KAPITEL 10

Cordelia erwachte langsam, streckte sich und zog die großartige federngefüllte Seidensteppdecke zu sich. Die andere Seite des Bettes war leer — sie berührte das eingedrückte Kissen —, kalt und leer. Aral mußte zeitig auf den Zehenspitzen hinausgeschlichen sein. Sie schwelgte in dem Gefühl, endlich genügend Schlaf zu haben und nicht mehr zu jener lähmenden Erschöpfung zu erwachen, die ihren Geist und ihren Leib so lang gefangengehalten hatte. Das war jetzt schon die dritte Nacht hintereinander, die sie gut geschlafen hatte, gewärmt vom Körper ihres Mannes, und beide glücklicherweise befreit von den irritierenden Sauerstoffleitungen in ihren Gesichtern.

Ihr Eckzimmer im ersten Stock der alten, umgewandelten Steinkaserne war an diesem Morgen kühl und ganz still. Das Vorderfenster ging auf den hellen grünen Rasen hinaus, der in dem Nebel verschwand, in den der See und das Dorf und die Hügel des jenseitigen Ufers gehüllt waren. Der feuchte Morgen vermittelte ihr ein Gefühl von Behaglichkeit, er stand in rechtem Kontrast zu der Federsteppdecke. Wenn sie sich aufsetzte, dann verursachte die neue blaßrote Narbe auf ihrem Unterleib nur ein leichtes Stechen.

Droushnakovis Kopf erschien im Türrahmen. »Mylady?«, rief sie sanft, dann sah sie, wie Cordelia sich aufsetzte und ihre bloßen Füße über den Rand des Bettes hängen ließ. Cordelia schwang versuchsweise ihre Füße vorwärts und rückwärts, um so den Kreislauf anzuregen. »Oh, gut, daß Sie wach sind.« Drou stieß mit der Schulter die Tür auf und brachte ein großes und vielversprechendes Tablett herein. Sie trug eines ihrer bequemeren Kleider mit einem weiten, schwingenden Rock und einer warm gefütterten bestickten Weste. Ihre Schritte klangen auf den breiten hölzernen Bodenbrettern und wurden dann von dem handgewebten Bettvorleger gedämpft, als sie das Zimmer durchquerte.

»Ich bin hungrig«, sagte Cordelia verwundert, als die von dem Tablett aufsteigenden Düfte ihre Nase reizten, »Ich glaube, das ist das erste Mal in drei Wochen.« Drei Wochen, seit jener Nacht der Schrecken in Palais Vorkosigan.

Drou lächelte und setzte das Tablett auf dem Tisch am Vorderfenster ab.

Cordelia zog Bademantel und Hausschuhe über und steuerte auf die Kaffeekanne zu. Drou blieb in ihrer Nähe, sichtlich bereit, sie aufzufangen, falls sie hinfallen sollte, aber Cordelia fühlte sich heute nicht annähernd so wackelig. Sie setzte sich und langte nach der dampfenden Hafergrütze mit Butter und einem Krug mit heißem Sirup, den die Barrayaraner aus eingekochtem Baumsaft herstellten. Eine wundervolle Nahrung.

»Haben Sie schon gegessen, Drou? Wollen Sie etwas Kaffee? Wie spät ist es?«

Die Leibwächterin schüttelte den blonden Kopf. »Ich habe schon gegessen, Mylady. Es ist ungefähr elf.«

Droushnakovi hatte die letzten paar Tage hier in Vorkosigan Surleau zum selbstverständlichen Hintergrund gehört. Cordelia wurde sich bewußt, daß sie jetzt das Mädchen fast zum erstenmal wirklich anschaute, seit sie das Militärhospital verlassen hatte. Drou war aufmerksam und wachsam wie immer, aber mit einer zugrunde liegenden Spannung, als sei sie verstohlen auf der Hut vor etwas Schlimmem — vielleicht lag es nur daran, daß Cordelia sich selbst besser fühlte, aber sie hatte das selbstsüchtige Verlangen, daß die Leute um sie herum sich auch besser fühlten, und wenn auch nur deshalb, damit sie sie nicht wieder hinunterzogen.

»Ich fühle mich heute schon viel weniger träge. Ich habe gestern mit Hauptmann Vaagen per Vid gesprochen. Er meint, er hat schon die ersten Anzeichen für molekulare Rekalzifizierung beim kleinen Piotr Miles gesehen. Das ist sehr ermutigend, wenn man weiß, wie man Vaagen zu interpretieren hat. Er macht einem keine falschen Hoffnungen, aber auf das wenige, was er sagt, kann man sich verlassen.«

Drou schaute von ihrem Schoß auf und setzte als Antwort ein Lächeln in ihr bedrücktes Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. »Uterusreplikatoren erscheinen mir so seltsam. So fremdartig.«

»Nicht so seltsam wie das, was die Evolution uns auferlegt hat, improvisiert aus der Erfahrung.« Cordelia grinste zurück. »Gott sei Dank für Technologie und rationale Planung. Ich weiß jetzt, wovon ich spreche.«

»Mylady … wie haben Sie zuerst erfahren, daß Sie schwanger waren? Blieb die Regel aus?«

»Die Menstruation? Nein, eigentlich nicht.« Sie versetzte sich in Gedanken in den vergangenen Sommer. Hier in diesem Zimmer, tatsächlich in diesem ungemachten Bett. Sie und Aral würden hier bald wieder Intimitäten austauschen können, allerdings mit einem gewissen Verlust an Pikantheit ohne Fortpflanzung als einem Ziel. »Aral und ich glaubten im Sommer, wir hätten es uns hier schön eingerichtet. Er hatte sich vom Dienst zurückgezogen, ich war aus meinem Dienst ausgeschieden … es gab keine Hindernisse mehr. Ich war schon nahe daran, zu alt zu sein für die organische Methode, die hier auf Barrayar die einzige verfügbare zu sein schien, oder genauer, er wollte bald beginnen. Als wir also ein paar Wochen verheiratet waren, ließ ich mein empfängnisverhütendes Implantat entfernen. Ich kam mir dabei ganz schön verrucht vor, denn bei mir zu Hause hätte ich es nicht herausnehmen lassen können, ohne zuvor eine Lizenz zu erwerben.«

»Wirklich?« Drou lauschte fasziniert mit offenem Mund.

