt sehr gut, glaube ich. Er hat Frau Hysopi auf eigene Faust gefunden, und er stellt sicher, daß sie alles bekommt, was sie braucht. Hat Bothari — das heißt, sind Sie wegen Bothari beunruhigt?«
Droushnakovi schaute Cordelia an, als bezweifelte sie die Ernsthaftigkeit ihrer Worte. »Er ist so groß. Und häßlich. Und er … führt an manchen Tagen Selbstgespräche. Und er ist so oft krank, tagelang, wo er dann nicht aus dem Bett kommt, aber er hat dann kein Fieber oder so etwas. Der Kommandant von Graf Piotrs Leuten meint, er sei ein Simulant.«
»Er simuliert nicht. Aber es ist gut, daß Sie das erwähnen, ich werde Aral sagen, er soll mit dem Kommandanten reden und die Sache klären.«
»Aber haben Sie denn überhaupt keine Angst vor ihm? Zumindest an seinen schlechten Tagen?«
»Ich könnte über Bothari weinen«, sagte Cordelia langsam, »aber ich habe keine Angst vor ihm. Nicht an den schlechten Tagen, und nicht an anderen Tagen. Und auch Sie sollten keine Angst vor ihm haben. Es wäre … es wäre eine schlimme Beleidigung für ihn.«
»Tut mir leid.« Droushnakovi scharrte mit ihrem Schuh über den Kies.
»Es ist eine traurige Geschichte. Kein Wunder, daß er nicht über den Escobar-Krieg redet.«
»Ja, ich wäre Ihnen … dankbar, wenn Sie nie die Rede darauf bringen. Für ihn ist das sehr schmerzlich.«
Ein kurzer Sprung mit dem Leichtflieger von dem Dorf über eine Landzunge des Sees brachte sie zum Landgut der Vorkosigans. Vor einem Jahrhundert war das Haus ein vorgeschobener Wachposten des Forts auf der Landzunge gewesen. Die moderne Waffentechnik hatte oberirdische Befestigungen überflüssig gemacht, und die alten Steingebäude waren einer friedlicheren Nutzung zugeführt worden. Dr. Henri hatte offensichtlich mehr Pracht erwartet, denn er sagte: »Es ist kleiner, als ich erwartet habe.«
Piotrs Haushälterin hatte für sie auf einer mit Blumen geschmückten Terrasse am Südende des Hauses bei der Küche ein hübsches Mittagessen vorbereitet. Während sie die Gäste dorthin führte, nahm Cordelia Graf Piotr beiseite.
»Danke, daß wir hier bei dir einfallen durften.«
»Bei mir einfallen, also wirklich! Das ist dein Haus, meine Liebe. Du kannst hier ganz nach Belieben alle Freunde einladen, die du möchtest. Dies ist das erstemal, daß du es getan hast, verstehst du?« Er blieb mit ihr in der Tür stehen. »Weißt du, als meine Mutter meinen Vater heiratete, da hat sie Palais Vorkosigan völlig umdekoriert. Meine Frau tat das gleiche zu ihrer Zeit. Aral hat so spät geheiratet, daß ich fürchte, eine Renovierung ist schon längst überfällig. Würdest du nicht … auch mögen?«
Aber es ist dein Haus, dachte Cordelia hilflos, nicht einmal das von Aral, wirklich …
»Du bist so leicht bei uns gelandet, daß man fast fürchtet, du wirst wieder wegfliegen«. Piotr lachte leise, aber in seinen Augen war Besorgnis zu lesen.
Cordelia klopfte auf ihren sich rundenden Bauch. »Oh, ich bin jetzt durchaus schwer auf dem Boden, Herr Graf.« Sie zögerte. »Um die Wahrheit zu sagen, ich dachte, es wäre hübsch, in Palais Vorkosigan eine Liftröhre zu haben. Wenn man Basement, Subbasement, Dachgeschoß und Dach dazuzählt, dann gibt es jetzt acht Stockwerke im Hauptgebäude. Zu Fuß ist das ein ganz schöner Weg!«
»Eine Liftröhre? Wir haben nie …« — er biß sich auf die Lippe. »Wo?«
»Du könntest es im hinteren Teil des Korridors einbauen lassen, neben den Versorgungsleitungen, ohne daß dadurch die Innenkonstruktion beeinträchtigt wird.«
»Du könntest es auch. Prima. Finde einen Bauunternehmer. Tu’s!«
»Ich werde mich morgen darum kümmern. Danke, Sir.« Hinter seinem Rücken hob sie die Augenbrauen.
