Lois McMaster Bujold Barrayar

KAPITEL 1

Ich habe Angst. Cordelias Hand schob den Vorhang vor dem Fenster des Salons im zweiten Stock des Palais Vorkosigan zur Seite. Sie starrte hinab auf die sonnenbeschienene Straße. Ein langer silberner Bodenwagen bog in die halbkreisförmige Auffahrt ein, die zu dem Säulengang an der Vorderfront führte, bremste hinter dem spitzenbewehrten Eisenzaun und dem von der Erde importierten Gebüsch. Ein Regierungswagen. Die Tür des hinteren Fahrgastabteils schwang hoch, und ein Mann in einer grünen Uniform stieg aus. Trotz ihrer perspektivisch verzerrten Sicht erkannte Cordelia Oberstleutnant Illyan, wie gewöhnlich ohne Hut auf seinem braunen Haar. Er trat aus ihrem Gesichtskreis unter den Säulengang. Vielleicht brauche ich mir nicht wirklich Sorgen zu machen, solange die Kaiserliche Sicherheitspolizei nicht in der Nacht zu uns kommt. Aber ein Rest von Furcht blieb zurück, versteckt in ihrem Unterleib. Warum bin ich überhaupt hierher nach Barrayar gekommen. Was habe ich mir und meinem Leben damit angetan?

Stiefelschritte ertönten im Korridor, und die Tür des Salons öffnete sich knarrend. Sergeant Bothari steckte seinen Kopf herein und brummte, zufrieden, daß er sie gefunden hatte: »Mylady, es ist Zeit zu gehen.«

»Danke, Sergeant.« Sie ließ den Vorhang fallen und wandte sich um, um sich ein letztes Mal in dem Wandspiegel über dem archaischen offenen Kamin prüfend zu betrachten. Schwer zu glauben, daß die Leute hier immer noch pflanzliches Material verbrannten, um nur die darin chemisch gebundene Hitze freizusetzen.

Sie hob ihr Kinn über dem steifen weißen Spitzenkragen ihrer Bluse, zog die Ärmel ihrer gelbbraunen Jacke zurecht und stieß mit dem Knie zerstreut gegen den langen, schwingenden Rock einer Frau aus der Klasse der Vor, der ebenfalls gelbbraun war, passend zur Jacke. Die Farbe ermutigte sie, es war fast das gleiche Gelbbraun wie ihr alter Arbeitsanzug vom Betanischen Astronomischen Erkundungsdienst. Sie strich mit ihren Händen über ihr rotes Haar, das in der Mitte gescheitelt war und mit zwei emaillierten Kämmen vom Gesicht ferngehalten wurde, und sie ließ es über ihre Schultern nach hinten fallen, wo es sich in der Mitte ihres Rückens zu offenen Locken ringelte. Ihre grauen Augen starrten ihr aus dem bleichen Gesicht im Spiegel entgegen. Die Nase war etwas zu knochig, das Kinn ein bißchen zu lang, aber es war sicher ein brauchbares Gesicht, gut für alle praktischen Zwecke.

Nun, wenn sie zierlich aussehen wollte, dann brauchte sie sich nur neben Sergeant Bothari zu stellen. Mit seinen zwei Metern ragte er düster neben ihr empor. Cordelia hielt sich für eine großgewachsene Frau, aber ihr Scheitel reichte nur bis zu seiner Schulter. Er hatte ein Gesicht wie ein Wasserspeier einer gotischen Kathedrale, verschlossen, argwöhnisch, mit einer scharf geschnittenen Nase, und durch den militärisch kurzen Haarschnitt bekamen seine klobigen Züge fast etwas Kriminelles. Nicht einmal die elegante Livree des Grafen Vorkosigan, dunkelbraun mit den silbern aufgestickten Symbolen des Hauses, konnte Bothari aus seiner verblüffenden Häßlichkeit retten. Aber wirklich ein sehr gutes Gesicht — für praktische Zwecke.

Ein Gefolgsmann in Livree. Was für ein Begriff. Wem galt sein Folgen?

Unserem Leben, unserem Schicksal und vor allem unserer heiligen Ehre.

Sie nickte ihm im Spiegel freundlich zu und wandte sich um, um ihm durch das Labyrinth von Palais Vorkosigan zu folgen.

Sie mußte so schnell wie möglich lernen, sich in dem großen Gebäudekomplex zurechtzufinden. Es war peinlich, sich im eigenen Heim zu verlaufen und einen vorbeikommenden Wächter oder Diener bitten zu müssen, einem den Weg zu weisen. Mitten in der Nacht, nur mit einem Handtuch bekleidet. Ich war einmal Navigatorin eines Sprungschiffes. Wirklich! Wenn sie schon mit fünf Dimensionen aufwärts umgehen konnte, dann sollte sie doch sicherlich in der Lage sein, auch mit nur drei Dimensionen abwärts fertig zu werden.

Sie kamen zum obersten Absatz einer großen, runden Treppe, die in drei eleganten Bögen hinab in ein schwarz-weiß gefliestes Foyer führte. Ihre leichten Schritte folgten Botharis gemessenen Tritten. Ihre Röcke vermittelten ihr ein Gefühl von Gleiten, als schwebte sie mit einem Fallschirm unaufhaltsam in einer Spirale hinab.

