KAPITEL 15

Innerhalb von zehn Minuten nach Vorkosigans Ankunft im Sicherheitsposten am Hauptportal lag Hauptmann Vaagen flach auf einer Schwebebahre und war auf seinem Weg zum Lazarett, während man den besten Trauma-Arzt der Basis zur Untersuchung rief. Cordelia dachte voll Bitterkeit über die Natur der Befehlskette nach: alle Wahrheit und guten Gründe und dringende Notwendigkeit waren offensichtlich nicht genug, um jemandem außerhalb dieser Kette ursächliche Macht zu verleihen.

Eine weitere Befragung des Wissenschaftlers hatte zu warten bis nach seiner medizinischen Behandlung. Vorkosigan nutzte die Zeit, um Illyan und dessen Abteilung auf das neue Problem anzusetzen. Cordelia nutzte die Zeit, um im Wartebereich des Lazaretts im Kreis herumzulaufen.

Droushnakovi beobachtete sie mit stiller Sorge, sie war nicht so töricht, beruhigende Versicherungen anzubieten, von denen sie beide wußten, daß sie nichtssagend waren.

Endlich kam der Traumaspezialist aus dem Operationssaal und verkündete, Vaagen sei bei Bewußtsein und genügend orientiert für eine kurze — er betonte: kurze — Befragung. Aral kam, hinter ihm Koudelka und Illyan, und sie alle marschierten hinein und fanden Vaagen in einem Lazarettbett mit einer Klappe auf dem Auge und an einen intravenösen Tropfer angeschlossen.

Vaagen fügte in seiner heiseren und müden Stimme noch ein paar schreckliche Details an, jedoch nichts, was das Bild ändern konnte, daß er zuerst Cordelia geschildert hatte.

Illyan hörte mit stetiger Aufmerksamkeit zu. »Unsere Leute in der Residenz bestätigen das«, berichtete er, als Vaagen erschöpft war und sein bedrücktes Flüstern in Schweigen überging. »Der Replikator wurde offensichtlich gestern in die Residenz gebracht und in dem am schwersten bewachten Flügel untergebracht, in der Nähe von Prinzessin Kareens Gemächern. Unsere Loyalisten wissen nicht, was es ist, sie denken, es ist irgendeine Art von Apparat, vielleicht eine Bombe, die die Residenz und alle ihre Insassen im Endkampf ausschalten soll.«

Vaagen schnaubte, hustete und zuckte zusammen.

»Haben sie irgend jemand, der sich darum kümmert?«, stellte Cordelia die Frage, die bis jetzt jeder vermieden hatte. »Einen Doktor, einen Medizintechniker, irgend jemanden?«

Illyan runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht, Mylady. Ich kann versuchen, es herauszufinden, aber jede besondere Kommunikation gefährdet unsere Leute dort oben.«

»Hmm.«

»Die Behandlung ist sowieso unterbrochen worden«, murmelte Vaagen. Seine Hand fummelte am Rand seiner Bettdecke herum. »Das ist jetzt höllisch verpfuscht.«

»Ich bin mir bewußt, daß Sie Ihre Aufzeichnungen verloren haben, aber könnten Sie … Ihre Arbeit rekonstruieren?«, fragte Cordelia zaghaft. »Wenn Sie den Replikator wiederhätten, meine ich. Da weitermachen, wo Sie aufgehört haben.«

»Es wäre nicht mehr da, wo wir aufgehört haben, dann, wenn wir ihn zurückbekämen. Und es war nicht alles in meinem Kopf. Einiges davon war in Henris Kopf.«

Cordelia atmete tief durch. »Soweit ich mich erinnere, laufen diese escobaranischen tragbaren Replikatoren in einem Zyklus mit zweiwöchentlicher Wartung. Wann haben Sie zum letztenmal Elektrizität nachgeladen, die Filter ausgewechselt und Nährlösungen hinzugegeben?«

»Die Stromzellen halten noch Monate«, verbesserte Vaagen. »Die Filter sind eher ein Problem. Aber die Nährlösung wird der erste begrenzende Faktor sein, auf den der Replikator trifft. Bei seinem erhöhten Stoffwechselumsatz würde der Fötus ein paar Tage, bevor das System an seinen Abfällen erstickt, verhungern. Abfallprodukte könnten allerdings ziemlich bald die Filter überlasten, nachdem der Stoffwechsel der Stützgewebe begann.«

Cordelia vermied Arals Blick und schaute direkt auf Vaagen, der mit seinem einen unversehrten Auge direkt zurückblickte, mit mehr als physischem Schmerz in seinem Gesicht. »Und wann haben Sie und Henri den Replikator das letztemal gewartet?«

»Am vierzehnten.«

»Da bleiben noch weniger als sechs Tage«, flüsterte Cordelia erschrocken.

»Etwa … etwa soviel. Welcher Tag ist heute?« Vaagen blickte um sich mit einer für ihn uncharakteristischen Unsicherheit, deren Anblick Cordelias Herz weh tat.

»Die Zeitgrenze gilt nur, wenn der Replikator nicht richtig behandelt wird«, warf Aral ein. »Der Arzt in der Residenz, Kareens und Gregors Doktor — würde der nicht erkennen, daß etwas gebraucht wird?«

»Sir«, sagte Illyan, »nach den Berichten wurde der Arzt der Prinzessin am ersten Tag der Kämpfe in der Residenz getötet. Es gibt zwei sich überschneidende Berichte — ich muß das als gesichert annehmen.«

»Sie könnten Miles dort oben aus bloßer Unwissenheit sterben lassen«, erkannte Cordelia verzweifelt, »genauso wie mit Absicht.« Sogar einer ihrer eigenen geheimen Loyalisten könnte unter der heroischen Vorstellung, er würde eine Bombe entschärfen, eine Bedrohung für ihr Kind darstellen.