Offensichtlich in der Absicht, sie zu ermutigen, war Graf Piotr während des Mittagessens bemüht freundlich zu Dr. Henri, obwohl dieser deutlich ein Mann der neuen Zeit war. Henri seinerseits, der Cordelias Rat folgte, kam glänzend mit Piotr aus. Piotr erzählte Henri alles über das neue Fohlen, das in seinen Ställen hinter der Hügelkette geboren worden war.
Das Tier war ein genetisch bescheinigtes Vollblut, das Piotr ein Quarterhorse nannte, obwohl es für Cordelia wie ein ganzes Pferd aussah. Das Hengstfohlen war unter großen Kosten als tiefgefrorener Embryo von der Erde importiert und einer Rassestute implantiert worden, und Piotr hatte die Entwicklung bis zur Geburt sorgfältig überwacht. Der biologisch geschulte Henri zeigte fachliches Interesse, und nach dem Essen nahm Piotr ihn mit zu einer persönlichen Besichtigung der großen Tiere.
Cordelia entschuldigte sich: »Ich möchte mich ein bißchen ausruhen. Sie können gehen, Drou. Sergeant Bothari wird bei mir bleiben.« Tatsächlich machte Cordelia sich Sorgen über Bothari. Er hatte mittags nicht einen einzigen Bissen zu sich genommen, und seit über einer Stunde auch kein einziges Wort mehr gesprochen.
Drou, die Bedenken hatte, andererseits aber ganz versessen auf die Pferde war, ließ sich überreden. Die drei stapften also den Hügel hinauf. Cordelia blickte ihnen nach, dann wandte sie ihr Gesicht Bothari zu, der sie wieder beobachtete. Er nickte ihr auf seltsame Weise zustimmend zu.
»Danke, Mylady.«
»Hmm, ja. Ich habe überlegt, ob Sie sich nicht wohlfühlen.«
»Nein … ja. Ich weiß nicht. Ich wollte … ich wollte mit Ihnen sprechen, Mylady. Seit … seit einigen Wochen. Aber es schien sich nie eine gute Gelegenheit dafür zu ergeben. In der letzten Zeit wurde es noch schlimmer. Ich kann nicht mehr länger warten. Ich hatte gehofft, daß heute …«
»Nutzen wir den Augenblick.« Die Haushälterin klapperte in Piotrs Küche herum. »Hätten Sie Lust auf einen Spaziergang?«
»Bitte sehr, Mylady.«
Sie gingen zusammen um das alte Steinhaus herum. Der Pavillon oben auf dem Hügel mit seinem Überblick über den See wäre ein großartiger Ort zum Sitzen und Reden, aber Cordelia fühlte sich zu voll und zu schwanger für den Aufstieg. Sie führte statt dessen nach links, auf dem Pfad, der parallel zum Abhang verlief, bis sie zu einer Art kleinem ummauertem Garten kamen.
Der Familienfriedhof der Vorkosigans war bis zum letzten Winkel belegt mit unterschiedlichsten Gräbern: engere Familie, entfernte Verwandte, Gefolgsleute mit besonderen Verdiensten. Der Friedhof war ursprünglich ein Teil der Anlage des zerstörten Forts gewesen, und die ältesten Gräber von Wachen und Offizieren waren schon vor Jahrhunderten angelegt worden. Die Vorkosigans waren hier erst nach der atomaren Zerstörung der alten Distrikthauptstadt Vorkosigan Vashnoi während der cetagandanischen Invasion aufgetaucht. Die Toten waren damals mit den Lebenden verschmolzen worden, und eine Familiengeschichte von acht Generationen war ausgelöscht worden. Es war aufschlußreich, wenn man Geburts- und Sterbedaten aus neuerer Zeit in Beziehung zu den jeweiligen historischen Ereignissen brachte, z.B. zur cetagandanischen Invasion oder zum Krieg von Yuri dem Wahnsinnigen. Das Grab von Arals Mutter stammte genau aus dem Jahr, in dem Yuris Krieg begann. Neben ihr war eine Grabstelle für Piotr reserviert, und das schon seit dreiundreißig Jahren. Sie wartete geduldig auf ihren Ehemann. Und die Männer beschuldigen uns Frauen, wir ließen immer auf uns warten. Ihr ältester Sohn, Arals Bruder, lag an ihrer anderen Seite bestattet.