Ein hochgewachsener junger Mann, der am Fuß der Treppe sich auf einen Stock stützte, blickte beim Geräusch ihrer Schritte auf. Leutnant Koudelkas Gesicht, ebenmäßig und angenehm, war das genaue Gegenstück zu Botharis schmalen und fremdartigen Zügen, und er lächelte Cordelia offen entgegen. Nicht einmal den Kummerfalten in den Augen- und Mundwinkeln gelang es, dieses Gesicht altern zu lassen. Er trug die grüne kaiserliche Interimsuniform, die bis auf die Abzeichen der des Sicherheitsoffiziers Illyan glich. Die langen Ärmel und der hohe Kragen seiner Jacke verbargen das Flechtwerk feiner roter Narben, die seinen halben Körper wie ein Netz überzogen, aber Cordelia sah sie mit ihrem geistigen Auge vor sich. Nackt konnte Koudelka als sichtbares Modell für eine Vorlesung über die Struktur des menschlichen Nervensystems posieren, denn jede rote Narbe stand für einen toten Nerv, der entfernt und durch künstliche Silberdrähte ersetzt worden war. Leutnant Koudelka war noch nicht ganz an sein neues Nervensystem gewöhnt. Sag die Wahrheit. Die Chirurgen hier sind unwissende, grobschlächtige Metzger.

Die Arbeit entsprach sicher nicht dem betanischen Standard. Cordelia erlaubte keiner Andeutung dieses privaten Urteils, sich auf ihrem Gesicht abzuzeichnen.

Koudelka drehte sich mit einem Ruck um und nickte Bothari zu. »Hallo, Sergeant. Guten Morgen, Lady Vorkosigan.«

Ihr neuer Name klang in ihrem Ohr immer noch fremd, unpassend. Sie erwiderte sein Lächeln. »Guten Morgen, Kou. Wo ist Aral?«

»Er und Oberstleutnant Illyan sind in die Bibliothek gegangen, um zu prüfen, wo die neue gesicherte Kommunikationskonsole installiert werden soll. Sie müßten gleich wieder da sein. Aha.« Er nickte, als Schritte im Bogengang ertönten. Cordelia folgte seinem Blick. Illyan, schmächtig, sanft und höflich, flankierte einen Mann Mitte Vierzig, der ihn in den Schatten stellte in seiner prächtigen grünen kaiserlichen Uniform. Und dieser Mann war der Grund, warum sie nach Barrayar gekommen war.

Lord Aral Vorkosigan, Admiral außer Dienst. D. h. ehemals außer Dienst, bis gestern. Ihrer beider Leben war gestern gewiß auf den Kopf gestellt worden. Aber wir werden sicherlich irgendwie auf unseren Füßen landen. Vorkosigans Körper war stämmig und kraftvoll, sein dunkles Haar von grauen Fäden durchzogen. Sein schweres Kinn war mit einer alten Narbe in Form eines L gezeichnet. Er bewegte sich mit geballter Energie, der intensive Blick seiner grauen Augen wirkte nach innen gerichtet, bis er auf Cordelia fiel.

»Ich wünsche einen guten Morgen, Mylady«, rief er aus und griff nach ihrer Hand. Der Gruß klang befangen, aber die Empfindung in seinen spiegelklaren Augen war aufrichtig. In diesen Spiegeln bin ich ganz und gar schön, erkannte Cordelia, und es wurde ihr warm ums Herz. Sie schmeicheln mir viel mehr als der eine droben an der Wand. Von jetzt an werde ich sie benutzen, um mich darin anzuschauen. Seine kräftige Hand war trokken und warm, willkommene Wärme, lebendige Wärme, und sie schloß sich um ihre kühlen, schlanken Finger. Mein Mann. Das paßte, so ruhig und fest, wie ihre Hand in die seine paßte, selbst wenn ihr neuer Name, Lady Vorkosigan, ihr immer noch von den Schultern zu gleiten schien.

Sie beobachtete Bothari, Koudelka und Vorkosigan, wie sie für diesen kurzen Augenblick beieinander standen. Die Leichtverwundeten, einer, zwei, drei. Und ich, die Dame vom Hilfsdienst. Die Überlebenden. Alle drei hatten in dem letzten Krieg gegen Escobar fast tödliche Wunden erlitten, Kou in seinem Körper, Bothari in seinem Gemüt, Vorkosigan in seinem Geist. Das Leben geht weiter. Marschieren oder sterben. Fangen wir endlich an, wieder gesund zu werden? Sie hoffte es.

»Bereit zu gehen, lieber Captain?«, fragte Vorkosigan sie. Seine Stimme war ein Bariton, mit einem kehligwarmen barrayaranischen Akzent.

»So bereit wie nur je, nehme ich an.«

Illyan und Koudelka gingen voran nach draußen. Koudelkas Gang war ein schlaksiges Watscheln neben Illyans forschem Schritt, und Cordelia runzelte zweifelnd die Stirn. Sie nahm Vorkosigans Arm, und so folgten sie den anderen und ließen Bothari bei seinen Aufgaben im Haus zurück.

»Wie ist der Zeitplan für die kommenden Tage?«, fragte sie.

»Nun, zunächst natürlich diese Audienz«, antwortete Vorkosigan.

»Danach werde ich verschiedene Leute treffen. Graf Vortala wird das einfädeln. In ein paar Tagen kommt die Abstimmung über das Einverständnis in den Versammelten Räten und meine Vereidigung. Wir haben schon hundertzwanzig Jahre lang keinen Regenten mehr gehabt. Gott allein weiß, was sie da an Protokoll ausgraben und abstauben werden.«

Koudelka saß im Vorderabteil des Bodenwagens neben dem uniformierten Fahrer. Illyan schlüpfte in das hintere Abteil, gegenüber Cordelia und Vorkosigan, mit dem Blick nach hinten. Dieser Wagen ist gepanzert, erkannte Cordelia aus der Dicke des durchsichtigen Verdecks, als es sich über ihnen schloß. Auf ein Signal von Illyan an den Fahrer hin fuhren sie ruhig an, hinaus auf die Straße. Von draußen drang so gut wie kein Geräusch nach drinnen.

»Gemahlin des Regenten«, Cordelia kostete die Formulierung aus. »Ist das mein offizieller Titel?«

»Ja, Mylady«, sagte Illyan.