Vaagen drehte sich im Bett herum. Aral fing Cordelias Blick auf und machte mit seinem Kopf einen Ruck in Richtung der Tür. »Ich danke Ihnen, Hauptmann Vaagen. Sie haben uns einen außerordentlichen Dienst erwiesen. Weit über Ihre Dienstpflichten hinaus.«

»Zum Teufel mit den Dienstpflichten«, murmelte Vaagen, »höllisch verpfuscht … verdammte ignorante Schläger … Gesindel …« Sie zogen sich zurück und überließen Vaagen seiner ruhelosen Genesung.

Vorkosigan schickte Illyan zu seinen vervielfachten Aufgaben.

Cordelia blickte Aral ins Gesicht: »Was nun?«

Seine Lippen bildeten eine flache, harte Linie, sein Blick war halb abwesend, da er rechnete, dieselben Rechnungen, die auch sie durchführte, vermutete Cordelia, kompliziert durch tausend zusätzliche Faktoren, die sie sich nur vorstellen konnte. Er sagte langsam: »Es hat sich nichts geändert, wirklich. Gegenüber vorher.«

»Es hat sich geändert. Was auch immer der Unterschied ist zwischen Versteck und Gefangenschaft. Aber warum wartete Vordarian bis jetzt mit dieser Gefangennahme? Wenn er zuvor nichts von Miles’ Existenz wußte, wer hat ihm davon erzählt? Vielleicht Kareen, als sie sich entschied, mit ihm zusammenzuarbeiten?«

Auf diese Andeutung hin sah Droushnakovi aus, als würde ihr schlecht.

Aral sagte: »Vielleicht spielt Vordarian mit uns. Vielleicht hat er immer den Replikator in Reserve gehabt, bis er dringend einen neuen Hebel brauchte.«

»Unser Sohn. In Reserve«, verbesserte Cordelia. Sie blickte fest in diese nur halb-anwesenden grauen Augen, und gab mit ihrem Willen die Botschaft Sieh mich an, Aral! »Wir müssen darüber reden.« Sie zog ihn hinter sich her den Korridor hinab zum nächsten abgeschirmten Raum, einem Konferenzzimmer der Ärzte, und schaltete die Lichter ein.

Gehorsam setzte er sich an den Tisch, Kou neben sich, und wartete auf sie.

Sie setzte sich ihm gegenüber. Wir sind immer auf derselben Seite gesessen, vorher … Drou stand hinter ihr.

Aral betrachtete sie vorsichtig. »Ja, Cordelia?«

»Was geht in deinem Kopf vor?«, fragte sie. »Wo sind wir, in all dem?«

»Ich … bereue. Im nachhinein gesehen. Ich bereue, daß ich nicht früher einen Stoßtrupp geschickt habe. Die Residenz ist eine Festung, in die einzudringen gerade jetzt viel schwieriger ist als in das Militärkrankenhaus, wie gefährlich ein Stoßtruppunternehmen aufs Krankenhaus auch immer gewesen wäre. Und doch … ich konnte diese Wahl nicht ändern. Wenn die Männer in meinem eigenen Stab gebeten wurden, zu warten und zu schwitzen, dann konnte ich nicht für meinen privaten Nutzen Männer riskieren und Mittel aufwenden. Miles’ … Lage gab mir die Macht, von ihnen Loyalität trotz Vordarians Druck zu fordern. Sie wußten, daß ich von ihnen und den Ihren kein Risiko forderte, das ich nicht selbst zu teilen willens war.«

»Aber jetzt hat sich die Situation geändert«, führte Cordelia aus. »Nun teilst du nicht die gleichen Risiken. Ihre Verwandten haben alle Zeit der Welt zur Verfügung. Miles hat nur sechs Tage, minus die Zeit, die wir mit dem Argumentieren verbringen.« Sie konnte fühlen, wie diese Uhr tickte, in ihrem Kopf.

Er sagte nichts.

»Aral … in unserer ganzen Zeit hier, welchen Gefallen habe ich je von dir erbeten, von deinen offiziellen Befugnissen?«

Ein trauriges halbes Lächeln huschte über seine Lippen und verschwand. »Nichts«, flüsterte er. Sie saßen sich beide voller Spannung gegenüber, einander zugeneigt, er mit aufgestützten Ellbogen, die Hände vor dem Kinn verschränkt, sie mit ihren Händen flach auf dem Tisch, ganz beherrscht.

»Ich bitte dich jetzt.«

»Jetzt«, sagte er nach langem Zögern, »ist ein äußerst delikater Zeitpunkt, in der gesamten strategischen Lage. Wir befinden uns gerade in geheimen Verhandlungen mit zwei von Vordarians Spitzenkommandanten, ihn zu verlassen. Die Streitkräfte im Weltraum sind nahe daran, sich auf uns festzulegen. Wir sind nahe daran, es zu schaffen, Vordarian ohne eine größere Schlacht auszuschalten.«

Cordelia wurde in ihren Gedanken gerade lang genug abgelenkt, um sich zu fragen, wieviele von Vorkosigans Kommandanten gerade jetzt heimlich verhandelten, um sie zu verraten.

Die Zeit würde es zeigen. Die Zeit.

Vorkosigan fuhr fort: »Falls — falls wir diese Verhandlungen so abschließen, wie ich wünsche, dann werden wir in der Lage sein, die meisten Geiseln mit einem einzigen größeren Stoßtruppunternehmen zu befreien, aus einer Richtung, woher Vordarian es nicht erwartet.«

»Ich bitte nicht um ein großes Unternehmen.«

»Nein. Aber ich sage dir, daß ein kleines Unternehmen, vor allem wenn es scheitert, ernsthaft den Erfolg des größeren späteren beeinträchtigen könnte.«

»Könnte.«

»Könnte.« Er neigte den Kopf zur Seite, als Eingeständnis der Ungewißheit.