»Ja, so verlangen es die betanischen Gesetze. Man muß sich zuerst für eine Elternlizenz qualifizieren. Ich hatte mein Implantat, seit ich vierzehn war. Ich hatte damals eine Menstruation, wie ich mich erinnere. Wir schalten sie ab, bis sie gebraucht wird. Ich bekam mein Implantat, mein Hymen wurde aufgeschnitten und meine Ohrläppchen durchlöchert, und ich feierte meine Debütantinnenparty …«

»Sie haben doch nicht … mit Sex angefangen, als Sie vierzehn waren, oder?« Droushnakovis Stimme klang sehr leise.

»Ich hätte können. Aber dazu braucht es zwei, nicht wahr. Ich fand erst später einen richtigen Liebhaber.« Cordelia schämte sich, einzugestehen, wieviel später. Sie war damals gesellschaftlich so ungeschickt gewesen …

Und du hast dich nicht viel geändert, gestand sie sich sarkastisch ein.

»Ich dachte nicht, daß es so schnell gehen würde«, fuhr Cordelia fort. »Ich dachte, wir brauchten dafür einige Monate ernster und vergnüglicher Versuche. Aber wir bekamen das Baby beim ersten Versuch. So habe ich hier auf Barrayar noch keine Menstruation gehabt.«

»Beim ersten Versuch«, wiederholte Drou. Sie biß sich bestürzt auf die Lippe. »Wie wußten Sie, daß Sie es … bekamen? An der Übelkeit?«

»Müdigkeit, noch vor der Übelkeit. Aber es waren die kleinen blauen Flecken …« Ihre Stimme stockte, als sie die verzerrten Züge des Mädchens betrachtete. »Drou, sind all diese Fragen theoretischer Natur, oder haben Sie ein eher persönliches Interesse an den Antworten?«

Drous Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. »Persönliches Interesse«, stieß sie hervor.

»Ach so.« Cordelia lehnte sich zurück. »Wollen Sie … darüber sprechen?«

»Nein … ich weiß nicht …«

»Ich nehme an, das heißt ja«, seufzte Cordelia. Ach ja. Das war genau wie Mama Captain zu spielen für sechzig betanische Wissenschaftler, damals, bei den Erkundungsflügen, nur daß Ungewißheit über Schwangerschaft vielleicht das einzige zwischenmenschliche Problem war, das sie ihr nie in den Schoß gelegt hatten. Aber angesichts der wirklichen dummen Geschichten, mit der jene vernunftorientierte und ausgewählte Gruppe sie von Zeit zu Zeit behelligt hatte, wäre diese barbarische barrayaranische Version wohl nur … »Wissen Sie, ich freue mich, Ihnen auf jede Weise zu helfen, die ich kann.«

»Es war in der Nacht des Soltoxin-Attentats«, schniefte Drou. »Ich konnte nicht schlafen. Ich ging hinunter in die Küche des Speisesaals, um mir etwas zu essen zu holen. Auf dem Weg zurück nach oben bemerkte ich ein Licht in der Bibliothek. Leutnant Koudelka war da drinnen. Er konnte auch nicht schlafen.«

Kou, sieh an. Ach, gut, gut. Es ist vielleicht endlich alles in Ordnung.

Cordelia lächelte in aufrichtiger Ermunterung. »Ja?«

»Wir … ich … er … küßte mich.«

»Ich hoffe, Sie küßten zurück?«

»Es klingt, als wären Sie einverstanden.«

»Bin ich auch. Ihr gehört zu denen, die ich am liebsten habe, Sie und Kou. Wenn ihr nur eure Köpfe beisammen hättet … aber fahren Sie fort, da muß noch mehr kommen.« Es sei denn, Drou war noch unwissender, als Cordelia es für möglich hielt.

»Wir … wir … wir …«

»Haben gevögelt?«, schlug Cordelia hoffnungsvoll vor.

»Ja, Mylady.« Drou wurde knallrot und schluckte. »Kou schien so glücklich zu sein … ein paar Minuten lang. Und ich war so glücklich über ihn, so aufgeregt. Es machte mir nichts aus, wie weh es tat.«

Ach ja, die barbarische barrayaranische Sitte, ihre Frauen in den Sex einzuführen mit dem Schmerz einer Defloration ohne Betäubung.

Allerdings, wenn man in Betracht zog, wieviel mehr an Schmerz ihre Fortpflanzungsmethode später im Gefolge hatte, dann stellte dies vielleicht eine faire Warnung dar. Aber Kou war bei den wenigen Malen, wo sie ihn gesehen hatte, auch nicht so glücklich erschienen, wie ein frischgebackener Liebhaber eigentlich sein sollte. Was taten diese beiden einander an? »Fahren Sie fort.«

»Ich dachte, ich sah eine Bewegung im Hintergarten, aus der Tür von der Bibliothek heraus. Dann kam der Krach im Obergeschoß — o Mylady! Es tut mir so leid! Wenn ich Sie bewacht hätte, anstatt das zu tun …«

»Halt, Mädchen! Sie hatten dienstfrei. Wenn Sie nicht das getan hätten, dann wären Sie schlafend im Bett gelegen. Auf keinen Fall ist das Soltoxin-Attentat Ihre Schuld oder die von Kou. Tatsache ist, wenn Sie nicht aufgewesen und mehr oder weniger angezogen gewesen wären, dann wäre der Attentäter vielleicht entkommen.« Und wir würden nicht einer weiteren öffentlichen Enthauptung oder was auch immer entgegensehen, möge Gott uns helfen. Ein Teil von Cordelia wünschte, die beiden wären für Sekunden weg gewesen und hätten nie aus dem verdammten Fenster geschaut. Aber Droushnakovi mußte sich gerade jetzt mit genügend Konsequenzen auseinandersetzen ohne diese tödlichen Verwicklungen.