»Setzen wir uns dort drüben hin.« Cordelia nickte in Richtung einer Steinbank, die von kleinen orangefarbenen Blumen umgeben war und der eine von der Erde importierte, mindestens schon ein Jahrhundert alte Eiche Schatten spendete. »Die Leute hier sind jetzt alle gute Zuhörer. Und sie tratschen keinen Klatsch weiter.«
Cordelia setzte sich auf den warmen Stein und musterte Bothari. Er saß so weit entfernt von ihr, wie es die Bank gerade zuließ. Die Furchen in seinem Gesicht wirkten heute tief und schroff, obwohl das Licht des Nachmittags durch den warmen Herbstdunst gemildert wurde. Eine Hand klammerte sich um die rauhe Steinkante der Bank und spannte immer wieder ihre Muskeln. Er atmete zu bedacht.
Cordelia dämpfte ihre Stimme: »Also, was ist los, Sergeant? Sie sehen heute ein bißchen … angespannt aus. Ist etwas mit Elena?«
Er gab ein freudloses Lachen von sich. »Angespannt. Ja, ich schätze, so kann man sagen. Es geht nicht um das Baby … es geht … nun ja, nicht direkt.« Er blickte ihr direkt in die Augen, zum erstenmal an diesem Tag.
»Sie erinnern sich an Escobar, Mylady. Sie waren dort. Richtig?«
»Richtig.« Dieser Mann leidet Qualen, erkannte Cordelia. Welche Qualen?
»Ich kann mich nicht an Escobar erinnern.«
»Das habe ich gehört. Ich glaube, Ihre Armeetherapeuten haben sich große Mühe gegeben, um sicherzustellen, daß Sie sich nicht an Escobar erinnern.«
»O ja.«
»Ich billige die barrayaranischen Vorstellungen von Therapie nicht, besonders, wenn sie von politischen Zwecküberlegungen beeinflußt sind.«
»Zu dieser Erkenntnis bin ich gekommen, Mylady.« In seinen Augen glimmte eine vorsichtige Hoffnung auf.
»Wie haben sie es gemacht? Haben sie ausgewählte Neuronen ausgebrannt? Oder war es chemische Löschung?«
»Nein … sie haben Drogen verwendet, aber nichts wurde zerstört. So sagt man mir. Die Ärzte nannten es Suppressionstherapie. Wir nannten es einfach die Hölle. Jeden Tag gingen wir in die Hölle, bis wir nicht mehr dorthin gehen wollten.« Bothari rutschte auf seinem Sitz hin und her und runzelte die Stirn. »Wenn ich versuche, mich zu erinnern — überhaupt über Escobar zu sprechen —, so verursacht mir das Kopfschmerzen. Klingt dumm, nicht wahr. Ein großes Mannsbild wie ich winselt über Kopfschmerzen wie ein altes Weib. Bestimmte besondere Teile, Erinnerungen, verursachen mir diese wirklich schlimmen Kopfschmerzen, ich sehe dann rote Ringe um alles und fange an, mich zu übergeben. Wenn ich aufhöre, darüber nachzudenken, dann lassen die Schmerzen nach. Ganz einfach.«
Cordelia schluckte. »Ich verstehe. Es tut mir leid. Ich wußte, daß es schlimm war, aber ich wußte nicht, daß es … so schlimm war.«
»Das Schlimmste davon sind die Träume. Ich träume … davon und wenn ich zu langsam aufwache, dann erinnere ich mich an den Traum. Ich erinnere mich dann an zuviel auf einmal, und mein Kopf — alles, was ich dann tun kann, ist mich auf die andere Seite zu rollen und zu weinen, bis ich anfangen kann, von etwas anderem zu denken. Graf Piotrs andere Leute — sie denken, ich sei verrückt, sie denken, ich sei dumm, sie wissen nicht, was ich da drinnen mit ihnen mache. Ich weiß nicht, was ich da drinnen mit ihnen mache.« Er rieb seine großen Hände in einer gequälten Bewegung über die kurzgeschorenen Haare auf seinem Schädel. »Der vereidigte Gefolgsmann eines Grafen zu sein — das ist eine Ehre. Es gibt dafür nur zwanzig Posten. Sie nehmen die Besten, sie nehmen die tollen Helden, die Männer mit Tapferkeitsmedaillen, die Männer mit zwanzig Jahren Dienst und vollkommenem Leumund. Wenn das, was ich getan habe — in Escobar —, so schlimm war, warum hat dann der Admiral den Grafen veranlaßt, mir einen Posten zu geben? Und wenn ich ein so toller Held war, warum haben sie mir dann meine Erinnerung daran genommen?« Sein Atem ging jetzt schneller, er pfiff durch seine langen gelben Zähne.
