4

Rhapsody durchlitt gerade einen schrecklichen Albtraum, als sich eine schwere, ledrige Hand auf ihren Mund legte. Erschrocken riss sie die Augen auf. Ihr Herz, schon durch den Traum zum Rasen gebracht, pochte so laut, dass sie fürchtete, ihr würde die Brust zerspringen. Doch wie der von Grunthors Hand verwehrte Schrei kam auch das Herz nicht frei, sosehr es auch gegen die Rippen trommelte.

»Pssst, Herzchen. Nich bewegen, und sei schön leise. Verstanden?«, flüsterte der Riese. Rhapsody nickte, worauf Grunthor seine Hand zurückzog.

Unter ihrem Rücken spürte sie den Boden erzittern. Angestrengt lauschte sie in den Wind und glaubte in der Ferne das dumpfe Stampfen galoppierender Pferde zu hören. Es war, als preschte ein Heer von Reitern herbei.

Sie drehte sich auf den Bauch und hielt den Kopf geduckt, um nicht aus der Deckung der dichten Gräser hervorzustechen. Das Lagerfeuer war restlos niedergebrannt.

Grunthor kniete neben ihr und versperrte ihr mit seiner massigen Gestalt den Blick zur Seite. Er zog, offenbar vergnügt, eine Waffe nach der anderen zum Vorschein, mal hinter der Schulter, mal aus den Stiefelschäften, und begutachtete, ein Liedchen summend, jede einzelne Klinge im fahlen Licht des Mondes. Plötzlich, überraschend schnell und lautlos, war er verschwunden. Sie richtete sich suchend auf.

»Folgsam bist du ja nicht gerade, Rhapsody«, meldete sich unmittelbar über ihr Achmeds raue, trockene Stimme. Vor Schreck ließ sie sich ins Gras zurücksinken, blickte auf, sah aber nichts als Dunkelheit. »Grunthor hat dir doch gesagt, du sollst dich nicht von der Stelle rühren, um deiner eigenen Sicherheit willen.«

Sie nahm einen leichten Luftzug wahr und sah einen Schatten aus dem Dunkel hervortreten. Achmed ging neben ihr in die Hocke und sagte: »Aber bitte, wenn’s dir gefällt, kannst du dich auch als Zielscheibe anbieten. Deine idiotischen Freunde sind im Anmarsch.«

»Michael?«, hauchte sie mit brüchiger Stimme.

Aus der Kapuze starrten ihr Achmeds ungleiche Augen entgegen. Dann wandte er sich ab und schaute in die Richtung, die Grunthor eingeschlagen hatte. Es war ein feines Summen wie von Insekten zu hören, als sich Achmed ihr wieder zuwandte und heiser flüsterte: »Seine Männer. Er selbst ist nicht dabei.«

»Woher weißt du das?«

Er gab einen leisen Laut von sich, der nach Verärgerung klang. »Na los, warum stehst du nicht auf, winkst mit den Armen und rufst ihn zu dir? Wenn er da ist, wird er sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«

»Ich, äh... Verzeihung«, stammelte sie flüsternd und schluckte den Kloß hinunter, der ihr vor Angst in der Kehle steckte. Sie erwartete eine Entgegnung, doch die blieb aus, und als sie aufblickte, war er nicht mehr zu sehen. »Achmed?«

Eine laue Brise wehte über sie hinweg, blies ihr dürre Grashalme vors Gesicht und spielte mit ein paar losen goldenen Strähnen. Rhapsody machte die Augen zu und hörte das entfernte Getrappel lauter werden; die Reiter näherten sich. Sie wollte die Augen geschlossen halten, blickte dann aber unwillkürlich zum Himmel auf, um nach Sternen zu suchen, doch der volle Mond überstrahlte sie alle und ließ den Himmel umso schwärzer erscheinen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten und zu lauschen.

Karvolt, Michaels Leutnant, zügelte sein Pferd, ließ es in einen langsamen Schritt zurückfallen und mahnte die anderen per Handzeichen, wachsam zu sein. Das Gras stand hoch und wogte sanft im Wind. Sonst war weit und breit nichts zu sehen. Er spürte jedoch, dass sein Wallach zögerlich wurde, was häufig der Fall war, wenn er Gefahr witterte; aber vielleicht war das Tier auch nur müde und erschöpft. Von ihrem Befehlshaber und dessen Wut über die Flucht der Frau angetrieben, hatte die 20-köpfige Truppe ein höllisches Tempo vorgelegt. Jetzt waren die Reiter allesamt zum Stehen gekommen. Karvolt sah sich aufmerksam um und lauschte über die Geräusche hinweg, die von den überhitzten Pferden seiner Männer ausgingen. Der Nachtwind fuhr durch sein dichtes Haar und streichelte ihm über den Nacken, doch statt den Schweiß zu trocknen, wühlte er nur kalte Schauer in ihm auf. Er versuchte sie abzuschütteln. Bis auf das wogende Gras und die im Mondlicht schleichenden Schatten war noch immer nichts zu sehen.

Er griff mit der Hand unter den Kragen des Kettenhemds, um den lästigen Schürfungen, die sich darunter gebildet hatten, ein wenig Linderung zu verschaffen. Sein Blick richtete sich auf die Männer. Manche lehnten müde am Kamm ihres Pferds, andere hatten Wasserschläuche an den Mund gesetzt und tranken gierig. Karvolt tätschelte seinen Wallach, der immer noch merklich zitterte. Und wieder schaute sich der Leutnant im weiten Panorama der Dunkelheit um. Nichts.

»Vorsicht!«, mahnte er leise. Karvolt tat sich schwer mit Worten und sprach nur, wenn es sein musste.

»Mein Pferd hat Angst. Was ist mit euren?«

Wie zur Antwort auf die Frage ertönte aus ihrer Mitte ohrenbetäubendes Gebrüll, ein Kriegsschrei, der zu gleichen Teilen aus Wut und Lust, Triumph und Wildheit gemischt war. Mit dem Schrei trat sogleich auch sein Urheber in Erscheinung.

Das Mondlicht beleuchtete nur einen Teil des Ungeheuers, dieser gewaltigen Ansammlung von Klauen, Stoßzähnen und Muskelfleisch, verpackt in einer Rüstung aus Leder, die ihn wie eine zweite Haut umhüllte. Dieses Ungetüm wetzte zwei glänzende Schwerter aneinander, richtete sich zur vollen Größe auf, warf den Kopf in den Nacken und fing auf eine Art zu lachen an, die nicht weniger fürchterlich war als der Schrei zuvor.

Wie von ein und derselben Peitsche geschlagen, bäumten sich alle Pferde auf. Sie warfen die Reiter ab wie lästiges Geschmeiß, stampften kreischend umeinander oder wälzten sich wie von Sinnen am Boden, was den Männern, die unter ihre zuckenden Leiber gerieten, schlecht bekam. Dann suchten die Pferde ihr Heil in der Flucht und stoben in panischer Hast auseinander. Ein Soldat, der das Pech hatte, sich im Steigbügel verfangen zu haben, wurde durch das Gras davon gezerrt. Seine qualvollen Schreie brachen plötzlich ab, noch ehe die Pferde verschwunden waren.

»Das wäre dann wohl ein einmütiges Ja auf meine Frage von vorhin«, sagte Karvolt, der sich vom Boden aufgerichtet hatte und keuchend in die Runde blickte.

Was nun auf ihn zukam, sah aus wie ein in Bewegung geratenes Stück Nacht. Als es näher rückte, erkannte er, dass es sich um einen Mann handelte, eingehüllt in einen Umhang mit großer, verschleierter Kapuze; wie ein ominöser Windhauch strich er näher kommend über das Feld. Karvolt wich zurück, stolperte dabei über den zerschmetterten Körper eines seiner Männer und langte mit zitternder, verschwitzter Hand nach dem Schwert.

Er warf einen Blick über die Schulter zurück, sah einen Sattel unter Satteltaschen am Boden liegen, leider aber ein paar Schritte zu weit entfernt, um auf die Schnelle dahinter in Deckung gehen zu können. Zur Linken hörte er eine Klinge niedersausen, die ekligen Geräusche fallender Köpfe und Leiber und das laute Lachen des Riesen, der die Klinge führte.

Sosehr er auch am ganzen Körper zitterte, versuchte Karvolt Haltung zu bewahren. Seine Männer aber hatten den Kampf um Selbstbeherrschung verloren und nahmen Reißaus, was sie indes nicht davor bewahrte, von dem unablässig kichernden Koloss enthauptet oder abgestochen zu werden. In seinen finstersten Albträumen und blutigsten Schlachten an der Seite Michaels hatte er nichts dergleichen erlebt. Er suchte festen Stand, straffte die Schultern und hob das Schwert.

Wer von den Soldaten noch dazu in der Lage war, versuchte daraufhin seinem Beispiel zu folgen und die lähmende Angst zu überwinden. Ohne die Schattengestalt aus den Augen zu lassen, deren Umhang im Wind flatterte, wich Karvolt langsam weiter zurück.

Der Mann kam leichtfüßig näher, hielt kurz vor jedem gefallenen Soldaten an, entwaffnete diesen und parierte lässig letzte, verzweifelte Attacken gegen ihn. Zwar ahnte Karvolt, dass sich seine Männer nach besten Kräften wehrten, doch es schien ihm, als würden sie dem Schattenmann ihre Waffen freiwillig aushändigen. Der bewegte sich dermaßen schnell, dass Karvolt mit den Augen kaum folgen konnte. So blieb es ihm zum Teil erspart, mit ansehen zu müssen, wie seinen Männern, einem nach dem anderen, ein Dolch – scheinbar respektvoll, ja, geradezu freundlich geführt – durch die Kehle fuhr oder durchs Ohr in den Kopf eindrang.

Einem Engelwesen gleich bewegte sich der Mann zwischen den am Boden liegenden Soldaten. Einem bot er seine ausgestreckte Hand wie einem Gefährten, entwand ihm im Handumdrehen das Schwert, um es sogleich zurückzugeben – mit der Spitze voran durch die Achselhöhle in die Brust. Mit fast zärtlicher Gebärde legte er einem anderen den Nacken frei und beförderte ihn so schnell und umstandslos aus dem Leben, dass Karvolt nur staunen konnte. Michael, der sich selbst Wind des Todes nannte, hätte hier erleben können, was diesem Namen in Wahrheit alle Ehre machte. Für Karvolt schien die Zeit stehen zu bleiben, als ihm auf geradezu tröstliche Weise bewusst wurde, dass sein Tod unmittelbar bevorstand. In seinem entrückten Geisteszustand gewahrte er, wie angespannt die Haut rings um die Augen und zwischen den Brauen war. Er ahnte, dass sich sein Gesicht unter dem Eindruck schieren Entsetzens zu einer solchen Fratze verzerrt hatte, wie sie ihm schon etliche Male in Gestalt seiner Opfer zu Gesicht gekommen war. Und doch empfand er nicht die Angst, die durch sie zum Ausdruck kam.

Als der Verhüllte auch den letzten seiner Kameraden ins Jenseits befördert hatte und schlussendlich ihm entgegentrat, hatte sich Karvolt im Grunde schon ergeben. Alle Erfahrung aus vielen Jahren mörderischer Schlacht war jetzt, angesichts des Todes, wie weggewischt.

Unter Aufbietung seiner letzten Willenskräfte schwang Karvolt die vom Vater geerbte Triatine, ohne dass er sich Hoffnung darauf machte, dem Gegner widerstehen zu können. Stolpernd stürzte er rücklings zu Boden, und schon war die Schattengestalt über ihm. Karvolt wähnte sich mit Wohlwollen betrachtet, obwohl er die von der Kapuze verhüllten Augen gar nicht sehen konnte. Eine dünne, eisenharte Hand legte sich um das Heft seiner Waffe. Die Stimme, die ihm ins Ohr flüsterte, war sanft und höflich.