»Aber wenn doch nur …«

»Mit ›wenn doch nur‹ war die Luft hier diese letzten Wochen übervoll. Ich denke, es ist Zeit, wenn wir jetzt statt dessen sagen: Jetzt machen wir weiter, offen gesagt.« Cordelias Denken holte sie selbst endlich wieder ein. Drou war eine Barrayaranerin, deshalb hatte sie kein empfängnisverhütendes Implantat. Es klang auch nicht danach, als hätte dieser Idiot Koudelka eine Alternative angeboten. Drou hatte deshalb die letzten drei Wochen damit zugebracht, sich zu fragen … »Würden Sie ein paar von meinen kleinen blauen Flecken versuchen wollen? Ich habe noch jede Menge davon übrig.«

»Blaue Flecken?«

»Ja, ich hatte angefangen, Ihnen davon zu erzählen. Ich habe ein Päckchen von diesen kleinen Diagnosestreifen. Hatte sie in Vorbarr Sultana im letzten Sommer in einem Importladen gekauft. Sie pinkeln auf so einen Streifen, und wenn der Fleck blau wird, dann sind Sie dran. Ich habe nur drei davon verbraucht, im Sommer.« Cordelia ging zu ihrer Kommodenschublade und durchwühlte sie nach dem überholten Vorrat.

»Hier.« Sie reichte Drou einen Streifen. »Gehen Sie und erleichtern Sie sich. Und Ihre Gedanken.«

»Funktioniert das so bald schon?«

»Nach fünf Tagen.« Cordelia hielt ihre Hand hoch: »Ich verspreche es.«

Beunruhigt auf den kleinen Papierstreifen starrend verschwand Droushnakovi in Cordelias und Arals Bad, neben dem Schlafzimmer. Sie kam nach ein paar Minuten wieder. Ihr Gesicht war niedergeschlagen, und sie ließ die Schultern hängen.

Was bedeutet das? fragte sich Cordelia wütend. »Also?«

»Der Streifen blieb weiß.«

»Dann sind Sie nicht schwanger.«

»Ich glaub nicht.«

»Ich weiß nicht, ob Sie sich freuen oder ob es Ihnen leid tut. Glauben Sie mir, wenn Sie ein Baby bekommen wollen, dann sollten Sie besser noch ein paar Jahre warten, bis man hier mehr medizinische Technologie zur Verfügung hat.« Obwohl die organische Methode eine Zeitlang faszinierend war …

»Ich will nicht … ich will … ich weiß nicht … Kou hat kaum mit mir gesprochen seit jener Nacht. Ich wollte nicht schwanger sein, das würde mich zerstören, und doch dachte ich, er würde … würde … vielleicht so aufgeregt und glücklich darüber sein wie er über den Sex war. Vielleicht würde er zurückkommen und — oh, es ging alles so gut, und jetzt ist alles verdorben.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, ihr Gesicht war weiß und ihre Zähne knirschten.

Weine, Mädchen, dann kann ich atmen. Aber Droushnakovi gewann ihre Selbstbeherrschung zurück. »Es tut mir leid, Mylady. Ich hatte nicht vor, Ihnen all diese Dummheiten zu erzählen.«

Dummheiten, ja, aber nicht Dummheiten nur einer Seite. Etwas so Verkorkstes erforderte ein ganzes Komitee. »Was ist also mit Kou los? Ich dachte, er litte nur an Soltoxin-Schuld, wie jeder andere im Haushalt.« Mit Aral und mir angefangen.

»Ich weiß es nicht, Mylady.«

»Haben Sie schon einmal etwas wirklich Radikales versucht, wie zum Beispiel ihn zu fragen?«

»Er versteckt sich, wenn er mich kommen sieht.«

Cordelia seufzte und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Ankleiden zu. Heute waren wirkliche Kleider dran, keine Patienten-Morgenmäntel, In Arals Wandschrank hingen hinten ihre gelbbraunen Hosen von ihrer alten Erkundungsteam-Uniform. Neugierig probierte sie sie an. Sie ließen sich nicht nur zuknöpfen, sie waren sogar locker. Sie war wirklich krank gewesen. Ziemlich aggressiv ließ sie die Hosen an und suchte sich dazu eine geblümte Kittelbluse mit langen Ärmeln aus. Sehr bequem. Sie lächelte ihrem schlanken, wenn auch bleichen Profil im Spiegel zu.

»Ah, lieber Captain«, Aral streckte seinen Kopf durch die Schlafzimmertür, »du bist auf.« Er blickte auf Droushnakovi. »Ihr seid beide hier. Noch besser. Ich glaube, ich brauche deine Hilfe, Cordelia. Tatsächlich, ich bin mir sicher.« Arals Augen leuchteten mit dem eigenartigsten Ausdruck. Staunen, Verwirrung, Sorge? Er betrat den Raum.

Er trug seine übliche Kleidung für dienstfreie Zeit in Vorkosigan Surleau, alte Uniformhosen und ein ziviles Hemd. Hinter ihm kam Koudelka, angespannt und unglücklich, in einer frischen schwarzen Arbeitsuniform mit den roten Leutnantsabzeichen am Kragen. Er umklammerte seinen Stockdegen. Drou trat mit dem Rücken zur Wand und verschränkte die Arme.

»Leutnant Koudelka — so sagte er mir — will ein Geständnis ablegen. Er hofft auch, habe ich den Verdacht, auf Absolution«, sagte Aral.

»Ich verdiene das nicht, Sir«, murmelte Koudelka. »Aber ich hielt es nicht mehr aus. Das muß heraus.« Er starrte auf den Boden und vermied die Blicke der anderen. Droushnakovi beobachtete ihn atemlos. Aral trat sachte zu Cordelia und setzte sich neben sie auf den Bettrand.