»Wie weh tut Ihnen das jetzt? Wenn Sie versuchen, darüber zu sprechen?«
»Ziemlich. Und es wird noch schlimmer werden.« Er schaute sie an, mit tiefen Falten auf der Stirn. »Ich muß darüber sprechen. Mit Ihnen. Es macht mich sonst …«
Sie atmete bewußt ruhig und versuchte, mit ihrem ganzen Geist, ihrem ganzen Leib und ihrer ganzen Seele zuzuhören. Und achtsam. Ganz achtsam. »Fahren Sie fort.«
»Ich habe … vier Bilder … in meinem Kopf, von Escobar. Vier Bilder, und ich kann sie nicht erklären. Mir selbst. Ein paar Minuten, von — drei Monaten? Oder vier? Sie alle quälen mich, aber eines quält mich am meisten. Darin kommen Sie vor«, fügte er abrupt hinzu und starrte auf den Boden. Beide Hände umklammerten jetzt die Bank, die Knöchel traten weiß hervor.
»Ich verstehe. Fahren Sie fort.«
»Eines — das am wenigsten schlimme —, das war ein Streit. Prinz Serg war da und Admiral Vorrutyer, Lord Vorkosigan, und Admiral Rulf Vorhalas. Und ich war dabei. Außer daß ich keinerlei Kleider anhatte.«
»Sind Sie sicher, daß das kein Traum ist?«
»Nein, ich bin nicht sicher. Admiral Vorrutyer sagte … etwas sehr Beleidigendes zu Lord Vorkosigan. Er hatte Lord Vorkosigan gegen die Wand zurückgedrängt. Prinz Serg lachte. Dann küßte Vorrutyer ihn, voll auf den Mund, und Vorhalas versuchte, Vorrutyers Kopf wegzuschlagen, aber Lord Vorkosigan ließ ihn nicht. Und wie es dann weiterging, daran erinnere ich mich nicht.«
»Hmm … ja«, sagte Cordelia. »Bei dieser Szene war ich nicht dabei, aber ich weiß, daß da im Oberkommando einige wirklich verrückte Dinge geschahen, als Vorrutyer und Serg es zum Äußersten trieben. Also ist das vermutlich eine echte Erinnerung. Ich könnte Aral fragen, falls Sie das wünschen.«
»Nein! Nein. Dieses Bild kommt mir sowieso nicht so wichtig vor, wie die anderen.«
»Erzählen Sie mir dann die anderen.«
Seine Stimme ging zu einem Flüstern über. »Ich erinnere mich an Elena. So hübsch. Ich habe nur zwei Bilder von Elena in meinem Kopf. In dem einen erinnere ich mich, wie Vorrutyer mich … nein, darüber will ich nicht reden.« Er hielt eine ganze Minute lang inne, und dabei wankte er leicht, vor und zurück. »Das andere … wir waren in meiner Kabine. Sie und ich. Sie war meine Frau …« Seine Stimme stockte. »Sie war nicht meine Frau, nicht war.« Das war nicht einmal eine Frage.
»Nein. Aber Sie wissen das.«
»Aber ich erinnere mich, daß ich glaubte, sie sei meine Frau.« Seine Hände drückten gegen seine Stirn und rieben seinen Hals, heftig und sinnlos.
»Sie war eine Kriegsgefangene«, sagte Cordelia. »Ihre Schönheit hatte Vorrutyers und Sergs Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und sie faßten den Plan, sie zu foltern, ohne Grund — nicht wegen ihres militärischen Wissens, nicht einmal aus politischem Terrorismus — nur zum Vergnügen dieser beiden. Sie wurde vergewaltigt. Aber das wissen Sie auch. Auf einer bestimmten Ebene.«
»Ja«, flüsterte er.