»Der Zeitpunkt?«

»In etwa zehn Tagen.«

»Nicht gut genug.«

»Nein. Ich werde versuchen, die Dinge zu beschleunigen. Aber du verstehst — wenn ich diese Chance verpfusche, diesen Zeitplan, dann könnten einige tausend Männer für meine Fehler mit ihrem Leben zahlen.«

Sie verstand ganz klar. »In Ordnung. Stell dir vor, wir lassen die Armeen von Barrayar für den Augenblick aus der Sache draußen. Laß mich gehen. Mit vielleicht einem Livrierten oder deren zwei und mit genauer, hundertprozentiger Geheimhaltung. Ein völlig privates Unternehmen.«

Seine Hände schlugen auf den Tisch, und er sprudelte hervor: »Nein! Gott, Cordelia!«

»Zweifelst du an meinen Fähigkeiten?«, fragte sie drohend. Ich sicherlich. Jetzt war jedoch nicht der Augenblick, dies zuzugeben. »Ist dieses ›lieber Captain‹ nur ein Kosename für ein Schätzchen, oder hast du das wirklich ernst gemeint?«

»Ich habe gesehen, wie du außergewöhnliche Dinge getan hast …«

Hast du mich also auch auf die Schnauze fallen sehen?

»… aber du bist unentbehrlich. Gott! Das würde mich wirklich endgültig um den Verstand bringen. Zu warten, nicht zu wissen …«

»Das verlangst du von mir. Zu warten, nicht zu wissen. Du verlangst das jeden Tag.«

»Du bist stärker als ich. Du bist über die Maßen stark.«

»Das ist schmeichelhaft, aber nicht überzeugend.«

Seine Gedanken umkreisten die ihren, sie konnte es in seinen messerscharfen Augen sehen. »Nein. Du darfst nicht auf eigene Faust losschlagen. Ich verbiete es, Cordelia. Kategorisch, absolut. Schlag dir das sofort aus dem Kopf. Ich kann nicht euch beide riskieren.«

»Du tust es. Hiermit.«

Er biß die Zähne zusammen und senkte seinen Kopf. Die Botschaft war angekommen und verstanden worden. Koudelka, der besorgt neben ihm saß, blickte betroffen zwischen ihnen beiden hin und her. Cordelia spürte den Druck von Drous vor Anspannung weißer Hand an der Lehne ihres Stuhls.

Vorkosigan sah aus, als würde er zwischen zwei großen Steinen zerrieben, sie hatte kein Verlangen zu sehen, wie er zu Pulver zermahlen wurde. Im nächsten Augenblick würde er ihr Wort dafür fordern, daß sie in der Basis bliebe und kein Risiko einginge.

Sie öffnete ihre Hand, die jetzt gekrümmt auf der Tischfläche lag. »Ich würde anders entscheiden. Aber niemand hat mich zur Regentin von Barrayar ernannt.«

Mit einem Seufzer verließ ihn die Spannung. »Ungenügende Vorstellungskraft.«

Ein allgemeiner Mangel unter den Barrayaranern, mein Liebster.

Als sie zu Arals Quartier zurückkam, traf Cordelia im Korridor Graf Piotr, der sich gerade von ihrer Tür abwandte. Er hatte sich sehr verändert in Vergleich zu dem erschöpften, wilden Mann, der sie auf einem Bergpfad zurückgelassen hatte. Jetzt trug er die Art unauffälliger Oberschichtkleider, die von Vor-Lords im Ruhestand und älteren kaiserlichen Ministern bevorzugt wurden: ordentliche Hosen, blitzblanke Halbstiefel, eine sorgfältig geschnittene, uniformähnliche Jacke. Hinter ihm ragte Bothari empor, wieder in seiner formellen braun-silbernen Livree. Bothari trug einen dicken Mantel zusammengefaltet über dem Arm, woraus Cordelia schloß, daß Piotr gerade von seiner diplomatischen Mission zu einigen Mitgrafen im winterlichen Norden von Vordarians besetztem Gebiet zurückgekehrt war. Vorkosigans Leute schienen jetzt gewiß in der Lage zu sein, sich außerhalb Vordarians Kerngebiet nach Belieben zu bewegen.

»Ach, Cordelia.« Piotr grüßte sie mit einem formellen, vorsichtigen Kopfnicken, er eröffnete hier nicht wieder die Feindseligkeiten. Das kam Cordelia entgegen. Sie war nicht sicher, daß noch Willenskraft für einen Kampf in ihrem kummerzerfressenen Herzen übrig war.

»Guten Tag, Sir. War deine Reise ein Erfolg?«

»In der Tat war sie das. Wo ist Aral?«

»Er ist zum Sektor Nachrichtendienst gegangen. Ich glaube, um sich mit Illyan über die neuesten Berichte aus Vorbarr Sultana zu beraten.«

»Aha? Was passiert da?«

»Hauptmann Vaagen ist hier bei uns aufgetaucht. Er wurde halb bewußtlos geschlagen, aber er hat es irgendwie von der Hauptstadt hierher geschafft — es scheint, daß Vordarian endlich bewußt wurde, daß er noch eine andere Geisel hat. Sein Kommando hat Miles’ Replikator aus dem Militärkrankenhaus geraubt und ihn in die Residenz gebracht. Ich nehme an, wir werden bald mehr von Vordarian darüber hören, aber er hat zweifellos gewartet, um uns zuerst das volle Vergnügen an Hauptmann Vaagens Geschichte zu gewähren.«

Piotr warf seinen Kopf mit einem scharfen, bitteren Lachen zurück. »Nun, das ist eine leere Drohung.«

Cordelia zwang ihre Zähne lang genug auseinander, um zu sagen: »Was meinst du damit, Sir?« Sie wußte ganz genau, was er meinte, aber sie wollte sehen, wie er an seine Grenzen stieß. Bis zum Ende, verdammt, spuck es alles aus.