»Mach dich auf etwas gefaßt«, murmelte er ihr aus dem Mundwinkel zu. »Das hat mich überrascht.«

»Ich glaube, ich bin dir vielleicht ein bißchen voraus.«

»Das wäre nicht das erste Mal.« Er hob seine Stimme: »Los, Leutnant. Das wird nicht leichter, wenn Sie es in die Länge ziehen.«

»Drou — Fräulein Droushnakovi — ich bin gekommen, um mich zu stellen. Und um Verzeihung zu bitten. Nein, das klingt trivial, und glauben Sie mir, ich halte es nicht für trivial. Sie verdienen mehr als nur eine Entschuldigung, ich schulde Ihnen Sühne. Was immer Sie wollen. Aber es tut mir leid, so leid, daß ich Sie vergewaltigt habe.«

Droushnakovis Mund blieb volle drei Sekunden offenstehen, dann klappte sie ihn so fest zu, daß Cordelia hören konnte, wie ihre Zähne klickten.

»Was?!«

Koudelka zuckte zusammen, blickte aber nicht auf. »Tut mir leid … tut mir leid«, murmelte er.

»Du! — Denkst! — Du! — Hast! — Was!?«, keuchte Droushnakovi entsetzt und empört. »Du denkst, du könntest — oh!« Sie stand nun starr, mit geballten Fäusten und schnell atmend. »Kou, du Esel! Du Idiot! Du Trottel! Du … du … du …«, sprudelte sie heraus. Sie zitterte am ganzen Körper.

Cordelia beobachtete sie voller Faszination. Aral rieb nachdenklich seine Lippen.

Droushnakovi ging hinüber zu Koudelka und schlug ihm den Stockdegen aus der Hand. Kou fiel fast zu Boden, mit einem überraschten »Hah?«, und griff nach dem Stock, doch er verfehlte ihn, und die Waffe klapperte den Boden entlang.

Drou knallte Koudelka geschickt gegen die Wand und lähmte ihn mit einem Nervenstoß, indem sie ihm ihre Finger in den Solarplexus preßte. Sein Atem blieb stehen.

»Du Flasche. Du meinst, du könntest ohne meine Erlaubnis Hand an mich legen? Oh! Was bist du doch für ein … für ein … ein …« Ihre Worte der Verblüffung gingen in einen Schrei der Empörung über, direkt neben seinem Ohr. Koudelka zuckte zusammen.

»Bitte beschädigen Sie nicht meinen Sekretär, Drou, die Reparaturen sind teuer«, sagte Aral sanft.

»Oh!« Sie drehte sich rasch um und gab Koudelka frei. Er taumelte und fiel auf die Knie. Mit den Händen vor dem Gesicht stürmte Droushnakovi aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Erst jetzt begann sie zu schluchzen, laut und vernehmlich, als sie den Korridor entlangging. Eine andere Tür wurde zugeschlagen. Dann herrschte Schweigen.

»Tut mir leid, Kou«, sagte Aral in die lang anhaltende Stille, »aber es sieht nicht so aus, als hielte Ihre Selbstanklage vor Gericht stand.«

»Ich versteh das nicht!« Kou schüttelte den Kopf, dann krabbelte er zu seinem Stockdegen und kam sehr wackelig auf die Beine.

»Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie beide über das sprechen, was sich zwischen Ihnen in der Nacht des SoltoxinAttentats ereignet hat?«, fragte Cordelia.

»Ja, Mylady. Ich saß noch in der Bibliothek. Konnte nicht schlafen und dachte, ich müßte noch einmal ein paar Zahlen durchgehen. Sie kam herein. Wir saßen, unterhielten uns … Plötzlich merkte ich, daß ich … na ja, es war das erstemal, daß ich funktionierte, seit ich von dem Nervendisruptor getroffen worden war. Ich dachte, es könnte wieder ein Jahr dauern, bis … oder nie wieder … — ich geriet in Panik, ich geriet einfach in Panik. Ich … ah … ich nahm sie … auf der Stelle. Fragte sie nicht, sagte kein einziges Wort. Und dann kam der Knall von oben, und wir beide rannten in den Hintergarten hinaus und … sie klagte mich nicht an, am nächsten Tag. Ich wartete und wartete.«

»Aber wenn er sie nicht vergewaltigt hat, warum ist sie dann eben so wütend geworden?«, fragte Aral.

»Aber sie war böse auf mich«, sagte Koudelka. »Wie sie mich in diesen letzten drei Wochen angeschaut hat …«

»Die Blicke waren Angst, Kou«, erklärte Cordelia ihm.

»Ja, das dachte ich auch.«

»Weil sie Angst hatte, daß sie schwanger war, nicht weil sie etwa Angst vor Ihnen hatte«, stellte Cordelia klar.

»Oh.« Koudelkas Stimme wurde schwach.

»Sie ist es nicht, wie sich ergeben hat.« (Koudelka wiederholte sich mit einem weiteren schwachen »Oh«.) »Aber sie ist jetzt böse auf Sie, und ich kann es ihr nicht verübeln.«

»Aber wenn sie nicht meint, daß ich — welchen Grund hat sie?«

»Sie begreifen es nicht?« Sie blickte mit gerunzelter Stirn zu Aral. »Du auch nicht?«

»Nun ja …«

»Weil Sie sie gerade beleidigt haben, Kou. Nicht damals, sondern gerade eben, in diesem Zimmer. Und nicht nur dadurch, daß Sie ihre Tüchtigkeit im Zweikampf geringschätzig behandelt haben. Was Sie eben gesagt haben, hat ihr zum erstenmal enthüllt, daß Sie in jener Nacht so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, daß Sie sie gar nicht wahrgenommen haben. Schlimm, Kou. Sehr schlimm. Sie müssen sie ganz tief um Verzeihung bitten. Hier war sie und gab sich als Barrayaranerin Ihnen ganz, und Sie schätzten das, was sie tat, so gering ein, daß Sie es gar nicht wahrnahmen.«

Sein Kopf hob sich mit einem Ruck. »Gab mir? Wie ein Almosen?«

»Mehr wie ein Geschenk der Götter«, murmelte Aral, der sich seine eigenen Gedanken machte.