»Du erlaubst.«

Als es um ihn herum noch dunkler wurde, spürte Karvolt, wie ihm die schlanke, dreischneidige Klinge der entschwundenen Triatine durch die Brust drang, und er wunderte sich nur noch über das Ausbleiben jeglichen Schmerzes und darüber, wie mühelos und leicht der Schatten den Stahl aus seinem zurücksackenden Körper wieder hinauszog. Von den Rändern des Gesichtsfeldes ausgehend, trübte sich sein Blick. Dann hörte er nur noch Bruchstücke eines kurzen Wortwechsels zwischen seinem Henker und dem Riesen.

»Den hast du ja richtig lange zappeln lassen.«

»Er hat eine interessante Waffe. Ein schönes Sammlerstück für dich.«

Als Grunthor an den Lagerplatz zurückkehrte, fand er Rhapsody genau so vor, wie er sie verlassen hatte: reglos und mit starren Blick nach oben. Er stieß einen von Michaels toten Soldaten zur Seite, der unmittelbar neben ihr zu Fall gekommen war, streckte ihr seine Riesenhand entgegen und half ihr auf die Beine.

»Alles in Ordnung, Herzchen?«, fragte der Bolg und musterte ihr Gesicht, als sie mit ausdrucksloser Miene auf das Schlachtfeld starrte. Rhapsody nickte. Sie zitterte am ganzen Leib und rieb sich, als fröstelte sie, mit den Händen über die Oberarme. Ansonsten aber zeigte sie keine Regung.

»Darauf kannst du dir was einbilden«, sagte Achmed, und seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er grinste. »Die sind offenbar dem Motto gefolgt: Dich sehen und sterben.«

Rhapsody gingen zwischen den Toten umher und blieb schließlich vor Karvolts Leiche stehen. Die beiden Männer sahen, wie sich ihr schlanker Rücken kerzengerade versteifte. Nach einer Weile hockte sie sich nieder und drehte den Leichnam, bei den Schultern gepackt, herum, um das Gesicht besser erkennen zu können. Und dann war ihr förmlich anzusehen, wie sich eine Welle aus Wut und Abscheu in ihr aufbaute.

Sie sprang auf und versetzte dem Kopf des Toten einen deftigen Tritt mit dem Fuß und gleich darauf einen zweiten und dritten, der noch wuchtiger war. Zwischen flachen Atemstößen spukte sie Flüche aus, wie sie obszöner nicht hätten sein können.

Grunthor war sichtlich beeindruckt und grinste übers ganze Gesicht. »Sapperlot! Ich hör wohl nich richtig. Mir scheint, sie kennt den Burschen.«

Achmed schmunzelte. »Wie kommst du darauf? Sieh zu, wie du sie wieder beruhigst. Wir müssen weiter.«

Der Rauch des Frühstücksfeuers hing schwer in der drückenden Morgenluft und mischte sich unauffällig mit dem aufsteigenden Nebel, was Achmed gut zupass kam. Um sich die Beine zu vertreten, war das Mädchen kurze Zeit vorher zu einem Spaziergang aufgebrochen. Obwohl er sie nicht sehen konnte, spürte er doch ihren Herzschlag, der ruhig und gleichmäßig war und ihm die Sicherheit gab, dass sie an Flucht nicht einmal dachte. Er schürte das Feuer und rührte den klumpigen Brei, der in einem Topf darüber garte.

Die Worte, mit denen sie sich verabschiedet hatte, waren die ersten gewesen, die sie nach langem, die ganze Nacht hindurch anhaltendem Schweigen von sich gegeben hatte. Grunthor hatte sich während des nächtlichen Marsches mehrfach nach ihrem Befinden erkundigt, was ihm jedes Mal mit einem höflichen Kopfnicken quittiert worden war. An ihrem starren Blick glaubte der Riese ablesen zu können, dass sie immer noch unter Schock stand, doch Achmed vermutete, dass sie im Geiste alte Pfade beschritt, Pfade, die rauer waren als die steinigen Felder, die vor ihnen lagen. Wie auch immer, ihm war die eine wie die andere Erklärung ziemlich egal.

Allerdings legte er Wert darauf, Rhapsody auch weiterhin in seiner Begleitung zu wissen. Das hatte er schon beim Aufbruch aus Ostend so gesehen, und inzwischen war er sogar überzeugt davon, dass sie ihm noch nützlich sein mochte. Seine Sicherheit sah er nicht durch sie gefährdet, und dass sie Probleme mit dem Luftverschwender hatte, kümmerte ihn nicht weiter. Für ihn zählte nur eins: dass er über sie die Chance wahrte, in Erfahrung zu bringen, was mit seinem Namen geschehen war.

Von dem unsichtbaren Sklavenjoch, das er unter dem Einfluss des F’dor hatte tragen müssen, war er jedenfalls befreit, das spürte er. Es war genau in dem Augenblick von ihm abgefallen, als Rhapsody ihn in jener dunklen Seitengasse von Ostend auf ihre mysteriöse Weise angesprochen hatte. Mehr noch, sie hatte nicht nur seinen Rufnamen geändert, sondern einen ganz anderen Menschen aus ihm gemacht. So viel Macht in der Hand eines Mädchens, das ansonsten einen leicht verrückten Eindruck machte, fand er dann doch sehr gefährlich. Wer den Willen des F’dor zu beugen vermochte, hatte offenbar in der Tat ungeheuere Möglichkeiten. Eine Verrückte mit Macht. Fabelhaft, dachte Achmed schnaubend.

Auf sein Erbe schien sich der Namenswechsel allerdings nicht ausgewirkt zu haben. Nach wie vor hörte er die Herzen von Millionen schlagen, in seinen Träumen und in jedem wachen Augenblick, so wie immer seit seiner Geburt.

Was seine neue Identität im Einzelnen ausmachte, würde sich noch zeigen müssen. Auch darum war es unerlässlich, dass sie bei ihm blieb, wenigstens bis zur Ankunft an ihrem gemeinsamen Bestimmungsort. Er brauchte völlige Klarheit und konnte keine offene Frage dulden. Vor seiner Versklavung war der Bruder nicht nur Herr über sein eigenes Schicksal gewesen, sondern auch über das all derer, die er sich erwählte. Womöglich hatte die Benennerin ihn durch ihr Tun in diesen Stand zurückversetzt – oder auch nicht. Er tappte im Dunkeln. Andere wären glücklich über ihre Rettung gewesen; Achmed war bloß verärgert.

In der Ferne hörte er zarte, helle Töne im auffrischenden Morgenwind erklingen, Töne, die das ewige Pochen in seinem Blut erträglicher machten und Klarheit in seine Gedanken brachten. Das Mädchen hatte zu singen angefangen. Gelbrotes Sonnenlicht durchbrach das dunkle Himmelsblau und ließ den Dunst aus Rauch und Nebel aufleuchten. Er drehte sich um und schaute zu Grunthor, der gerade erwacht war und in die Richtung blickte, die das Mädchen wie in Trance eingeschlagen hatte. Der Riese schüttelte den Kopf, als wollte er den Schlaf abschütteln, und begegnete dem Blick des Gefährten.

»Was ist das?«

Der Mann, der jetzt Achmed, die Schlange hieß, rührte den scharf riechenden Brei kräftig durch.

»Sie hält Andacht.«

»Hä?«

Er klopfte den Löffel am Topfrand ab. »Sie ist eine Liringlas, eine Himmelssängerin, also eine von denen, die den Auf- und Niedergang der Gestirne besingen.«

Der Riese grinste breit. »Wie lieblich. Was du nich alles weißt. Woher?«

Achmed zuckte nur mit den Schultern. Dhrakier und Lirin unterhielten von alters her enge Beziehungen. Den Riesen über Einzelheiten aufzuklären war ihm jetzt nicht wichtig genug. Wenig später war das schöne Lied verklungen, und das wohlige Empfinden, das es mit sich gebracht hatte, ging wieder verloren. Als Rhapsody ins Lager zurückkehrte, hatte sich Achmeds verhüllte Miene wieder verfinstert. Sie aber zeigte sich wie verwandelt, gut gelaunt, fast heiter.

»Guten Morgen«, grüßte sie lächelnd.

Grunthor erwiderte ihr Lächeln. »Morgen, Herzchen. Fühlst du dich besser?«

»Ja, danke. Guten Morgen, Achmed.« Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie neben ihrem Gepäck Platz und öffnete die Lederriemen. »Vielen Dank für ... euren Beistand letzte Nacht.«

Die Sonne zerschnitt den Horizont in ihrem Rücken und überflutete sie mit rosig goldenen Strahlen, die ihre Haare aufleuchten ließen. Sie nahm ein Stück Brot aus der Westentasche und klopfte die Krumen von den langen Ärmeln der weißen Musselinbluse, die von Gras und Erde ganz dreckig geworden war. Mit ausgestreckter Hand bot sie den anderen an, das Brot mit ihr zu teilen, worauf diese aber kopfschüttelnd verzichteten.

»Beeil dich«, sagte Achmed und löffelte Brei in zwei verbeulte Blechnäpfe. »Wir haben heute noch eine weite Strecke zurückzulegen.«

Rhapsody hörte plötzlich zu kauen auf und schluckte, was ihr sichtlich Mühe machte. »Wir? Heute? Was soll das heißen?« Wortlos reichte Achmed dem Riesen einen der beiden Näpfe und fing selbst zu essen an, ohne auf ihre Frage geantwortet zu haben. »Michaels Leute sind doch alle tot, wenn ich mich richtig erinnere.«

Der Dhrakier senkte seinen Napf. »Seid ihr Benenner alle so voreilig in euren Vermutungen? Er hat viele Männer. Der Trupp von gestern war nur eine kleine Abteilung. Glaubst du wirklich, das wäre schon alles, was er aufzubieten hat?« Er ignorierte Grunthors Blick, der ihn von der Seite traf, und löffelte weiter.

Rhapsody wurde ganz blass im Gesicht; ihre Miene aber blieb ruhig und gelassen. »Wie weit ist es bis zum Baum?«

»Nicht ganz zwei Wochen, wenn das Wetter mitspielt und die Strecke frei bleibt.«

Wieder nickte die Sängerin. »Und ihr wollt immer noch, dass ich mit euch komme?«

Achmed holte mit dem Zeigefinger die letzten Breireste aus den Tiefen des Napfes, schleckte sie ab und putzte dann, ehe er ihn zu seinen Sachen steckte, den Napf und das übrige Geschirr mit einem Grasbüschel sauber. Erst als er sein Gepäck geschultert und seine Waffe unter den schwarzen Umhang gesteckt hatte, antwortete er: »Wenn du mit uns Schritt halten kannst und keine dummen Fragen stellt, werde ich darüber nachdenken.«

Sie legten ein brutales Tempo vor, marschierten in langen Streckenabschnitten, mal bei Tage, mal bei Nacht, und gönnten sich kaum eine Rast. Achmed bestimmte, wann und in welcher Richtung es weiterging; Rhapsody hatte den Eindruck, als folgte er einem inneren Sinn, der ihn vor Gefahren warnte.

Manchmal hielten sie sich stundenlang versteckt, um Fremde, die des Wegs kamen, passieren zu lassen. Solche Pausen nutzte sie zum Schlafen, wusste sie doch nie, wann sich die nächste Gelegenheit dazu bieten würde. Wenn es Achmed für richtig erachtete, marschierten sie auch manchmal einen ganzen Tag lang durch. Die Männer waren ein schnelles Tempo gewohnt. Anfangs tat sich Rhapsody noch etwas schwer, aber nach einer Woche war sie gut in Schwung und ebenso flink auf den Beinen.

Schließlich, gegen Mittag des zwölften Tages, zeigte Achmed nach Süden und blieb stehen. Mit dem Riesen tauschte er ein paar getuschelte Worte in einer Sprache, die Rhapsody außer zwischen den beiden nirgends sonst je gehört hatte.

Grunthor wandte sich ihr zu und fragte: »Na, Herzchen, wie sieht’s aus? Schaffst du jetzt auch noch ein Dauerlaufchen über zehn Meilen?«

»Einen Dauerlauf? Es wird Zeit, endlich mal wieder eine Rast einzulegen. Ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten.«

»Das hab ich befürchtet. Sei’s drum, na, komm.« Er ging in die Hocke und klopfte sich auf die Schulter. Rhapsody starrte ihn verwundert an; sie war vor Erschöpfung ganz verwirrt und brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass er sie auf den Schultern tragen wollte, was ihr überhaupt nicht gefiel. Allein der Anblick der vielen Hefte und Klingen, die, in verschiedenen Schlingen und Scheiden steckend, seinen Rücken kreuzten, ließ sie erschauern.

»Nein, tut mir Leid, das kann ich nicht.«

Nun wandte sich auch der Verhüllte ihr zu. Er war merklich verärgert und sagte: »Wir sind fast am Ziel. Du hast die Wahl: Sollen wir dich hier zurücklassen, oder willst du Grunthors Angebot nicht doch lieber annehmen? Die Wälder sind schon zu sehen – nicht aber diejenigen, die sie verteidigen. Wir leben in gefährlichen Zeiten. Diese Burschen gehen kein Risiko ein und fackeln nicht lange, wenn Fremde an ihren Außenposten vorbeikommen.«

Rhapsody blickte sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, und sah auch keinen Wald. Während des so überaus anstrengenden Marsches hatte sie schon mehrmals in Erwägung gezogen, zurückzubleiben und die beiden ziehen zu lassen, in der Hoffnung, mit ein wenig Glück auf angenehmere Weggefährten zu treffen. Aber wie schon zuvor musste sie sich auch jetzt eingestehen, dass sie den beiden ihr Leben verdankte und sich in ihrer Gesellschaft zumindest sicher fühlen konnte. Also schluckte sie ihr Unbehagen hinunter und stimmte zu. »Na gut, aber zuerst versuche ich’s auf eigenen Beinen.«

»Wie du meinst, Herzchen. Wenn du müde bist, sag mir Bescheid.«

Sie verdrehte die Augen. »Müde bin ich schon seit Tagen. Ich melde mich, wenn ich nicht mehr weiter kann.«

»Einverstanden«, sagte der Riese.

Der Mond nahm ab. Von einem Hof aus blutrotem Dunst umgeben, schwebte er über den Horizont wie ein stummer Zeuge der vom F’dor gestellten Szene.

Der hatte aus der Tiefe des dunklen Tempels einen Ruf ertönen lassen, der durch den massigen steinernen Turm gedrungen war und nun schwarz am nächtlichen Himmel stand.

Der hoch aufragende Obelisk war ein architektonisches Wunder, ein Meisterwerk der Zusammenarbeit von Mensch und Natur. Tausende von Tonnen aus Basalt und Obsidian schwangen sich auf in die Dunkelheit über der gut versteckten Höhle in den Kammlagen des verbotenen Gebirges im Norden von Serendair. Als Turm der Mammutfestung, der tief unter der Oberfläche sein Fundament hatte, durchstach der schwarze Monolith die vom Wind zerrissene Wolkendecke, reckte sich mit geradezu hochmütigem Stolz in den Himmel und lief in einer Spitze aus, in die das Abbild eines einzelnen Auges eingraviert war. Kaum hatte der F’dor seinen Gesang angestimmt, lösten sich die in der feuchten Luft rings um die Turmspitze hängenden Nebelschleier auf. Das Auge machte sich bereit. Die uralte Beschwörungsformel, vor dem Altar des Blutopfers intoniert, war einer längst ausgestorbenen Sprache entlehnt; sie stammte aus der fernsten Vorzeit, in der die Elemente des Universums geboren worden waren. In ihr kam die ursprünglichste aller Verbindungen zum Ausdruck: die Verwandtschaft zwischen dem Element des Feuers und der aus ihm hervorgegangenen Rasse der F’dor.

Die wenigen noch lebenden F’dor – jene gespenstischen Wesen von habgieriger, neidischer Natur – trachteten danach, die Welt in Schutt und Asche zu legen. Wie das Feuer, dem sie entstammten, hatten die F’dor keinen festen Körper und zehrten wie Flammen von Brennstoff – von einem Wirt, der unweigerlich zugrunde ging.

Der Dämonengeist, der sich Tsoltans, des Hohepriesters der Göttin der Leere, bemächtigt hatte, war langsam und geduldig zur Macht aufgestiegen. Im feurigen Bauch der Erde geboren, hatte er diesen Aufstieg von langer Hand und Schritt für Schritt geplant und mit viel Bedacht seine jeweiligen Wirte ausgewählt, von denen er nach Lust und Verlangen schmarotzte.

Die ersten Wirte waren noch schwach und einfältig gewesen. Nach und nach wechselte er auf mächtigere Stützen über, gab sich aber auch ihnen nicht zu erkennen. Die Inbesitznahme von Tsoltan war ein ausgesprochener Glücksfall gewesen. Der hatte zu diesem Zeitpunkt sein Priesteramt gerade erst angetreten und verlieh ihm doppelte Kraft, zumal er selbst ein zweigeteiltes Leben führte, nämlich zum einen als Mensch unter Menschen, zum anderen als Dämon im Schattenreich des schwarzen Feuers.

Doch nichts davon gab ihm die Macht über den Bruder zurück.

Vom Sockel des Turms stieg Nebel in die sommerlich schwüle Luft des Nachthimmels auf. Heißer Dampf wallte und tanzte im heller werdenden Mondlicht und nahm allmählich menschliche Gestalt an. Zuerst war es nur eine, aber zu ihr gesellten sich immer mehr, bis schließlich eine Vielzahl schimmernder Gestalten das starrende Auge in der Spitze des Obelisken umringte. Sie waren alle wie der Bruder gekleidet, doch an Stelle von Gesichtern zeigte sich nur Schwärze im Ausschnitt der Kapuzen. Die Gewänder aus Nebel schienen an dürren Gerippen zu hängen, die aber, je länger der Gesang andauerte, scheinbar Fleisch ansetzten, sehnige Muskeln und flammende Klauen ausbildeten – Zeichen der dämonischen Kraft, die sie gebar: die tausend Augen der F’dor, der Shing. Tief unten in der riesigen Grotte sah Tsoltan dem Schauspiel durch das Obeliskenauge zu und bebte vor Anstrengung und Freude. Die Gestalten schwebten reglos in der Luft und sogen die Hitze auf, die er ihnen auf eigene Kosten an Kraft zuteil werden ließ.

In den leeren Kapuzen war hin und wieder ein Glimmern zu sehen, Widerspiegelungen des Mondlichts vielleicht, wohl eher aber Reflexionen der Linse des riesigen Auges, das sie nun bildeten. Wie ihr Meister ein Pendler zwischen zwei Welten, waren die Shing soeben aus dem Reich der Geister auf die Ebene der Fleisch gewordenen Menschen hinübergewechselt – und warteten. Sie waren flüchtig wie der Wind, aber nicht so unstet: Einmal auf ein Opfer angesetzt, verfolgten sie es so unnachgiebig wie die Zeit und unerbittlich wie der Tod.

Tsoltan klammerte sich am Rand des Altars fest. Seine Kräfte nahmen ab wie der Mond über den Feldern. Gleich würden sich seine tausend Augen auf den Weg machen und alle Winkel der Welt absuchen, bis sie ihre Beute endlich gefunden hätten. Und dann würde Entsetzliches zu erwarten sein. Der Dämonenpriester konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, sosehr hatten ihn die Shing geschwächt. Tsoltan fragte sich, ob denn der Bruder seinen Opfermut überhaupt zu würdigen vermochte. Er knickte in den Knien ein, prallte mit dem Kopf auf den Boden, schlug sich die Brauen auf und befleckte das schwarze Gestein mit seinem Blut.

»Der Bruder«, flüsterte er winselnd. »Findet ihn!«

Tsoltan, der Hohepriester, halb Mensch, halb Dämon, wälzte sich auf den Rücken und starrte in die Finsternis nach oben, wo in schwindelnder Höhe und unter dem Blick des einzelnen Auges tausend Shing mit dem Wind davonschwirrten.

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