Seine Lippen zuckten, halb mißbilligend, halb lächelnd. »Ich meine, Vordarian bietet unwissentlich dem Haus Vorkosigan einen Dienst an. Ich bin sicher, er ist sich dessen nicht bewußt.«

Du würdest das nicht sagen, wenn Aral hier stünde, du starrsinniger alter Mann. Hast du das so arrangiert? Gott, sie konnte ihm das nicht ins Gesicht sagen — »Hast du das so arrangiert?«, wollte Cordelia hartnäckig wissen.

Piotr warf seinen Kopf zurück. »Ich verhandle nicht mit Verrätern!«

»Er gehört deiner Partei der Alten Vor an. Deine wahre Loyalität. Du hast immer gesagt, Aral wäre viel zu progressiv.«

»Du wagst es, mich zu beschuldigen?!« Seine Empörung kippte in blanke Wut um.

Ihre eigene Wut rötete ihre Sicht. »Ich weiß, daß du Mord versucht hast, warum hast du nicht auch Verrat versucht? Ich kann nur hoffen, daß deine Unfähigkeit dich daran hindert.«

Seine Stimme keuchte vor Wut: »Das geht zu weit!«

»Nein, alter Mann. Noch nicht weit genug!«

Drou blickte völlig verschreckt drein. Botharis Gesicht war starr und ausdruckslos. Piotrs Hand zuckte, als wollte er Cordelia schlagen. Bothari beobachtete diese Hand, seine Augen funkelten dabei seltsam und bewegten sich hin und her.

»Während es der größte Gefallen ist, den Vidal Vordarian mir tun könnte, wenn er diesen Mutanten aus seinem Kanister schüttet, so würde ich ihn das kaum wissen lassen«, stieß Piotr hervor. »Es wird viel amüsanter sein zu beobachten, wie er versucht, diesen Joker auszuspielen, als sei er ein As, und sich dann wundert, was schiefgelaufen ist. Aral weiß — ich stelle mir vor, er ist höllisch erleichtert, daß Vordarian ihm diese Arbeit abnimmt. Oder hast du ihn behext, daß er irgend etwas spektakulär Dummes plant?«

»Aral unternimmt nichts.«

»Ach, der gute Junge. Ich hatte mich schon gefragt, ob du ihm sein Rückgrat auf die Dauer geraubt hast. Schließlich ist er doch Barrayaraner.«

»So scheint es«, sagte sie hölzern. Sie zitterte. Piotr war in viel besserer Verfassung.

»Das ist ein Randthema«, sagte er, ebenso viel zu sich selbst wie zu ihr, wobei er versuchte, seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. »Ich habe wichtigere Themen mit dem Lordregenten zu erörtern. Leb wohl, Mylady.« Er neigte den Kopf in einem Versuch, ironisch zu sein, und wandte sich ab.

»Einen schönen Tag noch«, knurrte sie hinter ihm her und rauschte durch die Tür in Arals Quartier.

Zwanzig Minuten lang lief sie im Zimmer hin und her, bevor sie es wagte, selbst mit Drou zu reden, die sich in einen Sessel in der Ecke verkrochen hatte, als wollte sie sich selber ganz klein machen.

»Sie glauben doch wohl nicht wirklich, daß Graf Piotr ein Verräter ist, nicht wahr, Mylady?«, fragte Droushnakovi, als Cordelias Schritte schließlich langsamer wurden.

Cordelia schüttelte den Kopf. »Nein … nein. Ich wollte ihn nur seinerseits verletzen. Dieses Land hier macht mich fertig. Hat mich fertiggemacht.«

Erschöpft sank sie in einen Sessel und lehnte ihren Kopf an die Polsterung zurück. Nach einiger Zeit des Schweigens fügte sie hinzu: »Aral hat recht. Ich habe kein Recht, ein Risiko einzugehen. Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich habe kein Recht zu scheitern. Und ich vertraue mir selber nicht mehr. Ich weiß nicht, was mit meinen Nerven passiert ist. Ich habe sie in einem fremden Land verloren.« Ich kann mich nicht erinnern. Kann mich nicht erinnern, wie ich es getan habe. Sie und Bothari waren Zwillinge, richtig genug, zwei Persönlichkeiten, die getrennt aber in gleichem Maße von einer Überdosis Barrayar zu Krüppeln gemacht worden waren.

»Mylady …« Droushnakovi zupfte an ihren Röcken und blickte in ihren Schoß. »Ich gehörte drei Jahre lang zum Sicherheitsteam der Kaiserlichen Residenz.«

»Ja …« Ihr Herz taumelte, würgte. Als Übung der Selbstdisziplin schloß Cordelia die Augen und öffnete sie nicht wieder. »Erzählen Sie mir davon, Drou.«

»Negri hat mich selbst trainiert. Weil ich Kareens Leibwächterin war, sagte er immer, ich wäre die letzte Schranke zwischen Kareen und Gregor und — und allem, was schlimm genug war, so weit zu kommen. Er zeigte mir alles in der Residenz. Er drillte mich dafür. Er zeigte mir Sachen, von denen ich nicht glaube, daß er sie anderen zeigte. Wir hatten in unseren Katastrophenübungen fünf Notfluchtwege ausgearbeitet. Zwei von ihnen waren allgemeine Sicherheitsprozeduren. Einen dritten zeigte er nur ein paar führenden Leuten wie Illyan. Die anderen beiden — ich weiß nicht, ob jemand anderer außer Negri und Kaiser Ezar überhaupt etwas von ihnen wußte. Und ich denke …« — sie befeuchtete ihre Lippen —, »ein geheimer Weg, der von irgendwo herausführt, sollte doch auch genauso ein geheimer Weg hinein sein. Meinen Sie nicht auch?«

»Ihre Gedankengänge interessieren mich außerordentlich. Wie Aral sagen würde. Fahren Sie fort.« Cordelia öffnete ihre Augen immer noch nicht.