»Ich bin doch kein …« Koudelkas Kopf dreht sich in Richtung auf die Tür. »Meinen Sie, daß ich hinter ihr herrennen soll?«

»Kriechen, sogar, wenn ich Sie wäre«, empfahl Aral. »Kriechen Sie schnell. Schlüpfen Sie unter ihrer Tür durch und ergeben Sie sich. Lassen Sie sie auf Ihnen herumtrampeln, bis ihr Zorn ganz und gar verraucht ist. Dann bitten Sie erneut um Verzeihung. Sie können die Situation noch retten.« Arals Augen leuchteten jetzt mit offensichtlichem Vergnügen.

»Wie nennen Sie das? Totale Kapitulation?«, sagte Koudelka ungehalten.

»Nein. Ich nenne es gewinnen.« Arals Stimme wurde eine Nuance kühler.

»Ich habe gesehen, wie der Krieg zwischen Mann und Frau zu Heldentaten der verbrannten Erde herabsinken kann. Scheiterhaufen des Stolzes. Sie wollen nicht diesen Weg gehen, das garantiere ich.«

»Sie sind — Mylady! Sie lachen über mich! Hören Sie auf!«

»Dann hören Sie damit auf, sich lächerlich zu machen«, sagte Cordelia scharf. »Setzen Sie sich Ihren Kopf dorthin, wo er hingehört. Denken Sie mal sechzig aufeinanderfolgende Sekunden an jemand anderen als sich selbst.«

»Mylady. Mylord.« Seine Zähne waren jetzt in erstarrter Würde zusammengebissen. Er verabschiedete sich geschlagen.

Aber im Korridor ging er in die falsche Richtung, nicht dorthin, wohin Droushnakovi geflohen war, sondern entgegengesetzt, und dann tappte er die Treppe hinab.

Aral schüttelte hilflos den Kopf, während Koudelkas Schritte draußen verklangen. Er zischte leise.

Cordelia knuffte ihn sanft in den Arm. »Hör damit auf! Für die beiden ist es nicht spaßig.« Ihre Blicke trafen sich: sie kicherte, dann hielt sie ihren Atem an: »Gütiger Himmel, ich glaube, er wollte ein Vergewaltiger sein. Seltsamer Ehrgeiz. War er zuviel mit Bothari zusammen?«

Dieser etwas makabre Witz ernüchterte sie beide. Aral sah nachdenklich aus: »Ich glaube … Kou schmeichelte seinen Selbstzweifeln. Aber seine Reue war aufrichtig.«

»Aufrichtig, aber ein bißchen selbstgefällig. Ich denke, wir haben vielleicht seine Selbstzweifel lang genug gehätschelt. Vielleicht ist es Zeit, ihn mal in den Hintern zu treten.«

Arals Schultern fielen müde zusammen. »Er steht in ihrer Schuld, ohne Zweifel. Aber was soll ich ihm denn befehlen? Es ist wertlos, wenn er es nicht freiwillig tut.«

Cordelia brummte zustimmend.

Erst beim Mittagessen bemerkte Cordelia, daß in ihrer kleinen Welt etwas fehlte.

»Wo ist der Graf?«, fragte sie Aral, als sie sahen, daß Piotrs Haushälterin den Tisch nur für zwei gedeckte hatte, in einem Eßzimmer an der Wasserseite, von wo aus man eine Aussicht auf den See hatte. An diesem Tag war es nicht richtig warm geworden. Der Morgennebel war nur aufgestiegen, um zu niedrig dahintreibenden grauen Wolkenfetzen zu werden, es war windig und kühl. Cordelia hatte eine alte schwarze Arbeitsjacke von Aral über ihre geblümte Bluse angezogen.

»Ich dachte, er sei in die Ställe gegangen. Um mit seinem neuen Dressurkandidaten zu trainieren«, sagte Aral, der ebenfalls mit Unbehagen auf den Tisch blickte. »Jedenfalls hat er zu mir gesagt, daß er das tun wollte.«

Die Haushälterin, die die Suppe auftrug, mischte sich ein: »Nein, Mylord. Er ist früh mit dem Bodenwagen weggefahren, zusammen mit zwei von seinen Männern.«

»Oh. Entschuldige mich.« Aral nickte Cordelia zu und stand auf. Einer der Lagerräume auf der Rückseite des Hauses, der in den Hügel gebaut war, war in ein gesichertes Kommunikationszentrum umgewandelt worden, mit einer doppelt geschützten Kommunikationskonsole und einem Wächter vom Sicherheitsdienst vor der Tür rund um die Uhr. Die Echos von Arals Schritten im Korridor zeigten an, daß er in diese Richtung ging.

Cordelia nahm einen Schluck Suppe, der wie flüssiges Blei die Kehle hinabrann, dann legte sie den Löffel beiseite und wartete. Sie konnte in dem stillen Haus Arals Stimme hören und die elektronisch verzerrten Antworten in der Sprechweise eines Fremden, aber beides war zu gedämpft, als daß sie die Worte hätte verstehen können. Nach einer kleinen Ewigkeit, so schien es ihr (allerdings war tatsächlich die Suppe noch heiß), kam Aral zurück, mit düsterem Gesicht.

»Ist er dorthin gefahren?«, fragte Cordelia. »Ins Militärkrankenhaus?«

»Ja. Er war dort und ist wieder gegangen. Es ist alles in Ordnung.« Sein schweres Kinn nahm einen harten Zug an.

»Bedeutet das, mit dem Baby ist alles in Ordnung?«

»Ja. Man verweigerte ihm den Zutritt, er hat sich eine Weile mit den Wachen gestritten, dann ist er gegangen. Nichts Schlimmeres.« Er begann niedergeschlagen seine Suppe auszulöffeln.

Der Graf kehrte einige Stunden später zurück. Cordelia hörte, wie das Summen seines Bodenwagens die Zufahrt heraufkam, um das Nordende des Hauses bog und dann innehielt, wie ein Verdeck geöffnet und geschlossen wurde, und wie der Wagen dann zu den Garagen weiterfuhr, die auf der anderen Seite des Hügels neben den Ställen lagen. Sie saß mit Aral in dem Vorderzimmer mit den neuen großen Fenstern. Er war in einen Regierungsbericht auf seinem Handprojektor vertieft gewesen, aber als draußen das Verdeck zugeschlagen wurde, stellte er das Gerät auf ›Pause‹ und wartete mit Cordelia und lauschte auf die schweren Schritte, die schnell ums Haus herumgingen und über die Vordertreppe kamen.

Arals Mund war gespannt in unangenehmen Vorahnungen, sein Blick war zornig. Cordelia verkroch sich in ihrem Sessel und wappnete ihre Nerven.

Graf Piotr kam in ihr Zimmer gefegt und pflanzte sich vor ihnen auf. Er war formell gekleidet, in seiner alten Uniform mit seinen Generalsabzeichen. »Hier seid ihr also.« Der Livrierte, der ihm gefolgt war, blickte unsicher auf Aral und Cordelia und zog sich dann zurück, ohne darauf zu warten, daß er entlassen wurde. Graf Piotr bemerkte gar nicht, daß der Mann wegging.

Piotr konzentrierte sich zuerst auf Aral. »Du! Du hast es gewagt, mich in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Mich in eine Falle laufen lassen.«

»Ich fürchte, du hast dich selbst bloßgestellt, Sir. Wenn du nicht diesem Pfad gefolgt wärest, dann wärst du nicht auf diese Falle gestoßen.«

Mit zusammengebissenen Zähnen nahm Piotr diese Erwiderung auf. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Wut, Verlegenheit im Kampf mit Selbstgerechtigkeit. In Verlegenheit gebracht, wie es nur jemand sein kann, der unrecht hat. Er zweifelt an sich selbst, erkannte Cordelia. Ein Hoffnungsfaden. Daß wir nur diesen Faden nicht verlieren, er ist vielleicht unser einziger Ausweg aus diesem Labyrinth.

Die Selbstgerechtigkeit gewann das Obergewicht. »Ich hätte das nicht tun sollen«, knurrte Piotr. »Das ist eine Aufgabe der Frauen. Unser Gen-Erbe zu schützen.«

»War eine Aufgabe der Frauen, in der Zeit der Isolation«, sagte Aral ruhig, »als die einzige Antwort auf Mutationen die Kindstötung war. Jetzt gibt es andere Antworten.«

»Wie seltsam müssen die Gefühle der Frauen über ihre Schwangerschaften gewesen sein, wenn sie nie wußten, ob an deren Ende Leben oder Tod stand«, überlegte Cordelia laut. Einen Schluck von diesem Kelch war alles, was sie für ein ganzes Leben wünschte, und doch hatten die Frauen von Barrayar ihn immer wieder und wieder bis zur Neige geleert … Das Erstaunliche war nicht, daß die Kultur ihrer Nachkommen chaotisch war, sondern, daß sie nicht ganz und gar wahnsinnig war.

»Du läßt uns alle im Stich, wenn du es nicht fertig bringst, sie zu zügeln«, sagte Piotr. »Wie stellst du dir vor, einen ganzen Planeten leiten zu können, wenn du nicht mal deinen eigenen Haushalt leiten kannst?«

Ein Winkel von Arals Mund krümmte sich leicht nach oben. »In der Tat, sie ist schwer zu zügeln. Sie ist mir zweimal entkommen. Ihre freiwillige Rückkehr erstaunt mich immer noch.«

»Werde dir deiner Pflichten bewußt! Deiner Pflichten mir gegenüber, als deinem Grafen, wenn schon nicht als deinem Vater. Du hast mir den Lehnseid geschworen. Willst du dieser Frau aus einer anderen Welt eher gehorchen als mir?«

»Ja.« Aral blickte ihm geradewegs in die Augen. Seine Stimme ging in ein Flüstern über. »Das ist die rechte Ordnung der Dinge.« Piotr zuckte zusammen. Aral fügte trocken hinzu: »Der Versuch, das Thema von der Kindstötung auf den Gehorsam zu wechseln, wird dir nicht helfen, Sir. Du hast mir selbst beigebracht, wie man Scheinargumente zerpflückt.«

»In den alten Tagen hättest du schon für eine geringere Unverschämtheit enthauptet werden können.«

»Ja, die gegenwärtige Situation ist schon ein bißchen eigenartig. Da ich dein Erbe bin, sind meine Hände zwischen den deinen, aber da ich dein Regent bin, sind deine Hände zwischen den meinen. Ein Patt der Gefolgschaftseide. In den alten Tagen hätten wir die Pattsituation mit einem hübschen kleinen Krieg aufbrechen können.« Aral grinste seinen Vater an, oder zumindest zeigte er seine Zähne. In Cordelias Gedanken wirbelte die Vorstellung: Nur einen Tag: Die Unwiderstehliche Macht trifft auf das Unbewegliche Objekt. Eintritt: fünf Mark.

Die Tür zum Korridor wurde aufgerissen und Leutnant Koudelka blickte nervös herein. »Sir? Tut mir leid, daß ich störe. Ich habe Schwierigkeiten mit der Kommunikationskonsole. Sie funktioniert wieder nicht.«

»Welche Art von Schwierigkeiten, Leutnant?«, fragte Vorkosigan und zwang sich dabei, seine Aufmerksamkeit dieser Sache zu widmen. »Gibt es Unterbrechungen?«

»Sie funktioniert einfach nicht.«

»Vor ein paar Stunden war sie noch in Ordnung. Überprüfen Sie die Stromzuführung.«

»Hab ich schon getan, Sir.«

»Rufen Sie einen Techniker.«

»Das kann ich ja nicht, ohne die Konsole.«

»Ach so, ja. Lassen Sie den Wachkommandanten die Konsole öffnen und schauen Sie dann, ob das Problem irgend etwas Naheliegendes ist. Dann fordern Sie einen Techniker über seine offene Leitung an.«

»Jawohl, Sir.« Koudelka zog sich zurück, nachdem er einen vorsichtigen Blick auf die drei Leute geworfen hatte, die da angespannt und starr auf ihren Plätzen darauf warteten, daß er sie allein ließ.