»Daß man ihr empfängnisverhütendes Implantat entfernte und Ihnen erlaubte — oder Sie zwang —, sie zu schwängern, war Teil der sadistischen Absicht von Vorrutyer und Serg. Der erste Teil. Sie lebten, Gott sei Dank, nicht lang genug, um zum zweiten Teil zu gelangen.«
Er hatte seine Beine hochgezogen und seine langen Arme fest darum geschlungen. Sein Atem ging schnell und flach, keuchend. Sein Gesicht war schneeweiß und glänzte vor kaltem Schweiß.
»Habe ich rote Ringe rings um mich?«, fragte Cordelia neugierig.
»Alles ist … irgendwie rosa.«
»Und das letzte Bild?«
»O Mylady.« Er schluckte. »Was immer es auch war … ich weiß, es muß ganz nah an dem dran sein, von dem man am meisten wünscht, daß ich mich nicht daran erinnere.« Er schluckte wieder. Cordelia begann zu verstehen, warum er sein Mittagessen nicht angerührt hatte.
»Wollen Sie fortfahren? Können Sie fortfahren?«
»Ich muß fortfahren. Mylady. Captain Naismith. Denn ich erinnere mich an Sie. Erinnere mich, Sie zu sehen. Ausgestreckt auf Vorrutyers Bett, all Ihre Kleider weggeschnitten, nackt. Sie bluteten. Ich schaute auf Ihr … Was ich wissen will. Wissen muß.« Seine Arme waren jetzt um seinen Kopf geschlungen, der auf seinen Knien in ihre Richtung geneigt war, sein Gesicht war eingefallen, gehetzt, hungrig. Sein Blutdruck mußte unglaublich hoch sein, um ihn in diese monströse Migräne zu treiben. Wenn sie jetzt zu weit gingen, bis zur letzten Wahrheit vorstießen, bestand dann für ihn vielleicht die Gefahr eines Schlaganfalls? Ein unglaubliches Stück Psychotechnik, seinen eigenen Körper darauf zu programmieren, daß er ihn für verbotene Gedanken bestrafte …
»Habe ich Sie vergewaltigt, Mylady?«
»Wie? Nein!« Sie setzte sich kerzengerade hin, voller heftiger Empörung. Sie hatten ihm dieses Wissen genommen? Sie hatten gewagt, ihm dies zu nehmen?
Er begann zu weinen, wenn man sein stoßweises Atmen, sein verzogenes Gesicht und das Sickern von Tränen aus seinen Augen als Weinen bezeichnen wollte. Es kam zu gleichen Teilen aus Qual und Freude. »O Gott sei Dank.« Und dann: »Sind Sie sicher …?«
»Vorrutyer befahl es Ihnen. Aber Sie weigerten sich. Aus Ihrem eigenen Willen, ohne Hoffnung auf Rettung oder Belohnung. Das brachte Sie in Teufels Küche, für einige Zeit.« Sie hatte das Verlangen, ihm auch den Rest zu erzählen, aber er war jetzt in einem so schrecklichen Zustand, daß es unmöglich war, die Folgen abzuschätzen. »Wie lange haben Sie sich schon daran erinnert? Sich diese Fragen gestellt?«
»Seit ich Sie zum erstenmal wiedersah. In diesem Sommer. Als Sie kamen, um Lord Vorkosigan zu heiraten.«
»Sie sind seit mehr als sechs Monaten mit diesem Zeug in Ihrem Kopf herumgelaufen und haben nicht gewagt, zu fragen?«
»Ja, Mylady.«
Sie lehnte sich erschrocken zurück. »Nächstesmal warten Sie aber nicht so lange.«
Er schluckte heftig, rappelte sich hoch und winkte mit seiner Hand in einer verzweifelten Geste, die bedeuten sollte: »Warten Sie auf mich!« Er schwang seine Beine über die niedrige Steinmauer und verschwand hinter einigen Büschen. Besorgt hörte sie zu, wie er einige Minuten lang würgte und sich aus seinem leeren Magen erbrach. Sie kam zu dem Schluß, daß es sich hierbei um einen äußerst schlimmen Anfall handeln mußte, aber endlich wurden die heftigen Krämpfe schwächer, dann hörten sie auf.
Er kehrte zurück, wischte die Lippen ab und sah kreidebleich aus, nicht viel besser als vorher, ausgenommen in den Augen. In diesen Augen flackerte jetzt etwas Leben, ein halb unterdrücktes Leuchten von überwältigender Erleichterung.