»Sind damit irgendwelche offiziellen Pflichten verbunden?«

Illyan blickte zu Vorkosigan, der sagte: »Hm. Ja und nein. Da werden allerhand Zeremonien stattfinden, bei denen du dabei sein solltest — zur Zierde, in deinem Fall. Zuerst die Bestattung des Kaisers, die für alle Beteiligten sehr anstrengende sein wird — außer, vielleicht, für Kaiser Ezar.

All das wartet auf seinen letzten Atemzug. Ich weiß nicht, ob er dafür einen Zeitplan hat, aber ich traue es ihm glatt zu.

Die gesellschaftliche Seite deiner Pflichten kann genau das Ausmaß haben, das du wünschst. Ansprachen und Zeremonien, wichtige Hochzeiten und Namenstage und Begräbnisse, Begrüßungen von Abordnungen aus den Distrikten — Öffentlichkeitsarbeit, kurz gesagt. Die Art von Sachen, die Prinzessin-Witwe Kareen mit solcher Begabung absolviert.« Vorkosigan brach ab, als er ihren erschrockenen Blick wahrnahm, und fügte hastig an: »Oder du kannst, wenn du es willst, ein völlig privates Leben führen. Du hast ja gerade jetzt die beste Entschuldigung dafür«, seine Hand, um ihre Hüfte gelegt, streichelte heimlich ihren noch flachen Schoß, »… und ich wäre tatsächlich sehr dafür, daß du dich eher etwas rar machst.

Wichtiger ist die politische Seite… Ich hätte dich sehr gern als meine Verbindung zur Prinzessin-Witwe und zum … kleinen Kaiser. Freunde dich mit ihr an, wenn du kannst: sie ist eine außerordentlich zurückhaltende Frau. Die Erziehung des Jungen ist außerordentlich wichtig. Wir dürfen nicht Ezar Vorbarras Fehler wiederholen.«

»Ich werde es versuchen«, seufzte sie. »Ich sehe schon, es wird keine leichte Aufgabe sein, als eine Vor von Barrayar zu gelten.«

»Mach es dir nicht zu schwer. Ich möchte dich nicht eingeengt sehen. Außerdem hat die Sache noch einen anderen Aspekt.«

»Das überrascht mich nicht. Los, erzähl!«

Er machte eine Pause, um seine Worte zu wählen. »Als der verstorbene Kronprinz Serg den Grafen Vortala einen Scheinprogressiven nannte, so war das nicht völliger Unsinn. Beschimpfungen, die verletzen, enthalten immer ein Körnchen Wahrheit. Graf Vortala hat sich um die Formierung seiner progressiven Partei nur in den oberen Klassen bemüht, unter den Leuten, auf die es ankommt, wie er sagen würde. Siehst du den kleinen Bruch in seinem Denken?«

»So groß wie der Hogarth-Canon bei mir zu Hause? Ja.«

»Du bist eine Betanerin, eine Frau von galaktischem Ruf.«

»Na, na!«

»So sieht man dich hier. Ich glaube, du begreifst gar nicht ganz, wie du hier wahrgenommen wirst. Ziemlich schmeichelhaft für mich, wie die Dinge stehen.«

»Am liebsten wäre ich unsichtbar. Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß ich allzu populär bin, nach dem, was wir eurer Seite in Escobar zugefügt haben.«

»Das ist unsere Kultur. Mein Volk vergibt einem tapferen Soldaten fast alles. Und du vereinigst in deiner Person zwei gegnerische Parteien: das aristokratische Militär und die progalaktischen Plebejer. Ich glaube wirklich, ich könnte durch dich die ganze Mitte aus der Volksverteidigungsliga herausziehen, wenn du bereit wärest, meine Karten für mich zu spielen.«

»Du lieber Himmel! Seit wann denkst du denn darüber schon nach?«

»Über das Problem schon lange. Über dich als Teil der Lösung erst seit heute.«

»Was, willst du mir die Rolle einer Galeonsfigur für eine Art konstitutioneller Partei zuteilen?«

»Nein, nein. Das ist gerade eines von den Dingen, die zu verhindern ich bei meiner Ehre schwören werde. Es würde dem Sinn meines Eides widersprechen, Prinz Gregor eine Kaiserwürde zu überreichen, die aller Macht entleert wäre. Was ich möchte … was ich möchte, ist, einen Weg zu finden, um die besten Leute, aus allen Klassen, Sprachen und Parteien, in den Dienst des Kaisers zu ziehen. Die Vor haben einfach eine zu geringe Auswahl an Talenten. Ich möchte die Regierung im besten Sinne dem Militär angleichen, wo Begabungen ungeachtet ihrer Herkunft gefördert werden. Kaiser Ezar hat etwas ähnliches versucht, als er die Ministerien auf Kosten der Grafen stärkte, aber das ging zu weit. Die Grafen sind bedeutungslos geworden, und die Ministerien sind korrupt. Es muß einen Weg geben, zwischen beiden ein Gleichgewicht herzustellen.«

Cordelia seufzte: »Ich nehme an, wir müssen uns einfach einigen, daß wir uns nicht einig sind, über Verfassungen. Niemand hat mich zur Regentin von Barrayar ernannt. Ich warne dich trotzdem: ich werde weiterhin versuchen, deine Meinung zu ändern.«

Bei diesen Worten hob Illyan seine Augenbrauen. Cordelia lehnte sich zurück und betrachtete durch das Verdeck die Hauptstadt von Barrayar, Vorbarr Sultana, die draußen vorüberzog. Sie hatte vor vier Monaten nicht den Regenten von Barrayar geheiratet. Sie hatte einen Soldaten außer Dienst geheiratet. Nun ja, Männer sollten sich ja angeblich nach der Heirat verändern, für gewöhnlich zum Schlechteren, aber — so sehr? So schnell? Das ist nicht die Aufgabe, zu der ich mich verpflichtet habe, Sir.

»Das ist doch eine Geste von beträchtlichem Vertrauen, die Kaiser Ezar dir gestern erwiesen hat, indem er dich zum Regenten ernannte. Ich denke nicht, daß er ein so skrupelloser Pragmatiker ist, wie du mich glauben machen möchtest«, bemerkte sie.

»Ja gut, es ist eine Geste des Vertrauens, aber er wurde von der Notwendigkeit dazu getrieben. Du verstehst wohl nicht die Bedeutung der Versetzung von Oberst Negri an den Hof der Prinzessin?«

»Nein. Hatte das eine Bedeutung?«

»O ja, eine sehr deutliche Botschaft. Negri soll seine alte Aufgabe als Chef der Kaiserlichen Sicherheitspolizei weiterführen. Er wird natürlich seine Berichte nicht einem vierjährigen Knaben erstatten, sondern mir.

Oberstleutnant Illyan wird tatsächlich nur sein Assistent sein.« Vorkosigan und Illyan nickten sich in sanfter Ironie zu. »Aber es steht außer Frage, wem Negris Loyalität gilt, falls ich, na ja, durchdrehen und nach der kaiserlichen Macht greifen sollte, sei es nominell oder wirklich. Er hat zweifellos den geheimen Befehl, in einem solchen Fall mich aus dem Weg zu schaffen.«

»Oh, gut, ich garantiere, daß ich keinerlei Verlangen hege, Kaiserin von Barrayar zu werden. Nur falls du dich dies fragen solltest.«

»Das habe ich nicht gedacht.«

Der Bodenwagen hielt an einem Tor in einer Steinmauer. Vier Wachen inspizierten sie gründlich, prüften Illyans Passierschein und winkten sie dann durch. All diese Wachen, hier und am Palais Vorkosigan — wogegen hielten sie Wache? Gegen andere Barrayaraner, vermutlich, in der in viele Gruppen aufgesplitterten politischen Landschaft. Eine typisch barrayaranische Redewendung, die der alte Graf benutzt hatte und die sie amüsierte, ging ihr jetzt beunruhigend durch den Kopf. Mit all dem Mist hier muß es doch irgendwo ein Pony geben. Pferde waren praktisch unbekannt auf Kolonie Beta, außer einigen wenigen Tieren in Zoos. Mit all den Wachen hier … Aber wenn ich niemandes Feind bin, wie kann dann irgend jemand mein Feind sein?

Illyan, der auf seinem Sitz herumgerutscht war, meldete sich jetzt zu Wort.

»Sir, ich möchte anregen«, sagte er vorsichtig zu Vorkosigan, »ja sogar darum bitten, daß Sie es sich noch einmal überlegen und hier in der kaiserlichen Residenz Quartier beziehen. Sicherheitsprobleme — meine Probleme« — er lächelte schwach, was nicht gut für sein Image war, denn bei seinen stumpfen Zügen sah er dabei wie ein junger Hund aus — »kann man hier viel leichter in den Griff bekommen.«

»An welche Suite haben Sie dabei gedacht?«, fragte Vorkosigan.

»Nun ja, wenn … Gregor die Nachfolge antritt, dann werden er und seine Mutter in die Kaisersuite umziehen. Dann werden Kareens Räume leerstehen.«

»Prinz Sergs Räume, meinen Sie.« Vorkosigan blickte grimmig drein. »Ich … ich denke, ich würde es vorziehen, meine offizielle Residenz im Palais Vorkosigan zu haben. Mein Vater verbringt in letzter Zeit mehr und mehr Zeit auf dem Land in Vorkosigan Surleau, ich glaube, er hat überhaupt nichts dagegen, dorthin umzuziehen.«

»Ich kann diese Idee nicht unterstützen, Sir. Ausschließlich vom Standpunkt der Sicherheit. Das Palais liegt in der Altstadt. Die Straßen dort sind Labyrinthe. Die ganze Gegend ist von mindestens drei alten Tunnelsystemen durchzogen, von alten Abwasser- und Transportkanälen, und es gibt dort zu viele neue hohe Gebäude, von denen man einen beherrschenden Ausblick hat. Es werden mindestens sechs Vollzeitpatrouillen für den alleroberflächlichsten Schutz notwendig sein.«

»Haben Sie die Leute?«

»Hm, ja.«

»Also dann Palais Vorkosigan.« Illyan schaute enttäuscht drein, Vorkosigan wollte ihn trösten: »Das mag schlecht sein vom Standpunkt der Sicherheit, aber dafür gibt es einen guten Eindruck in der Öffentlichkeit. Es verleiht der neuen Regentschaft einen ausgezeichneten Stil von soldatischer Bescheidenheit. Und dürfte helfen, paranoide Ängste vor einem Palastputsch zu verringern.«

Und jetzt kamen sie an dem Palast an, von dem die Rede war. Der Gebäudekomplex der kaiserlichen Residenz ließ Palais Vorkosigan klein aussehen. Breit hingelagerte Flügel erhoben sich zwei bis vier Stockwerke hoch und wurden da und dort von Türmen akzentuiert. Anbauten aus verschiedenen Epochen verliefen kreuz und quer und schufen sowohl weite wie heimelige Höfe, einige davon waren richtig proportioniert, andere sahen eher zufällig aus. Die Ostfassade war im einheitlichsten Stil gehalten, überladen mit Steinmetzarbeiten. Die Nordseite war aufgelockerter und gliederte sich kunstvoll gestaltete architektonische Gärten ein. Der Westteil war das älteste, der Südteil das jüngste Bauwerk.