Der Graf wollte nicht nachgeben: »Ich schwöre, daß ich es verstoßen werde. Das Ding in dem Kanister im Militärkrankenhaus. Ich werde es vollständig enterben.«

»Diese Drohung wirkt nicht, Sir. Du kannst nur mich direkt verstoßen. Durch einen kaiserlichen Befehl. Um den du … mich untertänigst ersuchen müßtest.« Er lächelte schneidend, und seine Augen funkelten. »Ich würde natürlich deinem Ersuchen stattgeben.«

Die Muskeln in Piotrs Kieferpartie spannten sich. Also doch nicht die unwiderstehliche Macht und das unbewegliche Objekt, sondern die unwiderstehliche Macht und ein flüssiges Meer, Piotrs Schläge schafften es nicht, zu landen, sondern klatschten hilflos vorbei. Mentales Judo. Er war aus dem Gleichgewicht, suchte fuchtelnd seine Mitte und schlug nun wild um sich.

»Denke an Barrayar! Denke an das Beispiel, das du gibst.«

»O ja«, flüsterte Aral, »daran denke ich.« Er hielt inne. »Wir haben nie aus dem Hintergrund geführt, du oder ich. Wo ein Vorkosigan vorangeht, da finden es andere vielleicht nicht so unmöglich, zu folgen. Ein bißchen persönliche … angewandte Sozialwissenschaft.«

»Vielleicht für Galaktiker. Aber unsere Gesellschaft kann sich diesen Luxus nicht leisten. So wie die Dinge liegen, halten wir kaum unsere eigene Stellung. Wir können nicht die Last von Millionen Gestörten tragen.«

»Millionen?« Aral hob seine Augenbrauen. »Jetzt extrapolierst du von einem zu unendlich. Ein schwaches Argument, Sir, deiner unwürdig.«

»Und sicherlich«, sagte Cordelia ruhig, »wieviel tragbar ist, das muß jedes Individuum, das seine eigene Last trägt, selbst entscheiden.«

Piotr wandte sich ihr zu: »Ja, und wer zahlt für das alles, na? Das Kaiserreich. Vaagens Labor läuft unter dem Budget für militärische Forschungen. Ganz Barrayar zahlt für die Verlängerung des Lebens deiner Mißgeburt.«

Aus der Fassung gebracht, erwiderte Cordelia: »Vielleicht wird sich das als eine bessere Investition herausstellen, als du denkst.«

Piotr schnaufte, sein Kopf senkte sich störrisch zwischen seine hochgezogenen mageren Schultern. Er blickte durch Cordelia hindurch auf Aral. »Du bist entschlossen, mir dies aufzubürden. Meinem Haus. Ich kann dich nicht auf andere Weise überzeugen, ich kann dir nicht befehlen … also gut. Du bist so versessen auf Veränderungen, hier ist eine Veränderung für dich. Ich will nicht, daß dieses Ding meinen Namen trägt. Das kann ich dir verweigern, wenn auch sonst nichts.«

Arals Lippen waren aufeinandergepreßt, seine Nasenflügel zitterten. Aber er bewegte sich nicht an seinem Platz. Der Projektor leuchtete weiter, vergessen in seinen bewegungslosen Händen. Er hielt seine Hände ruhig und völlig beherrscht und erlaubte ihnen nicht, sich zu Fäusten zu ballen.

»Sehr wohl, Sir.«

»Nenne ihn dann Miles Naismith Vorkosigan«, sagte Cordelia, die Ruhe vortäuschte, obwohl ihr übel war und ihr Unterleib zitterte. »Mein Vater wird nichts dagegen haben.«

»Dein Vater ist tot«, versetzte Piotr.

Aufgelöst in leuchtendes Plasma bei einem Shuttleunfall vor mehr als zehn Jahren … Manchmal bildete sie sich ein, wenn sie die Augen schloß, daß sie seinen Tod noch fühlen konnte, wie er in Magenta und dunklem Grünblau in ihre Netzhaut eingeprägt war. »Nicht ganz. Nicht, solange ich lebe und mich an ihn erinnere.«

Piotr schaute drein, als hätte sie ihm gerade einen Stoß in seinen barrayaranischen Magen versetzt. Barrayaranische Zeremonien für die Toten näherten sich der Ahnenverehrung, als könnte die Erinnerung die Seelen lebendig erhalten. Ließ seine eigene Sterblichkeit heute seine Adern frösteln? Er war zu weit gegangen und er wußte es, aber er konnte nicht mehr einlenken. »Nichts, nichts weckt dich auf! Dann versuchen wir’s mal damit.« Er stellte sich breitbeinig hin und blickte Aral wütend an: »Verlaß mein Haus! Beide Häuser! Auch Palais Vorkosigan! Nimm dein Weib und hebe dich hinweg! Heute noch!«

Aral blickte sich nur einmal kurz um im Heim seiner Kindheit. Er legte den Projektor sorgfältig beiseite und stand auf. »Sehr wohl, Sir.«

In Piotrs Wut mischte sich Angst: »Du würdest dein Heim dafür wegwerfen?«

»Mein Heim ist nicht ein Platz. Es ist eine Person, Sir«, sagte Aral ernst. Dann fügte er zögernd hinzu: »Es sind Menschen.«

Damit meinte er Piotr genauso wie Cordelia. Sie saß vornübergebeugt, die Spannung tat ihr weh. War der alte Mann aus Stein? Sogar jetzt brachte ihm Aral noch Gesten der Höflichkeit entgegen, daß ihr fast das Herz stehenblieb.

»Du wirst deine Pachtgelder und Einkünfte der Distriktskasse zurückzahlen«, sagte Piotr völlig verzweifelt.

»Wie Sie wünschen, Sir.« Aral war schon auf dem Weg zur Tür.