Dieses Licht wurde schwächer, während er in Gedanken dasaß. Er rieb seine Handflächen an den Knien seiner Hose und starrte auf seine Stiefel.
»Aber ich bin deshalb nicht weniger ein Vergewaltiger, nur weil Sie nicht mein Opfer waren.«
»Das stimmt.«
»Ich kann … mir selbst nicht trauen. Wie können Sie mir trauen? … Wissen Sie, was besser als Sex ist?«
Sie fragte sich, ob sie diesem Gespräch noch eine scharfe Wendung geben konnte, ohne laut kreischend davonzulaufen. Du hast ihn ermutigt, den Korken zu öffnen, nun steckst du mit drin. »Fahren Sie fort.«
»Töten. Man fühlt sich besser, danach. Es sollte nicht … ein solches Vergnügen sein. Lord Vorkosigan tötet nicht auf diese Weise.« Seine Augen waren zusammengekniffen, seine Stirn gerunzelt, aber er hatte sich aus seiner Kugel der Qual wieder entwirrt: sicher sprach er jetzt ganz allgemein und dachte nicht mehr an Vorrutyer.
»Es ist vielleicht eine Entfesselung von Wut, vermute ich«, sagte Cordelia vorsichtig. »Wie sind Sie zu soviel Wut gekommen, die in Ihnen drinnen zusammengeballt ist? Die Dichte ist spürbar. Die Leute können es fühlen.«
Seine Hand ballte sich vor seinem Solarplexus zusammen. »Das geht weit, weit zurück. Aber die meiste Zeit empfinde ich keinen Ärger. Es klinkt plötzlich aus.«
»Selbst Bothari fürchtet Bothari«, murmelte sie verwundert.
»Aber Sie fürchten ihn nicht. Sie haben noch weniger Furcht als Lord Vorkosigan.«
»Ich sehe Sie als irgendwie mit ihm verknüpft. Und er ist mein eigenes Herz. Wie kann ich mein eigenes Herz fürchten?«
»Mylady, ich schlage einen Handel vor.«
»Hm?«
»Sie sagen mir … wenn es in Ordnung ist. Zu töten. Und dann weiß ich Bescheid.«
»Das kann ich nicht — schauen Sie, zum Beispiel, wenn ich nicht da bin? Wenn diese Sache Sie überkommt, dann ist für gewöhnlich keine Zeit, innezuhalten und zu analysieren. Selbstverteidigung muß Ihnen erlaubt sein, aber Sie müssen auch in der Lage sein zu erkennen, ob Sie wirklich angegriffen werden.« Sie setzte sich auf, und ihre Augen weiteten sich in einer plötzlichen Einsicht. »Deshalb ist Ihre Uniform so wichtig für Sie, nicht wahr? Sie sagt Ihnen, wann es in Ordnung ist. Wenn Sie es sich nicht selbst sagen können. All diese strengen Routinen, an die Sie sich halten, sie sind dazu da, Ihnen zu sagen, daß Sie in Ordnung sind, daß Sie sich auf dem richtigen Weg befinden.«
»Ja, ich bin jetzt vereidigt auf die Verteidigung des Hauses Vorkosigan. Also ist das in Ordnung.« Er nickte, offensichtlich beruhigt. Wodurch, um Gottes willen?
»Sie bitten mich, Ihr Gewissen zu sein. Ihre Urteile für Sie zu fällen. Aber Sie sind ein ganzer Mann, ich habe Sie richtige Entscheidungen treffen sehen, und zwar unter schwerstem Stress.«
Seine Hände preßten sich wieder gegen seinen Schädel, seine Zähne waren zusammengebissen, und er stieß knirschend hervor: »Aber ich kann mich nicht an sie erinnern. Kann mich nicht erinnern, wie ich sie getroffen habe.«
»Oh.« Sie kam sich sehr klein vor. »Nun ja … was immer Sie denken, daß ich für Sie tun kann. Sie haben ein Blutrecht darauf. Das schulden wir Ihnen, Aral und ich. Wir erinnern uns daran, warum, selbst wenn Sie es nicht können.«
»Erinnern Sie sich dann für mich, Mylady«, sagte er leise, »und es wird für mich in Ordnung sein.«
»Ja, glauben Sie daran!«