»Es geht darum: Wenn ich irgendwie bis zur Residenz kommen könnte, dann wette ich, daß ich auch hinein könnte. Wenn Vordarian genau all die Standardsicherheitsvorkehrungen übernommen und verstärkt hat.«

»Und auch wieder herauskommen?«

»Warum nicht?«

Cordelia bemerkte, daß sie vergessen hatte zu atmen. »Für wen arbeiten Sie, Drou?«

»Oberst …«, sie setzte an zu antworten, hielt dann aber befangen inne. »Negri. Aber er ist tot. Oberstleutnant — Oberst Illyan, jetzt, nehme ich an.«

»Lassen Sie es mich anders formulieren.« Cordelia öffnete endlich ihre Augen. »Für wen haben Sie ihr Leben eingesetzt?«

»Kareen. Und Gregor natürlich. Sie waren sozusagen eins.«

»Sie sind es noch. Darauf wette ich als Mutter.« Sie begegnete dem Blick aus Drous blauen Augen. »Und Kareen hat Sie mir gegeben.«

»Sie sollten mein Mentor sein. Wir dachten, Sie seien eine Soldatin.«

»Das war ich nie. Aber das bedeutet nicht, daß ich nie gekämpft habe.« Cordelia machte eine Pause. »Worum wollen Sie handeln, Drou? Ihr Leben in meiner Hand — ich sage nicht eidgebunden, das ist für diese anderen Idioten — gegen was?«

»Kareen«, antwortete Droushnakovi standhaft. »Ich habe die Leute hier beobachtet, wie sie Kareen nach und nach als entbehrlich einstufen. Drei Jahre lang habe ich jeden Tag mein Leben für sie eingesetzt, weil ich glaubte, daß ihr Leben wichtig war. Wenn man jemanden so lang von so nahe beobachtet, dann hat man nicht mehr zu viele Illusionen über ihn oder sie. Jetzt scheinen alle zu denken, ich sollte meine Loyalität einfach umschalten, wie eine Art Wachmaschine. Da stimmt etwas nicht dabei. Ich möchte — möchte wenigstens einen Versuch zugunsten von Kareen wagen. Im Tausch dafür — was immer Sie wollen, Mylady.«

»Ah«, Cordelia rieb ihre Lippen. »Das scheint … recht und billig. Ein entbehrliches Leben für ein anderes. Kareen für Miles.« Sie versank in ihrem Sessel in tiefem Nachsinnen.

Zuerst siehst du es. Dann bist du es. »Das ist nicht genug«, Cordelia schüttelte schließlich den Kopf. »Wir brauchen … jemanden, der die Stadt kennt. Jemanden mit Muskeln, als Verstärkung. Einen Waffenexperten, ein schlafloses Auge. Ich brauche einen Freund.« Die Winkel ihres Mundes hoben sich in einem sehr subtilen Lächeln. »Der mir näher ist als ein Bruder.« Sie erhob sich und schritt zur Kommunikationskonsole.

»Sie wollten mich sprechen, Mylady?«, sagte Sergeant Bothari.

»Ja. Bitte kommen Sie herein.«

Die Quartiere höherer Offiziere schüchterten Bothari nicht ein, aber er zog seinen Augenbrauen doch zusammen, als Cordelia ihm bedeutete, er sollte sich setzen. Sie nahm ihm gegenüber an dem niederen Tisch Arals üblichen Platz ein. Drou saß wieder in der Ecke und beobachtete die beiden in zurückhaltendem Schweigen.

Cordelia blickte Bothari an, der sie seinerseits anblickte. Er schien körperlich in Ordnung zu sein, obwohl sein Gesicht von Falten der Spannung durchzogen war. Sie spürte, wie mit einem dritten Auge, frustrierte Energien, die durch seinen Körper liefen, Lichtbögen der Wut, Netze der Beherrschung, ein verwikkelter elektrischer Knoten von gefährlicher Sexualität unter all dem. Energien, die zurückstrahlten, die immer wieder ohne Entladung aufgebaut wurden, die verzweifelt eine Aktion verordnet brauchten, damit sie nicht wild auf eigene Faust ausbrachen. Sie blinzelte und stellte ihren Blick wieder auf sein weniger erschreckendes Äußeres ein: ein müde aussehender, häßlicher Mann in einer eleganten braunen Uniform.

Zu ihrer Überraschung begann Bothari: »Mylady, haben Sie etwas Neues über Elena gehört?«

Sie fragen sich wohl, warum ich Sie hierhergerufen habe? Zu ihrer Schande hatte sie Elena fast vergessen. »Nichts Neues, fürchte ich. Man berichtet, daß sie zusammen mit Frau Hysopi in jenem Hotel im Stadtzentrum gefangengehalten wird, das Vordarians Sicherheitsabteilung beschlagnahmt hat, als sie keine freien Zellen mehr hatten, sie ist dort mit einer Menge anderer Geiseln der zweiten und dritten Stufe. Sie wurde nicht in die Residenz oder sonstwo hingebracht.« Elena war nicht, anders als Kareen, ein direktes Ziel von Cordelias geheimer Mission. Wenn er darum bat, wieviel sollte sie wagen zu versprechen?