Piotrs Stimme wurde schwächer: »Wo wirst du leben?«

»Illyan drängt mich schon seit einiger Zeit, in die Kaiserliche Residenz umzuziehen, aus Sicherheitsgründen. Evon Vorhalas hat mich überzeugt, daß Illyan recht hat.«

Cordelia war mit Aral zusammen aufgestanden. Sie ging nun zum Fenster und blickte über die trübsinnige grau-grünbraune Landschaft. Die Wellen im zinngrauen Wasser des Sees trugen Schaumkronen. Der barrayaranische Winter würde so kalt werden …

»So, etablierst du dich endlich mit kaiserlichem Gehabe, ha?«, spottete Piotr. »Ist es das, worum es dir geht: Hybris?«

Aral verzog sein Gesicht in tiefem Ärger: »Im Gegenteil, Sir. Wenn ich kein anderes Einkommen haben soll, als mein halbes Admiralsgehalt, dann kann ich es mir nicht leisten, mir eine mietfreie Unterbringung entgehen zu lassen.«

Eine Bewegung in den dahintreibenden Wolken zog Cordelias Aufmerksamkeit auf sich. Sie kniff beunruhigt die Augen zusammen.

»Was ist mit diesem Leichtflieger los?«, murmelte sie halb im Selbstgespräch.

Der Punkt zwischen den Wolken wuchs, führte seltsame Flugmanöver aus und zog eine Rauchspur hinter sich her. Er flog ruckweise über den See, direkt auf sie zu. »Gott, ist das Ding etwa voller Bomben?«

»Was?«, fragten Aral und Piotr gleichzeitig und traten schnell neben sie ans Fenster, Aral zu ihrer rechten Seite, Piotr zur linken.

»Es trägt die Hoheitsabzeichen des Sicherheitsdienstes«, sagte Aral.

Piotr kniff seine alten Augen zusammen: »So?«

Cordelia bereitete sich geistig darauf vor, den hinteren Korridor entlangzurennen und dann hinaus zur Hintertür. Es gab da ein Stückchen Graben auf der anderen Seite der Auffahrt, wenn sie sich dort flach hinlegten, dann vielleicht … Aber der Leichtflieger näherte sich langsam dem Ende seiner Flugbahn. Er landete wackelnd auf dem vorderen Rasen.

Männer in Vorkosigan-Livree und der grün-schwarzen Uniform des Sicherheitsdienstes umringten ihn vorsichtig. Der Schaden des Fliegers war deutlich zu sehen: ein von einem Plasmatreffer eingebranntes Loch, schwarze Rußstreifen, verzogene Steuerflächen — es war ein Wunder, daß er überhaupt noch geflogen war.

»Wer …?«, fragte Aral.

Piotrs Blick wurde schärfer, als durch das beschädigte Verdeck der Pilot sichtbar wurde. »Ihr Götter, es ist Negri!«

»Aber wer ist das mit … — los!« Aral drehte sich blitzschnell um und rannte zur Tür hinaus. Piotr und Cordelia folgten ihm, durch die vordere Halle und durch die Tür und den grünen Abhang hinab.

Die Wachen mußten das verzogene Verdeck aufbrechen. Negri fiel in ihre Arme. Sie legten ihn auf das Gras. Er hatte eine scheußliche Brandwunde von etwa einem Meter Länge auf seiner linken Körperseite, seine grüne Uniform war hier geschmolzen und verkohlt und gab den Blick frei auf blutende weiße Brandblasen und aufgerissenes Fleisch. Er zitterte unaufhörlich.

Die kleine Gestalt, die auf dem Passagiersitz festgegurtet saß, war Kaiser Gregor. Der fünfjährige Junge weinte erschrocken, nicht laut, sondern in gedämpftem, unterdrücktem Wimmern. Soviel Selbstbeherrschung in einem so jungen Knaben war Cordelia unheimlich. Er sollte laut schreien.

Ihr selber war danach, laut zu schreien. Gregor trug gewöhnliche Spielkleidung, ein leichtes Hemd und dunkelblaue Hosen. Ihm fehlte ein Schuh. Ein Sicherheitsbeamter hakte seinen Sitzgurt auf und zog ihn aus dem Flieger. Er wich vor dem Mann zurück und blickte erschreckt und verwirrt auf Negri. Hast du gedacht, Erwachsene seien unzerstörbar, Kind? dachte Cordelia voll Kummer.

Kou und Drou tauchten aus ihren jeweiligen Schlupflöchern im Haus auf, um die Szenerie mit dem Rest der Wachen anzugucken. Gregor erkannte Droushnakovi, eilte pfeilschnell auf sie zu und klammerte sich fest an ihren Rock. »Droushie, hilf mir!« Jetzt erst wagte er, hörbar zu weinen.

Sie schlang ihre Arme um ihn und hob ihn hoch.

Aral kniete sich neben dem verletzten Sicherheitschef nieder. »Negri, was ist passiert?«

Negri streckte seinen unverletzten rechten Arm aus und griff nach Arals Jacke. »Er versucht einen Putsch — in der Hauptstadt. Seine Truppen haben die Sicherheitszentrale und das Kommunikationszentrum eingenommen — warum habt ihr nicht reagiert? Das Hauptquartier ist umzingelt, unterwandert — heftige Kämpfe jetzt an der Kaiserlichen Residenz. Wir hatten ihn entlarvt — waren dabei, ihn zu verhaften — er geriet in Panik. Schlug zu früh zu. Ich glaube, er hat Kareen …«

»Wer hat, Negri«, wollte Piotr wissen, »wer?«

»Vordarian.«

Aral nickte grimmig. »Ja …«

»Sie — nehmen Sie den Jungen«, keuchte Negri. »Vordarian hat uns fast besiegt …« Sein Zittern ging in konvulsivisches Zucken über, seine Augen verdrehten sich, bis das Weiße sichtbar wurde. Sein Atem ging stoßweise und würgend. Plötzlich blickten seine Augen noch einmal intensiv und konzentriert. »Sagen Sie Ezar« — die Krämpfe überfielen ihn wieder und quälten seinen kräftigen Leib. Dann hörten sie mit einen Mal auf. Das Ganze halt! Er atmete nicht mehr.

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