Du bist der Schmutz, auf dem ich steh, der Kehricht unter meinen Füßen, versuche nur, dich mir zu widersetzen, du wirst es schrecklich, schrecklich büßen.
Der Sergeant lässt sich nicht verspotten. Egal, wie er auch zu dir steht, sprich du nur ja nicht schlecht von ihm, sonst wird der Hals dir umgedreht.
Rhapsody schmunzelte in sich hinein, als Grunthors tönender Bass unter ihr verhallte. Dem Bolg-Sergeanten . waren offenbar die Truppen durchgegangen, Truppen, über deren Art und Zusammensetzung noch spekuliert werden mochte. Jedenfalls schien er sich mit seinen Marschgesängen die Zeit vertreiben zu wollen, und ihr, Rhapsody, eröffneten sie einen interessanten Blick auf die Militärlaufbahn des Bolgs. Vor allem aber lernte sie ihr Glück zu schätzen, bislang von ihm verschont geblieben zu sein.
Ein kleines Dickicht aus dünnen Wurzeln bot ihnen einen geeigneten Platz für eine Rast. Rhapsody nahm die Gelegenheit wahr und massierte, um sich ein wenig aufzuwärmen, die Arme mit hastiger Hand. Gleichzeitig versuchte sie, den nervösen Herzschlag zu beruhigen, doch das flaue Gefühl in der Magengrube und das als Kloß im Hals steckende Grausen ließen sich nach wie vor nicht abschütteln. Endlich, nach unübersehbar langer Zeit, war das Ende des Schachts fast erreicht. Über ihnen wölbte sich eine riesige finstere Kuppel, wo Rhapsody den Himmel wähnte. Vielleicht ist es draußen dunkel, dachte sie, ahnte aber sehr wohl, dass der Anstieg länger als eine Nachtspanne gedauert hatte.
»Wartet«, rief Achmed, als er sich dem Rand der Öffnung näherte. Grunthor und Rhapsody hielten an und sahen seinen Schatten das letzte Stück am Wurzelturm emporklettern, der zur Öffnung des Schachtes hin noch einmal weit ausladend in die Breite ging, so sehr, dass der Blick nach oben verborgen war.
Rhapsody schaute zu Grunthor hinüber. Im Laufe der sich endlos hinziehenden Reise hatte sie immer mehr Zutrauen zu ihm gefasst. Sogar seinem Gefährten gegenüber war sie inzwischen ein wenig freundlicher gestimmt, auch wenn sie ihm noch nicht verziehen hatte und er ihr nach wie vor ein Rätsel war. Jetzt, da es so schien, als wäre das gemeinsame Ziel bald erreicht, wurde ihr bewusst, dass der riesige Bolg mitnichten das Ungeheuer war, vor dem man ihr als Kind Angst gemacht hatte, sondern im Gegenteil ein Mann, der etliches mehr zu bieten hatte als so manch andere.
»Grunthor?«
Der Sergeant schlug die bernsteinfarbenen Augen auf. »Ja, Herzchen?«
»Für den Fall, dass wir am Ende nicht mehr dazu kommen, uns in aller Form zu verabschieden, möchte ich dir jetzt schon einmal von Herzen für alles danken.«
Schmunzelnd blickte Grunthor empor zu der Stelle, an der Achmed verschwunden war. »Nichts für ungut, Euer Liebden.«
»Es tut mir Leid, wenn ich dich anfangs mit meinen dummen Vorurteilen über deinesgleichen beleidigt haben sollte.«
Grunthors Schmunzeln wurde merklich breiter. »Nett von dir, aber keine Bange, ich hab ein ziemlich dickes Fell. Und außerdem muss ich sagn, dass du für eine Liringlas gar nich mal so übel bist. Ich kenne sonst kaum ein Völkchen, das dermaßen ungenießbar wäre wie die Lirin.«
Rhapsody lachte. »Was für Lirin sind dir denn überhaupt schon über den Weg gelaufen?«
»Oh, die ganze Palette. Ich hab Lirin aus den Städten kennen gelernt, Berg-Lirin und solche, die am Meer leben. Vom Aussehen her sind sie alle ziemlich ähnlich, spillerige Knirpse mit spitzen Gesichtern und großen Augen. Farblich scheint’s allerdings große Unterschiede zu geben. Du bist kein Vollblut, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ein Halbblut. Richtige Lirin schauen auf mich als Mischling herab.«
»Unter Hunden sind gerade die die Besten. Mach dir nichts draus. Und es steht dir gut zu Gesicht. Du bist ’n hübsches kleines Ding, nicht so dürr und eckig wie andere Lirin.«
»Danke.« Das sonderbare Kompliment brachte sie zum Lachen. »Und du bist der netteste Firbolg, dem ich je begegnet bin – was, zugegebenermaßen nicht viel besagt, denn du bist der Erste und bislang Einzige.«
»Das stimmt nicht ganz«, tönte eine Stimme von oben, die Rhapsody vor Schreck zusammenfahren ließ. Achmed war zurückgekehrt.
»Doch. Ich kenne keinen anderen außer Grunthor.«
Achmed grinste auf eine Weise, die ein wenig gehässig wirkte. »Es liegt mir fern, eine so kenntnisreiche Person wie dich zu korrigieren, aber glaube mir: Du kennst zwei.«
Rhapsody war sichtlich irritiert. »Soll das heißen, du bist auch ein Firbolg?«
»Vielleicht sollten wir sie wirklich von der Speisekarte streichen, Grunthor. Sie offenbart Spuren von Intelligenz.« Der Riese mimte einen auf enttäuscht.
Sie musterte den einen, dann den anderen und konnte nur wenig an Gemeinsamkeiten feststellen. Grunthor war über einen Kopf größer als Achmed, sehr viel breiter und muskulöser und mit Klauenhänden bewehrt. Unter Achmeds weitem Umhang zeichnete sich dagegen eine sehr schlanke, sehnige Gestalt ab, und seine Hände waren die eines Menschen.
An den Riesen gewandt, fragte Rhapsody: »Bist du ein Vollblut-Firbolg?«
»Ach was.«
Der Verhüllte schnaubte. »Du dachtest wohl, das einzige Halbblut auf der Welt zu sein.«
Trotz des spärlichen Lichts war zu sehen, dass sie errötete. »Natürlich nicht. Ich dachte, Grunthor ist ein Firbolg.«
»Er ist zur Hälfte Bengard.«
Rhapsody nickte. Die aus der Wüste stammenden Bengard waren eine Sippe, über die man nur wenig wusste. Es hieß, dass sie ungeheuer groß und von einer schlangenähnlichen Haut überzogen waren. Rhapsody kannte einige ihrer Lieder und Gebräuche. »Und du?«
Die beiden Männer tauschten einen kurzen Blick, ehe Achmed sagte: »Ich bin ein halber Dhrakier. Wir sind also alle drei Mischlinge. Wie wär’s? Gehen wir weiter?«
Rhapsody hatte noch nie etwas gehört von dem erwähnten Volk, war aber nun schon lange genug mit den beiden zusammen, um zu wissen, wann es sich riet, keine weiteren Fragen zu stellen. »Natürlich«, antwortete sie. »Ich habe schließlich keine Lust, an dieser Wurzel Wurzeln zu schlagen.« Sie richtete sich auf, lockerte die verkrampften Beine, schnallte ihr Gepäck fest und folgte den beiden Bolg nach oben.
»Greif zu, Gräfin, ich zieh dich hoch.«
Dankbar langte Rhapsody nach der ausgestreckten Riesenhand und ließ sich von Grunthor über den Rand der Wurzel durch die Öffnung ziehen. Sie machte die Augen fest zu und betete im Stillen, unter freiem Himmel in sternenklarer Nacht aufzutauchen. Als sie wieder aufblickte, sah sie nichts als Dunkelheit, eine Leere, so weit das Auge reichte.
Der Boden unter ihren Füßen schimmerte so bleich wie die Wurzel, an der sie emporgeklettert war, doch ging von ihm ein schwaches Leuchten aus und dazu ein summendes Pulsieren, das hinter den Augen zu spüren war und im ganzen Körper weiter zu schwingen schien. So wie der Wurzelturm die Pfahlwurzel der Sagia hatte kümmerlich klein erscheinen lassen, so wirkte nun der Wurzelturm seinerseits winzig im Vergleich zu dem, was sich ihnen hier offenbarte.
Grunthor stieß einen Pfiff durch die Zähne aus. Der leuchtende Grund, auf dem sie standen, breitete sich weiter aus als der mächtige Fluss, der die Insel Serendair teilte. Die ungeheuer große Bahn verzweigte sich in viele Richtungen, und über jeden Arm zog sich ein Geflecht aus wurzelähnlichen Adern.
Rhapsody hatte an ihrer Enttäuschung schwer zu schlucken. »Herrje, was ist denn das?«
»Die Hauptpassage, der eigentliche Wurzelstock. Was wir erklommen haben, war bloß ein Seitenarm, vermutlich die Verbindung zwischen der Sagia und der Axis Mundi. Du hast doch wohl nicht geglaubt, schon am Ziel zu sein. Unser Marsch hat gerade erst angefangen.«
Tränen drohten ihr in die Augen zu treten, was sie indes nicht geschehen lassen wollte. »Aber ich bin am Ende«, flüsterte sie matt.
Der Verhüllte nahm sie bei den Schultern und versuchte sie zur Besinnung zu rütteln. »Sperr doch die Ohren auf! Hörst du sie denn nicht, die Musik? Ist es möglich, dass eine Sängerin, dazu eine Lirin, nicht hellauf begeistert ist von dieser Musik? Selbst ich kann sie hören. Ja, ich spüre sie förmlich auf der Haut. So hör doch hin!«
Über das Pochen ihres unglücklichen Herzens hinweg hörte Rhapsody tatsächlich ein Summen und Klingen, das die unermesslich große Höhle erfüllte. Unwillkürlich schloss sie die Augen und nahm die Klänge in sich auf. Sie steckten voller Weisheit und Kraft und waren unvergleichlich in ihrer Art. