Kaum hatten sie den Wyrm-Tunnel hinter sich gelassen, lebte Achmed wieder auf. Er konnte sich bald wieder frei bewegen, bestand darauf, ohne Hilfe zu gehen, und lauschte wie zuvor dem dumpfen Pulsieren. Daran hatte sich nichts geändert.
Die drei machten sich nun weiter daran, einen Ausstieg aus der Erde zu finden, und dass sie unterwegs kaum ein Wort miteinander wechselten, war mittlerweile fast schon zur Gewohnheit geworden. Achmed schwieg sich aus über die Begegnung mit dem Wyrm, und Rhapsody wagte es nicht, ihn darauf anzusprechen. Sie ahnte, dass er noch einige innere Kämpfe mit sich auszutragen hatte, hoffte aber, dass er später von sich aus die Sprache darauf bringen würde.
Über eine lange Strecke nahm der Wurzeltunnel einen fast durchweg geradlinigen Verlauf. Es gab nur ganz wenige Richtungsänderungen, doch mal ging es bergan, mal bergab, was zweifellos daher rührte, dass sich der Grundwasserspiegel im Verlauf des Wurzelwachstums immer wieder verschoben hatte. Mit zunehmender Tiefe schien der Tunnel meist auch größer zu werden, häufig so groß, dass sie sich aufrecht darin fortbewegen konnten.
Ab und an gelangten sie in weite, offene Räume, über die sich ein hohes Gewölbe spannte. Dort konnten sie endlich tief durchatmen. Grunthor vermutete, dass die Wurzel an solchen Stellen vormals große Mengen Wasser aufgesogen hatte und entsprechend dick angeschwollen war, um dann später wieder schrumpfend Weiterzuwachsen. Diese hohen Räume waren besonders gefährlich, denn es kam nicht selten vor, dass Teile der Wände einstürzten. Häufig wimmelte es auch gerade hier vor Ungeziefer und Gewürm.
»Sie kommen.« Achmeds Stimme weckte Rhapsody aus tiefem Schlaf. Benommen griff sie nach ihrem Schwert Lucy. Die drei hatten in einer weiten Höhle ihr Lager aufgeschlagen, die so viel Spielraum bot, dass sie frei und ungehindert ihre Waffen führen konnten.
Obwohl es ihr mittlerweile fast schon zur lästigen Routine geworden war, sich der widerlichen Würmer zu erwehren, war es immer noch so, dass ihr Achmeds Warnung kalte Schauer über den Rücken laufen ließ. Doch die vielen in den Straßen der Großstadt zugebrachten Jahre hatten ihr die Kraft gegeben, sich auch abstoßenden Notwendigkeiten zu stellen, und so streifte sie die Strähnen aus dem Gesicht und blickte nach vorn in die Dunkelheit.
Nimmt das denn überhaupt kein Ende?, fragte sie sich, als die Würmer näher krochen. Rhapsody hatte gelernt, sie im Dunklen zu bekämpfen, denn Licht brachte das Gewürm nur noch mehr auf und führte dazu, dass es umso schneller und wütender angriff. Wie oft müssen wir das noch über uns ergehen lassen?
Im matten licht der phosphoreszierenden Flechten an den Höhlenwänden ließ sich erkennen, dass die Würmer über die Wurzel aus der Tiefe gekrochen kamen. Sie breiteten sich auf ihr aus wie ein dickes Leichentuch, schwärmten aus und fielen schließlich von den Wurzelzweigen aus dem Gewölbe auf sie herab.
Die drei standen in Bereitschaft. Grunthor hatte seinen Lopper gezogen, Achmed hielt eine dünne, silbrig schimmernde Klinge in der Hand, der er noch keinen Namen gegeben hatte. Die Würmer tropften einer nach dem anderen herab, und dann zuhauf wie welke Blätter im Herbst.
Rhapsody und ihre drei Begleiter mussten sich längst nicht mehr aufeinander absprechen. Sie bildeten einen Kreis und schlugen nach Kräften auf das Gewürm ein. Achmed wusste sein Schwert so schnell zu führen, dass er sich wohl auch allein hätte behaupten können. Rhapsody und Grunthor hingegen waren aufeinander angewiesen und koordinierten ihre Gegenwehr. Mal schlug der Bolg zu und gab der Sängerin Gelegenheit auszuweichen, und dann war sie an der Reihe, während er sich vor den schmerzhaften Bissen in Sicherheit brachte. Nicht immer ging diese Taktik auf. Manchmal trafen ihre Hiebe auch ins Leere, doch meistens hatten sie Erfolg. Die kriechende Masse drängte näher. Bald würden es die drei nicht länger mit einzelnen Würmern zu tun haben, sondern mit einem gefräßigen Ganzen, das sich ihnen entgegenwarf. Achmed blieb es überlassen, die Attacken von oben abzuwehren, während sich Rhapsody und Grunthor auf das Gewimmel am Boden konzentrierten.
Rhapsody deckte die linke Seite ab, Grunthor die rechte, und Achmed sah zu, dass ihnen die von oben herabfallenden Schmarotzer nichts anhaben konnten.
Mehr als alles andere waren für Rhapsody gerade diese gemeinsam ausgefochtenen Kämpfe eine überzeugende Demonstration dafür, dass sich zwischen ihnen dreien mit der Zeit ein festes Vertrauensverhältnis entwickelt hatte. Achmeds Klinge zischte über ihre Köpfe hinweg, um sie vor den Bissen zu bewahren, die nicht nur schmerzhaft waren, sondern auch ein Gift übertrugen, das ein dauerhaftes Jucken und Brennen verursachte und nicht selten gar zu Fieberkrämpfen führte. Achmed musste sich voll und ganz darauf verlassen können, dass die Gefährten ihm die herankriechenden Massen vom Leibe hielten. Mitten im Gefecht wunderte sich Rhapsody manchmal darüber, dass drei so unterschiedliche Personen zu einem so schlagkräftigen Kampftrupp hatten zusammenfinden können, einem Verband, in dem sie inzwischen ein gleichberechtigter Partner war. Von den Schwertern getroffen, zerplatzten die Würmer mit einem scheußlichen Geräusch, und es entströmte ihnen ein Saft, dessen ekliger Gestank noch lange Zeit nach dem Kampf in den Kleidern hing. Es war ein ums andere Mal ein grauenvoller Albtraum, der erst mit dem letzten noch lebenden Wurm zu Ende ging. Wenn ein solcher Angriff schließlich – so wie jetzt – glücklich überstanden war, ließ sich Rhapsody erschöpft zu Boden fallen – nicht ohne vorher die Kadaver zwischen den Füßen weggetreten zu haben.
Jetzt galt es, die Klingen zu putzen und den ganzen Körper gründlich absuchen, denn womöglich hatte sich der eine oder andere kleine Wurm an irgendeiner verdeckten Stelle in der Haut festgebissen. Sie würden reglos warten, bis ihr Opfer eingeschlafen wäre, um sich dann mit ihren violetten Köpfen in den Körper zu bohren, Blut zu saugen und Krankheit und Schmerz zu verbreiten.
Rhapsody hatte, einem Ratschlag Grunthors folgend, einen ihrer Daumennägel lang wachsen lassen, um damit die zwischen den Nähten der Kleider steckenden Parasiten besser unschädlich machen zu können. Das war, wie sie erfuhr, auch der eigentliche Grund für die Klauen der Bolg: Sie eigneten sich bestens zum Entlausen.
»Und ich dachte, damit würdet ihr eure Gegner zerfleischen«, hatte sie gestanden.
»Dazu sind sie auch ganz gut«, hatte er grinsend zur Antwort gegeben.
Als sie mit ihrer Leibesvisitation fertig war und aufblickte, sah sie Achmed vor sich ins Leere starren.
»Was ist los?«
Achmed wandte sich Grunthor zu. »Ist dir auch aufgefallen, dass sie in letzter Zeit in immer größeren Mengen aufkreuzen?« »Ja.«
»Vielleicht liegt’s an der Hitze.« »Hitze?«, fragte Rhapsody irritiert.