»Es tut mir leid, was man über Ihren Sohn hört, Mylady.«

»Mein Mutant, wie Piotr sagen würde.« Sie beobachtete ihn: sie konnte in seinen Schultern, seinem Rückgrat, seinem Unterleib besser lesen als in diesem ausdruckslosen vogelartigen Gesicht.

»Über Graf Piotr«, sagte er und brach dann ab. Seine Hände verhakten sich ineinander, zwischen sein Knien, und bogen sich. »Ich dachte, den Admiral deswegen anzusprechen. Ich hatte nicht daran gedacht, mit Ihnen zu sprechen. Ich hätte an Sie denken sollen.«

»Immer.« Also was nun?

»Ein Mann kam gestern auf mich zu. In der Sporthalle. Nicht in Uniform, kein Rangabzeichen, kein Namensschild. Er bot mir Elena an. Elenas Leben, falls ich Graf Piotr umbrächte.«

»Was für eine Versuchung«, Cordelia würgte, bevor sie sich Einhalt gebieten konnte. »Was für … hmm … Garantien hat er angeboten?«

»Die Frage kam mir auch, kurz darauf. Da wäre ich tief in der Scheiße, würde vielleicht hingerichtet, und wer würde sich dann um den Bankert eines toten Mannes kümmern? Ich hielt es für einen Schwindel, einfach einen weiteren Schwindel. Ich ging zurück, um nach ihm zu schauen, ich habe nach ihm Ausschau gehalten, aber ich habe ihn seitdem nicht mehr getroffen.« Er seufzte. »Jetzt erscheint es fast wie eine Halluzination.«

Der Ausdruck auf Drous Gesicht war eine Studie tiefster Verunsicherung, aber glücklicherweise war Bothari von ihr abgewandt und bemerkte es nicht. Cordelia warf ihr schnell einen beschwichtigenden Blick zu.

»Haben Sie schon öfter Halluzinationen gehabt?«, fragte sie.

»Ich glaube nicht. Nur schlimme Träume. Ich versuche, nicht zu schlafen.«

»Ich … habe ein eigenes Dilemma«, sagte Cordelia. »Sie haben ja gehört, was ich zu Piotr gesagt habe.«

»Ja, Mylady.«

»Haben Sie von dem Zeitlimit gehört?«

»Zeitlimit?«

»Wenn er nicht gewartet wird, dann wird der Replikator in weniger als sechs Tagen Miles nicht mehr versorgen. Aral argumentiert, daß Miles in keiner größeren Gefahr ist als die Familienangehörigen seiner Stabsangehörigen. Ich stimme damit nicht überein.«

»Hinter seinem Rücken habe ich einige gehört, die etwas anderes sagen.«

»So?«

»Sie sagen, es sei ein Schwindel. Der Sohn des Admirals ist eine Art Mutant, nicht lebensfähig, während sie gesunde Kinder riskieren.«

»Ich glaube nicht, daß er weiß … daß irgend jemand das sagt.«

»Wer würde es ihm ins Gesicht wiederholen?«

»Sehr wenige. Vielleicht nicht einmal Illyan.« Piotr jedoch würde vermutlich nicht versäumen, dieses Gerede weiterzugeben, wenn er es aufgeschnappt hätte. »Verdammt! Niemand auf beiden Seiten würde zögern, diesen Replikator zu entleeren.« Sie brütete vor sich hin, und begann dann erneut. »Sergeant. Für wen arbeiten Sie?«

»Ich bin ein eidgebundener Gefolgsmann von Graf Piotr«, rezitierte Bothari das Offensichtliche. Er beobachtete sie jetzt ganz genau, ein seltsames Lächeln erschien in einem Winkel seines Mundes.

»Lassen Sie es mich anders formulieren. Ich weiß, die offiziellen Strafen für einen Gefolgsmann, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt, sind schrecklich. Aber nehmen wir mal an …«

»Mylady!« Er erhob eine Hand, sie brach mitten im Satz ab. »Erinnern Sie sich, damals auf dem Rasen vor dem Haus in Vorkosigan Surleau, als wir Negris Körper in den Leichtflieger hoben, wie der Lordregent zu mir sagte, ich sollte Ihrer Stimme gehorchen wie seiner eigenen?«

Cordelias Brauen hoben sich: »Ja …?«

»Er hat diesen Befehl nie zurückgenommen.«

»Sergeant«, sagte sie schließlich nach einem tiefen Atemzug, »ich hatte in Ihnen nie einen Kasernenjuristen vermutet.«

Sein Lächeln wurde einen Millimeter deutlicher. »Ihre Stimme ist für mich wie die Stimme des Kaisers selbst. Technisch gesehen.«

»Ist sie das, jetzt«, flüsterte sie erfreut. Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen.

Er lehnte sich vor und hielt jetzt seine Hände zwischen seinen Knien still wie Steine. »Also, Mylady. Was wollten Sie gerade sagen?«

Die Bereitstellungszone der Fahrbereitschaft war ein echowerfendes niedriges Gewölbe, in dessen Schatten Licht aus einem Büro mit Glaswänden fiel. Cordelia wartete stehend in dem abgedunkelten Eingang zum Liftrohr, Drou neben sich, und beobachtete durch das ferne Rechteck aus Glas, wie Bothari mit dem Transportoffizier verhandelte. General Vorkosigans Gefolgsmann ließ sich ein Fahrzeug für seinen Herrn zur Verfügung stellen.

Die Pässe und Ausweise, die an Bothari ausgegeben worden waren, schienen ihren Dienst zu erfüllen. Der Mann von der Fahrbereitschaft steckte Botharis Karten in seinen Computer, nahm Botharis Handflächenabdruck auf seiner Sensorfläche ab und fertigte die Anforderungen im Nu ab.

Würde dieser einfache Plan funktionieren? fragte sich Cordelia verzweifelt. Und wenn er nicht funktionierte, welche Alternative hatten sie? Ihre geplante Route erschien vor ihrem geistigen Auge: Linien aus roten Lichtern schlängelten sich über eine Landkarte. Nicht nach Norden in Richtung auf ihr Ziel, sondern zuerst genau nach Süden, per Bodenwagen in den nächsten loyalen Distrikt. Dort würden sie das auffällige Regierungsfahrzeug zurücklassen, den Monorail nach Westen in einen anderen Distrikt nehmen, dann nach Nordwesten in wieder einen anderen Distrikt: dann sollte es genau nach Osten gehen in die neutrale Zone von Graf Vorinnis, den Brennpunkt von so viel diplomatischer Aufmerksamkeit beider Seiten.

Sie hatte noch Piotrs Kommentar im Ohr: »Das sage ich dir, Aral, wenn Vorinnis nicht aufhört mit seinem vorsichtigen Lavieren, dann solltest du ihn höher hängen als Vordarian, wenn das alles vorbei ist.« Dann in den Hauptstadtdistrikt selbst, und schließlich irgendwie in die abgeriegelte Stadt. Sie hatten eine beängstigende Anzahl von Kilometern zurückzulegen: dreimal die Entfernung der direkten Strecke. Soviel Zeit. Ihr Herz zeigte nach Norden wie eine Kompaßnadel.

Der erste und der letzte Distrikt würden am schlimmsten sein. Arals Streitkräfte konnten ihrem Ausflug fast noch feindlicher gegenüberstehen als die von Vordarian. In ihrem Kopf drehte sich alles, wenn sie an die sich summierende Unmöglichkeit des Ganzen dachte.

Schritt um Schritt, sagte sie sich entschlossen. Eines nach dem anderen. Jetzt erst mal von Basis Tanery wegkommen: das konnten sie schaffen.

Einfach die endlose Zukunft in Blöcke von fünf Minuten aufteilen, und die dann einen nach dem anderen hinter sich bringen.

Da, die ersten fünf Minuten waren schon um, und aus der unterirdischen Garage erschien ein schneller und glänzender Generalstabswagen. Ein kleiner Sieg, als Belohnung für ein bißchen Geduld und Wagemut. Was würden große Geduld und großer Wagemut noch bringen?

Bothari inspizierte das Fahrzeug umsichtig, als hege er Zweifel, daß es für seinen Herrn voll tauge. Der Transportoffizier wartete besorgt und schien gewaltig erleichtert, als der Gefolgsmann des großen Generals, nachdem er mit der Hand über das Verdeck gewischt und wegen eines winzigen Stäubchens die Stirn gerunzelt hatte, zustimmend knurrte. Bothari fuhr das Fahrzeug bis zum Eingang des Liftrohrs herum und parkte es so, daß der Blick vom Büro auf die einsteigenden Passagiere blokkiert war.

Drou beugte sich nieder, um ihren Ranzen aufzuheben, in den allerhand verschiedene Kleidung gepackt war (einschließlich der Sachen, die Bothari und Cordelia aus dem Gebirge mitgebracht hatten) sowie ihre spärliche Waffenausrüstung. Bothari schaltete die Polarisation am hinteren Verdeck auf Spiegelreflexion und öffnete es.

»Mylady!«, erklang Leutnant Koudelkas besorgte Stimme hinter ihnen vom Eingang des Liftrohrs her. »Was machen Sie da?«

Cordelia biß sich auf die Zähne und schluckte einige Flüche hinunter. Sie verwandelte ihren wilden Gesichtsausdruck in ein leichtes, überraschtes Lächeln und wandte sich um.

»Hallo, Kou. Was gibt’s?«

Er runzelte die Stirn, blickte auf sie, auf Droushnakovi, auf den Ranzen.

»Ich habe zuerst gefragt.« Er war außer Atem: er mußte schon einige Minuten hinter ihnen hergerannt sein, nachdem er Cordelia nicht in Arals Quartier gefunden hatte. Ein Auftrag zur falschen Zeit, Cordelia behielt ihr Lächeln bei, während sie sich vorstellte, wie jetzt gleich ein Team von Sicherheitsleuten aus dem Liftrohr herausströmte, um sie festzunehmen oder zumindest ihre Pläne zu vereiteln. »Wir fahren … in die Stadt.«

Seine Lippen verzogen sich skeptisch. »So? Weiß der Admiral davon? Und wo ist dann Illyans Begleitteam?«

»Schon vorausgefahren«, sagte Cordelia kühl.

Die vage Plausibilität ihrer Erklärung ließ tatsächlich Zweifel in seinem Blick aufflackern. Leider nur für einen Augenblick. »Nun, dann warten Sie nur eine einzige lausige Minute …«

»Leutnant«, unterbrach Sergeant Bothari. »Schauen Sie sich das mal an.« Er wies mit einer Geste auf das hintere Fahrgastabteil des Stabswagens.

Koudelka lehnte sich vor, um zu schauen. »Was ist?«, sagte er ungeduldig.

Cordelia zuckte zusammen, als Botharis offene Hand auf Koudelkas Nacken herabsauste, und sie zuckte wieder, als Koudelkas Kopf mit einem schweren Bums am anderen Ende des Innenraums aufschlug, nachdem Bothari ihn am Hals und Gürtel gepackt und hineingeworfen hatte. Sein Stockdegen fiel klappernd zu Boden.

»Hinein!«, knurrte Bothari angespannt und leise, während er schnell einen Blick zu den Glaswänden des Transportbüros warf.

Droushnakovi warf den Ranzen in den Wagen und schlüpfte hinter Koudelka hinein, wobei sie seine langen, schlaffen Gliedmaßen zur Seite schob. Cordelia hob den Stockdegen auf und zwängte sich hinter Drou in das Fahrzeug. Bothari trat zurück, salutierte, schloß das spiegelnde Verdeck und begab sich dann in das Fahrerabteil.

Sie fuhren langsam los. Cordelia mußte eine unvernünftige panische Angst zügeln, als Bothari am ersten Kontrollpunkt anhielt. Sie konnte die Wachen so deutlich sehen und hören, daß es ihr schwerfiel, sich zu vergegenwärtigen, daß die Männer nur die Spiegelung ihrer eigenen strengen Augen sehen konnten. Aber offensichtlich konnte General Piotr tatsächlich überall nach Belieben passieren. Wie angenehm, General Piotr zu sein. In diesen schwierigen Zeiten hätte vermutlich jedoch auch Piotr nicht nach Basis Tanery einfahren können, ohne daß das hintere Verdeck geöffnet und das hintere Abteil einer Sichtkontrolle unterzogen wurde. Die Wachmannschaft am letzten Tor, die ihnen freie Fahrt nach draußen zuwinkte, war gerade mit einer solchen Überprüfung an einem langen Konvoi von Frachttransportern beschäftigt, die in die Basis hineinwollten. Ihr Eintreffen war gerade das, was Cordelia geplant und worum sie gebetet hatte.

Schließlich richteten Cordelia und Droushnakovi den ausgestreckt liegenden Koudelka zwischen sich auf. Seine erste besorgniserregende Schlaffheit ließ nach. Er blinzelte und stöhnte. Koudelkas Kopf, Hals und oberer Rumpf gehörten zu den wenigen Bereichen seines Körpers, in denen keine künstlichen Nerven angelegt waren, Cordelia vertraute darauf, daß nichts Unorganisches gebrochen war.

Droushnakovis Stimme klang angespannt und besorgt: »Was machen wir mit ihm?«

»Wir können ihn nicht auf die Straße rausschmeißen, er würde zurückrennen und Meldung machen«, sagte Cordelia. »Aber wenn wir ihn irgendwo außer Sicht an einen Baum binden, dann besteht die Möglichkeit, daß er nicht gefunden wird … wir sollten ihn besser fesseln, er kommt zu sich.«

»Ich schaffe ihn schon.«

»Ich fürchte, er ist schon genug geschafft.«

Es gelang Droushnakovi, Koudelkas Hände mit einem Schal aus dem Ranzen zu umwickeln und unbeweglich zu machen, sie war ziemlich gut im Schnüren von Knoten.

»Er könnte sich als nützlich erweisen«, überlegte Cordelia.

»Er wird uns verraten«, sagte Droushnakovi mit gerunzelter Stirn.

»Vielleicht nicht. Jedenfalls nicht, sobald wir auf feindlichem Territorium sind. Sobald der einzige Ausweg der nach vorn ist.«

Koudelkas Augen hörten auf, herumzuirren und irgendwelchen unsichtbaren, verschwommenen Sternen zu folgen, und stellten sich auf die Umgebung ein. Mit Erleichterung stellte Cordelia fest, daß beide Pupillen noch gleich groß waren.

»Mylady — Cordelia«, krächzte er. Seine Hände zogen vergeblich an den seidenen Fesseln. »Das ist verrückt. Sie laufen direkt Vordarians Leuten in die Hände. Und dann wird Vordarian zwei Hebel gegen den Admiral haben statt nur einen. Und Sie und Bothari wissen, wo der Kaiser ist!«

»War«, korrigierte Cordelia. »Vor einer Woche. Er wurde seitdem woandershin gebracht, dessen bin ich mir sicher. Und Aral hat seine Fähigkeit demonstriert, Vordarians Hebelwirkung zu widerstehen, meine ich. Unterschätzen Sie ihn nicht.«

»Sergeant Bothari!« Koudelka lehnte sich nach vorn und sprach in die Sprechanlage. Das vordere Verdeck war jetzt auch ein silberner Spiegel.

»Ja, Leutnant?«, erwiderte Botharis monotoner Bass.

»Ich befehle Ihnen, mit diesem Fahrzeug umzukehren.«

Eine kurze Pause. »Ich bin nicht mehr im Dienst der Kaiserlichen Armee, Sir. Ich bin im Ruhestand.«

»Das hat Piotr nicht befohlen! Sie sind Graf Piotrs Mann.«

Eine längere Pause, eine leisere Stimme, »Nein. Ich bin Lady Vorkosigans Hund.«

»Sie haben Ihre Medikamente nicht genommen!«

Wie so etwas über eine rein akustische Verbindung übertragen werden konnte, dessen war sich Cordelia nicht sicher, aber in der Luft vor ihnen schwebte ein hündisches Grinsen.

»Machen Sie mit, Kou«, redete Cordelia auf ihn ein. »Unterstützen Sie mich. Machen Sie mit beim Glück. Machen Sie mit beim Leben. Machen Sie mit beim Adrenalinstoß.«

Droushnakovi lehnte sich mit einem scharfen Lächeln auf den Lippen herüber und flüsterte in Koudelkas anderes Ohr: »Schauen Sie die Sache so an, Koudelka: Wer sonst wird Ihnen je eine Chance für einen Einsatz im Feld geben?«

Seine Augen wanderten hin und her, zwischen links und rechts, zwischen den beiden Frauen, die ihn gefangen hatten. Der Motor des Bodenwagens jaulte auf, während sie in das einfallende Zwielicht davonschossen.

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