Der Bodenwagen fuhr an eine zweistöckige Vorhalle heran, und Illyan führte sie vorbei an noch mehr Wachen und über weite Steintreppen in eine ausgedehnte Zimmerflucht im ersten Stock. Sie stiegen langsam hinauf, da sie ihre Schritte Leutnant Koudelkas unbeholfenem Gang anpaßten. Koudelka blickte auf mit einem befangenen, entschuldigenden Stirnrunzeln, dann senkte er wieder seinen Kopf in Konzentration — oder in Scham? Hat denn dieser Platz hier keinen Lift? fragte sich Cordelia irritiert. Auf der anderen Seite dieses Steinlabyrinths, in einem Raum mit einem Ausblick auf die nördlichen Gärten, lag ein weißhaariger alter Mann ausgelaugt und sterbend auf dem riesigen Bett seiner Vorfahren …

In dem geräumigen oberen Korridor, der mit weichen Teppichen ausgelegt war und geschmückt mit Gemälden und mit Wandtischen, auf denen Unmengen Nippsachen standen — wohl Kunstwerke, vermutete Cordelia —, trafen sie auf Oberst Negri, der leise mit einer Frau sprach, die mit verschränkten Armen dastand. Cordelia hatte den berühmten — oder berüchtigten — Chef der kaiserlichen Sicherheitspolizei von Barrayar tags zuvor zum erstenmal getroffen, nach Vorkosigans historischem Berufungsgespräch mit dem bald hinscheidenden Ezar Vorbarra. Negri war ein zäher, rundschädeliger Mann mit hartem Gesichtsausdruck, der seinem Kaiser fast vierzig Jahre mit Leib und Leben gedient hatte, eine finstere Legende mit schwer zu lesenden Augen.

Jetzt verneigte er sich über ihrer Hand und nannte sie ›Mylady‹, als meinte er es, oder zumindest nicht mit mehr Ironie als bei ihm üblich. Die alerte blonde Frau — ein Mädchen? — trug gewöhnliche zivile Kleidung.

Sie war groß und muskulös, und sie erwiderte Cordelias Blick mit noch größerem Interesse.

Vorkosigan und Negri tauschten kurze Grüße aus in dem telegraphischen Stil zweier Männer, die schon so lange miteinander verkehrt hatten, daß alle konventionellen Höflichkeiten in eine Art von knappem Code komprimiert waren. »Und das ist Fräulein Droushnakovi.« Mit einer Handbewegung stellte Negri die Frau vor, doch klang es eher, als habe er sie zu Cordelias Nutzen mit einem Namensetikett versehen.

»Und was ist eine Droushnakovi?«, fragte Cordelia leichthin und etwas entmutigt. Alle Leute hier schienen immer eher informiert zu werden als sie, obwohl Negri es auch unterlassen hatte, Leutnant Koudelka vorzustellen.

Koudelka und Droushnakovi blickten sich verstohlen an.

»Ich bin eine Dienerin der Inneren Kammer, Mylady.« Droushnakovi verneigte sich vor Cordelia und deutete einen Knicks an.

»Und wem dienen Sie, außer der Kammer?«

»Prinzessin Kareen, Mylady. Das ist nur mein offizieller Titel. Ich stehe auf Oberst Negris Personaletat als Leibwache Erster Klasse.« Es war schwer zu sagen, welcher Titel ihr mehr Stolz und Vergnügen bereitete, aber Cordelia vermutete, es war der zweite.

»Ich bin sicher, Sie müssen gut sein, wenn Sie von ihm so eingestuft wurden.«

Dies gewann ihr ein Lächeln ab und: »Danke, Mylady. Ich bemühe mich.«

Sie alle folgten Negri durch eine nahe gelegene Tür in einen langen, gelben, sonnigen Raum mit vielen Fenstern nach Süden zu. Cordelia fragte sich, ob die bunt gemischte Einrichtung aus unbezahlbaren antiken Stücken oder nur aus schäbigen Möbeln zweiter Wahl bestand. Sie konnte es nicht erkennen. Eine Frau saß wartend auf einem kleinen gelben Sofa am anderen Ende des Raumes und blickte ihnen ernst entgegen, während sie zusammen auf sie zugingen.

Prinzessin-Witwe Kareen war eine schmächtige, angespannt aussehende Frau von dreißig, ihr schönes dunkles Haar war kunstvoll frisiert, ihr graues Kleid jedoch von einfachem Schnitt. Einfach, aber vollkommen.

Ein dunkelhaariger Junge von etwa vier Jahren lag bäuchlings ausgestreckt auf dem Boden und hielt gemurmelte Zwiesprache mit seinem Spielzeugstegosaurus in der Größe einer Katze. Sie hieß ihn aufstehen, den Spielroboter ausschalten und sich neben sie setzen, dabei hielten seine Hände das lederne ausgestopfte Tier in seinem Schoß fest umklammert. Cordelia war erleichtert zu sehen, daß der kleine Prinz seinem Alter entsprechend vernünftige, bequeme Spielkleidung trug.

Mit formellen Worten stellte Negri Cordelia der Prinzessin und Prinz Gregor vor. Cordelia war nicht sicher, ob sie sich verbeugen, einen Hofknicks machen oder salutieren sollte, und schließlich verneigte sie sich flüchtig wie zuvor Droushnakovi. Gregor blickte sie ernst und zweifelnd an, und sie lächelte ihm auf — wie sie hoffte — beruhigende Weise zu.

Vorkosigan ließ sich auf einem Knie vor dem Jungen nieder — nur Cordelia sah, wie Aral dabei schluckte — und sagte: »Weißt du, wer ich bin, Prinz Gregor?«

Gregor wich ein wenig zurück, schmiegte sich an seine Mutter und blickte zu ihr empor. Sie nickte ihm ermutigend zu. »Lord Aral Vorkosigan«, sagte Gregor mit zarter Stimme.

Vorkosigan lockerte seine Hände, versuchte befangen seine übliche Intensität zu dämpfen und sprach in freundlichem Ton: »Dein Großvater hat mich gebeten, dein Regent zu sein. Hat dir schon jemand erklärt, was das bedeutet?«

Gregor schüttelte stumm den Kopf. Vorkosigan zuckte, auf Negri blickend, mit den Brauen — eine Andeutung von Tadel. Negris Gesichtsausdruck änderte sich nicht.

»Das bedeutet, daß ich die Aufgaben deines Großvaters erfüllen werde, bis du alt genug bist, sie selbst zu erfüllen, wenn du zwanzig Jahre alt wirst.

Die nächsten sechzehn Jahre werde ich mich an deines Großvaters Stelle um dich und deine Mutter kümmern, und ich werde dafür sorgen, daß du die Erziehung und die Ausbildung bekommst, um gute Arbeit zu leisten, wie es dein Großvater tat. Eine gute Regierung.«

Wußte das Kind überhaupt schon, was eine Regierung war? Vorkosigan war umsichtig genug gewesen, nicht zu sagen, an deines Vaters Stelle, bemerkte Cordelia nüchtern. Umsichtig genug, Kronprinz Serg überhaupt nicht zu erwähnen. Serg war drauf und dran, aus der Geschichte von Barrayar zu verschwinden, schien es, so gründlich, wie er im Kampf im Weltraum ausgelöscht worden war.

»Für jetzt«, fuhr Vorkosigan fort, »ist deine Aufgabe, eifrig mit deinen Lehrern zu lernen und das zu tun, was deine Mutter dir sagt. Bringst du das fertig?«

Gregor schluckte und nickte dann.

»Ich glaube, du machst das gut.« Vorkosigan nickte ihm kräftig zu, so wie er seinen Stabsoffizieren zunickte, und erhob sich.

Ich glaube, du machst das gut, Aral, dachte Cordelia.

»Während Sie noch hier sind, Sir«, begann Negri, nachdem er kurz gewartet hatte, um sicherzugehen, daß er Vorkosigan nicht ins Wort fiel, »bitte ich Sie, hinabzukommen ins Lagezentrum. Das gibt es zwei oder drei Berichte, die ich Ihnen gerne vorlegen würde. Der letzte aus Darkoi scheint anzudeuten, daß Graf Vorlakil tot war, bevor seine Residenz niedergebrannt wurde, was ein neues Licht — oder einen neuen Schatten — auf diese Sache wirft. Und dann ist da noch das Problem der Reform des Ministeriums für Politische Bildung …«

»Das Problem der Auflösung, sicherlich«, murmelte Vorkosigan.

»Mag sein. Und, wie immer, die neueste Sabotage von Komarr.«

»Ich kann es mir vorstellen. Laßt uns gehen. Cordelia, ach …«

»Vielleicht möchte Lady Vorkosigan noch bleiben und für eine Weile unser Besuch sein«, murmelte Prinzessin Kareen wie auf ein Stichwort hin, mit nur einem feinen Anflug von Ironie.

Vorkosigan warf ihr einen dankbaren Blick zu: »Danke, Mylady.«

Sie strich zerstreut mit einem Finger über ihre zarten Lippen, während die Männer den Raum verließen, und sie entspannte sich leicht, als sie draußen waren. »Gut. Ich hatte gehofft, daß ich Sie einmal ganz für mich allein habe.« Ihr Gesichtsausdruck wurde lebhafter, als sie Cordelia anschaute. Auf eine wortlose Berührung hin ließ sich der Junge vom Sofa gleiten und kehrte, ein paarmal hinter sich blickend, wieder zu seinem Spiel zurück.

Droushnakovi schaute stirnrunzelnd in Richtung der Tür. »Was war denn mit diesem Leutnant los?«, fragte sie Cordelia.

»Leutnant Koudelka wurde von Nervendisruptor-Feuer getroffen«, sagte Cordelia steif, unsicher darüber, ob der seltsame Ton des Mädchens eine Art von Mißbilligung verbarg. »Vor einem Jahr, als er Aral an Bord der General Vorkraft diente. Die neuralen Reparaturen scheinen nicht ganz dem galaktischen Standard zu entsprechen.« Sie verstummte, weil sie befürchtete, daß es scheinen könnte, als kritisierte sie die Hausherrin. Ohne daß Prinzessin Kareen für den zweifelhaften Standard der Medizin auf Barrayar verantwortlich wäre.

»Oh, nicht während des Kriegs um Escobar?«, sagte Droushnakovi.

»Tatsächlich war es verrückterweise der Schuß, der den Krieg um Escobar eröffnet hatte. Obwohl ich vermute, daß Sie es freundliches Feuer nennen würden.« Ein irres Oxymoron, dieser Ausdruck.

»Lady Vorkosigan — oder sollte ich sagen: Captain Naismith — war damals dabei«, bemerkte Prinzessin Kareen, »sie müßte es wissen.«

Es war schwer für Cordelia, in den Zügen der Prinzessin zu lesen. In wieviele von Negris berühmten Berichten war sie eingeweiht?

»Wie schrecklich für ihn! Er sieht aus, als wäre er einmal ziemlich athletisch gewesen«, sagte die Leibwächterin.

»Ja, das war er.« Cordelia lächelte dem Mädchen freundlicher zu und gab ihre Verteidigungshaltung auf. »Nervendisruptoren sind schmutzige Waffen, meiner Meinung nach.« Sie rieb zerstreut über den empfindungslosen Punkt an ihrem Oberschenkel, der von dem bloßen Widerschein einer Disruptorenexplosion verbrannt worden war, der glücklicherweise nicht das subkutane Fett durchdrungen und keinen Schaden an der Muskelfunktion angerichtet hatte. Vernünftigerweise hätte sie das wiederherstellen lassen sollen, bevor sie ihre Heimat verließ.

»Setzen Sie sich, Lady Vorkosigan«, Prinzessin Kareen klopfte auf den Platz neben sich auf dem Sofa, den der zukünftige Kaiser gerade freigegeben hatte. »Drou, bringen Sie bitte Gregor zu seinem Mittagstisch.«

Droushnakovi nickte verständnisvoll, als hätte sie mit dieser einfachen Bitte noch eine verschlüsselte Zusatzbotschaft erhalten, nahm den Jungen und ging mit ihm Hand in Hand hinaus. Seine Kinderstimme war noch zu hören: »Droushie, kann ich ein Stück Sahnetorte haben? Und eins für Steggie?«

Cordelia setzte sich behutsam und dachte an Negris Berichte und an die barrayaranische Desinformation bezüglich ihrer gescheiterten Kampagne einer Invasion des Planeten Escobar. Escobar, der gute Nachbar und Verbündete von Kolonie Beta … Die Waffen, die Kronprinz Serg und sein Schiff hoch über Escobar ausgelöscht hatten, waren mutig durch die barrayaranische Blockade hindurch eskortiert worden von Captain Cordelia Naismith von der Betanischen Expeditionsstreitmacht.

Soviel Wahrheit war offenkundig und öffentlich, und man mußte sich nicht dafür entschuldigen. Jedoch die geheime Geschichte hinter der Szenerie im barrayaranischen Oberkommando war so … verräterisch, ja, das war, entschied Cordelia, das richtige Wort. Gefährlich, wie schlecht gelagerter Giftmüll.

Zu Cordelias Verwunderung lehnte sich Prinzessin Kareen zu ihr herüber, ergriff ihre rechte Hand, führte sie an die Lippen und küßte sie heftig.

»Ich habe geschworen«, sagte Kareen mit belegter Stimme, »die Hand zu küssen, die Ges Vorrutyer erschlagen hat. Danke, danke!« Ihr Atem ging heftig, sie kämpfte mit den Tränen, ihr Gesicht verriet Gefühle der Dankbarkeit. Sie setzte sich auf, ihr Gesichtsausdruck wurde wieder reserviert, und sie nickte. »Ich danke Ihnen. Segen über Sie!«

»Mmh …«, Cordelia rieb die Stelle auf ihrer Hand, die der Kuß getroffen hatte, »mmh … ich … diese Ehre gehört einem anderen, Mylady. Ich war zwar zugegen, als Admiral Vorrutyers Kehle durchgeschnitten wurde, aber das geschah nicht von meiner Hand.«

Kareens Hände ballten sich in ihrem Schoß zu Fäusten, und ihre Augen glühten. »Dann war es Lord Vorkosigan!«

»Nein!« Cordelia preßte ärgerlich ihre Lippen zusammen. »Negri hätte Ihnen die Wahrheit berichten sollen. Es war Sergeant Bothari. Er rettete mein Leben bei dieser Gelegenheit.«

»Bothari?« Kareen setzte sich in ihrer Überraschung kerzengerade auf. »Bothari, das Monster? Bothari, Vorrutyers verrückter Offiziersbursche?«

»Es macht mir nichts aus, wenn ich an seiner Stelle dafür verantwortlich gehalten werde, Madame, denn wenn es öffentlich bekannt geworden wäre, so wäre man gezwungen gewesen, ihn wegen Mord und Meuterei hinzurichten, und auf diese Weise kommt er ungeschoren davon. Aber ich … aber ich sollte ihm nicht seinen Ruhm wegnehmen. Ich überlasse ihn ihm, wenn Sie es wünschen, aber ich bin nicht sicher, ob er sich an den Vorfall erinnert. Er hat nach dem Krieg eine ziemlich drakonische Bewußtseinstherapie durchgemacht, bevor sie ihn entlassen haben — was Ihr Barrayaraner so Therapie nennt …« — auf gleichem Niveau mit ihrer Neurochirurgie, so argwöhnte sie — »und soviel ich weiß, war er vorher auch nicht gerade … hm … normal.«

»Nein«, sagte Kareen, »das war er nicht. Ich dachte, er war Vorrutyers Kreatur.«

»Er entschied … er entschied sich, anders zu sein. Ich glaube, das war die heldenhafteste Tat, die ich je gesehen habe. Mitten aus jenem Sumpf von Bosheit und Verrücktheit, zu greifen nach …« Cordelia brach ab, es war ihr zu peinlich zu sagen: zu greifen nach Erlösung. Nach einer Pause fragte sie: »Geben Sie Admiral Vorrutyer die Schuld dafür, daß Prinz Serg … hm … verdorben wurde?« Solange sie die Atmosphäre reinigten …

Niemand erwähnt Prinz Serg. Er dachte, eine blutige Abkürzung zur Kaiserherrschaft zu nehmen, und jetzt ist er einfach … verschwunden.

»Ges Vorrutyer …« — Kareens Hand zuckte — »fand in Serg einen gleichgesinnten Freund. Einen schöpferischen Gefolgsmann in seinen schändlichen Vergnügungen. Vielleicht war nicht … alles Vorrutyers Schuld. Ich weiß es nicht.«

Cordelia spürte, daß dies eine ehrliche Antwort war. Kareen fügte leise hinzu: »Ezar hat mich vor Serg beschützt, nachdem ich schwanger geworden war. Ich hatte meinen Mann sogar mehr als ein Jahr lang nicht gesehen, als er in Escobar getötet wurde.«

Vielleicht werde ich auch Prinz Serg nicht wieder erwähnen. »Ezar war ein machtvoller Beschützer. Ich hoffe, daß Aral es ebenso gut macht«, bot Cordelia an. Sollte sie von Kaiser Ezar schon in der Vergangenheitsform sprechen? Jeder andere schien das zu tun.

Kareen kehrte wieder in die Gegenwart zurück und schüttelte sich wach.

»Tee, Lady Vorkosigan?« Sie lächelte und berührte ein Komm-Link, ein winziges Funksprechgerät, das in einer juwelenbesetzten Nadel auf ihrer Schulter verborgen war, und gab Befehle an das Haushaltspersonal.

Offensichtlich war der private Teil des Gesprächs vorüber. Captain Naismith mußte nun herausfinden, wie Lady Vorkosigan zusammen mit einer Prinzessin Tee trinken sollte.

Gregor und die Leibwächterin kamen etwa zur gleichen Zeit zurück, als die Cremetorten serviert wurden, und Gregor machte sich erfolgreich daran, den Damen ein zweites Stück abzuschmeicheln. Beim dritten Stück jedoch sagte Kareen unnachgiebig nein. Prinz Sergs Sohn schien ein völlig normaler Junge zu sein, wenn auch etwas scheu in Gegenwart von Fremden. Cordelia beobachtete ihn und Kareen mit tiefer persönlicher Anteilnahme.

Mutterschaft, jede Frau erlebte sie. Wie schwer konnte das sein?

»Wie gefällt Ihnen Ihr neues Zuhause bisher, Lady Vorkosigan?«, fragte die Prinzessin, um höfliche Konversation bemüht. Jetzt ging es nur um Plauderei am Teetisch, nicht um nackte Wahrheiten. Nicht vor den Kindern.

Cordelia überlegte. »Der Wohnsitz auf dem Land, im Süden in Vorkosigan Surleau, ist einfach schön. Dieser wundervolle See — er ist größer als jedes offene Gewässer auf ganz Kolonie Beta, aber für Aral ist das einfach selbstverständlich. Ihr Planet ist unvergleichlich schön.« Ihr Planet. Nicht mein Planet? Bei einem Test freier Assoziationen löste das Wort ›Zuhause‹ in Cordelias Bewußtsein immer noch die Vorstellung ›Kolonie Beta‹ aus. Aber sie könnte für immer an diesem See in Vorkosigans Armen ruhen.

»Die Hauptstadt hier — nun, sie ist sicherlich vielfältiger als alles, was wir zu Hau… — auf Kolonie Beta haben. Obwohl«, sie lachte befangen, »hier scheinen so viele Soldaten zu sein. Das letztemal, wo ich von so vielen grünen Uniformen umgeben war, da befand ich mich in einem Kriegsgefangenenlager.«

»Sehen Sie in uns immer noch den Feind?«, fragte die Prinzessin neugierig.

»Oh — ich hatte schon aufgehört, in Ihnen allen den Feind zu sehen, bevor der Krieg zu Ende war. Nur verschiedenartige Opfer, auf verschiedene Weise blind.«

»Sie haben einen durchdringenden Blick, Lady Vorkosigan.« Die Prinzessin nippte an ihrem Tee und lächelte in ihre Tasse. Cordelia blinzelte.

»Palais Vorkosigan tendiert zu einer Kasernenatmosphäre, wenn Graf Piotr dort residiert«, merkte Cordelia an. »All seine Männer in Livree. Ich glaube, ich habe auch schon ein paar Dienstmädchen gesehen, die um die Ecken huschten, aber ich habe noch keines treffen können. Eine barrayaranische Kaserne, das ist es. Mein Dienst in Beta war eine ganz andere Sache.«

»Gemischt«, sagte Droushnakovi. Blitzte in ihren Augen Neid? »Frauen und Männer in gemeinsamem Dienst.«

»Die Zuteilung der Aufgaben erfolgt nach einem Eignungstest«, stimmte Cordelia zu. »Ganz konsequent. Natürlich werden die körperlich anstrengenderen Arbeiten den Männern zugeschoben, aber es scheint mit ihnen nicht dieses seltsame, zwanghafte Statusdenken verknüpft zu sein,«

»Respekt«, seufzte Droushnakovi.

»Ja, wenn Menschen ihr Leben für ihre Gemeinschaft aufs Spiel setzen, dann sollten sie sicherlich deren Respekt genießen«, sagte Cordelia gleichmütig. »Ich vermisse meine … meine Offizierskolleginnen, glaube ich. Die intelligenten Frauen, die Technikerinnen, wie auch meinen Freundeskreis zu Hause.« Da war wieder dieses heikle Wort, ›zu Hause‹.

»Es muß doch auch hier irgendwo gescheite Frauen geben, bei all den gescheiten Männern. Wo verstecken sie sich nur?« Cordelia verstummte, als ihr plötzlich bewußt wurde, daß Kareen diese Bemerkung irrtümlicherweise als eine Verunglimpfung ihrer selbst auffassen könnte.

Wenn sie jetzt anfügte Anwesende ausgenommen, dann würde sie jedoch ganz sicher ins Fettnäpfchen treten.

Doch wenn Kareen es so auffaßte, so behielt sie dies für sich, und Cordelia wurde vor weiteren möglichen gesellschaftlichen Peinlichkeiten durch die Rückkehr von Aral und Illyan bewahrt. Man verabschiedete sich allseits höflich, und sie kehrten nach Palais Vorkosigan zurück.

Am selben Abend tauchte Kommandant Illyan überraschend in Palais Vorkosigan mit Droushnakovi im Schlepptau auf. Sie schleifte einen großen Koffer mit sich und blickte sich mit vor Neugierde funkelnden Augen um.

»Oberst Negri beauftragt Fräulein Droushnakovi mit der persönlichen Sicherheit der Gemahlin des Regenten«, erklärte Illyan knapp. Aral nickte zustimmend.

Später überreichte Droushnakovi Cordelia eine versiegelte Botschaft auf dickem, cremefarbenem Papier.

Cordelia hob die Augenbrauen und öffnete das Schreiben. Die Handschrift war klein und regelmäßig, die Unterschrift leserlich und ohne Schnörkel.

Mit meinen besten Wünschen, stand da. Sie wird bestens zu Ihnen passen.

Kareen.

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