Achmed schien sich über sie zu wundern. »Ja, spürst du denn nichts davon?«
Darauf aufmerksam gemacht, fiel auch ihr auf, dass die Luft ein wenig wärmer geworden war. »Jetzt merk ich’s auch.« »Da ist ein Feuer in der Nähe, ich fühl’s genau«, sagte Grunthor. Rhapsodys Blick verdüsterte sich. »Ein Feuer an der Wurzel? Könnte es von irgendwelchen Bergwerken herrühren oder von einem Vulkan vielleicht?«
»Vielleicht«, antwortete Achmed gelassen. »Es könnte aber auch sein, dass wir dem Mittelpunkt der Erde näher gekommen sind. Es heißt, dass er aus Feuer besteht.«
Unwillkürlich schnappte Rhapsody nach Luft. Sie hatte auch davon gehört, und der Gedanke daran ließ ihren Mut sinken.
Wenn sie sich jetzt erst dem Kern näherten, hatten sie nicht einmal die Hälfte der Strecke bewältigt. Außerdem wäre an dem Feuer kein Vorbeikommen. Wenn der Weg durch die Mitte führte, liefen sie geradewegs in eine Falle.
»Kommst du?« Achmeds Stimme riss sie aus ihren sorgenvollen Gedanken.
Sie stand auf, dehnte die verspannten Muskeln der Beine und im Rücken. »Mir wird nichts anderes übrig bleiben.« Sie steckte das Schwert in die geschulterte Scheide und setzte sich in Bewegung. Es dauerte nicht lange, und sie gerieten erneut in Schwierigkeiten. Von einem Feuer war zwar nichts zu sehen, aber es wurde immer heißer. Anscheinend näherten sie sich tatsächlich einer infernalischen Hitzequelle.
Rhapsodys Haare, in letzter Zeit stets feucht und strähnig, waren jetzt verfilzt und strohtrocken. Die von der Feuerquelle ausstrahlende Hitze trocknete auch ihre Kleider aus, die nach so langer Zeit unter Tage nicht viel mehr waren als zerfetzte Lumpen. Mit der Wärme kamen Schmerzen und Tröstung zugleich. Den Knochen und Gelenken tat sie gut, die Haut aber wurde spröde und rissig.
Hinzu kam, dass sich das Lied der Erde hier veränderte. Das einzig Angenehme ihrer Reise durchs Dunkle waren die Momente, wenn sie sich flach auf den Boden legte und die tiefen, modulierten Schwingungen auf sie übergehen spürte, jenes Lied der singenden Wurzel, das die unendliche, kollektive Weisheit der Zeit als Echo widerhallen ließ. Dieses Lied war melodiöser und bewegter geworden.
»Ich frage mich, ob es der Wurzel besser geht, wenn keine Schmarotzer in der Nähe sind«, sagte sie.
»Fühlst du dich nicht auch wohler?«, entgegnete Grunthor.
»Wir haben diesem Geschmeiß jedenfalls mächtig zugesetzt und seine Gesamtzahl um einiges zurückgestutzt«, sagte Achmed und sah sich zwischen den Basaltwänden um.
»Aber nicht ganze Arbeit geleistet – ihr zwei lebt schließlich noch«, frotzelte Rhapsody. Achmed schmunzelte und zeigte eine Miene, die sie vorher noch nicht bei ihm gesehen hatte. Wie die Wurzel so schienen die drei Gefährten neu aufzuleben.
Es dauerte noch eine Weile, bis das Feuer in Sicht kam. Längst hatten sie alle Mittel und Möglichkeiten der Zeitbestimmung verloren, und so war es ihnen unmöglich einzuschätzen, wie lange sich die Hitze schon bemerkbar machte, ohne dass ihre Quelle tatsächlich zu sehen war. Rhapsody aber war inzwischen der bolgischen Sprache mächtig, und Grunthor konnte nun nicht nur schreiben, sondern verstand sich auch auf Kalligrafie und Notenschrift.
Wie viel Zeit ist schon vergangen? Ein Jahr? Mehr?, fragte sich Rhapsody eines Nachts im Stillen. So lange haben wir die Hitze bestimmt schon gespürt. Sie begann daran zweifeln, dass sie die Feuerquelle jemals zu Gesicht bekommen würde.
Ein fernes Glimmen indes ließ sie aufmerken. Die Felsen am Rand des Tunnels fingen in einem dunklen Rot zu schimmern an, die schon seit so langer Zeit empfundene Hitze nahm noch zu. Dass sie eine halbe Ewigkeit durch klamme Kälte gekrochen waren, hatten sie fast schon vergessen. Es gab zwar noch reichlich Wasser, aber das Erdreich ringsum war trocken; die Hitze hatte ihm alle Feuchtigkeit entzogen.
Die gestiegene Temperatur machte das Vorankommen leichter, barg aber auch zusätzliche Gefahren. Manchmal fingen die Kleider oder das Gepäck gar zu schwelen an; das Metall der Waffen war so heiß, dass man sich fast die Finger daran verbrannte. Trinkwasser zu finden wurde immer schwerer, was sie sehr besorgt machte.
Schließlich hielt Achmed an und ließ die anderen zu sich aufschließen. »Feuer«, sagte er einfach nur. Grunthor spähte in die Ferne und schüttelte den Kopf. Auch Rhapsody konnte nichts erkennen, aber sie wusste längst, das Achmed sehr viel schärfere Augen hatte und vor allem im Dunkeln besser sehen konnte.
Sie gingen weiter und weiter, und schließlich sah auch Rhapsody flackernden Flammenschein im Tunnelausschnitt vor sich. Der spröde Boden, das heißt die Wurzel, auf der sie sich bewegten, riss unter dem Gewicht ihre Schritte stellenweise auf. Ungemein hoch wölbte sich nun die Decke über ihren Köpfen. Je weiter sie vorwärts drangen, desto deutlicher wurde, dass der gesamte Stollen, den sie passieren mussten, unter Flammen stand.
Das Feuer im Erdkern brannte in tausend schillernden Farben, aber doch auch merklich weniger hell als ein Feuer in frischer Luft. Blau und violett und weiß zuckten und wanden sich die Flammen umeinander, erreichten jeden Winkel und zwangen ihr Licht und ihre fließende Glut in jede Öffnung, jeden Spalt. Rhapsody stand und staunte, verzückt über den Anblick, musste aber bald die Augen schließen, um sich vor dem heißen Glanz zu schützen.
»Verfluchter Hrekin«, knurrte Grunthor. »Wir stecken in der Falle. Da hätten wir genauso gut in Ostend bleiben können.«
Achmed schwieg.
Mit geschlossenen Augen hörte Rhapsody zu, nicht den enttäuschten Gefährten, sondern dem Lied des Feuers. Anders als der tiefe, dumpfe Ton der Erde rauschte und kollerte das Feuerlied voller Lebenskraft und sang eine Melodie, schöner als alles, was sie in letzter Zeit gehört hatte. Die Musik rief Erinnerungen in ihr wach, die so süß waren, dass sie fast wehtaten, Erinnerungen an Abende vor dem Kaminfeuer, wo sie sich von der Mutter die Haare hatte bürsten lassen, an Erntefeuer, um die sie ausgelassen herumgetanzt war, an ihren ersten Kuss im Schein eines Lagerfeuers unter herbstlichem Himmel. Die leuchtende Glut schimmerte auf ihrem Gesicht und ließ die zerzausten Haare wie eine Aureole erstrahlen. Aus den Flammen tönte ein Ruf, eine Aufforderung zum Tanz, der sie liebend gern nachgekommen wäre. Unwillkürlich trat sie einen Schritt vor.
Starke, knorrige Hände packten sie bei der Schulter und wirbelten sie herum. Erschrocken schlug sie die Augen auf.
»Was tust du da?«, zischte Achmed und musterte sie mit entrüsteter Miene. »Wo willst du hin?«
Noch ehe sie über eine Antwort nachgedacht hatte, purzelte das Wort über ihre Lippen.
»Vorwärts.«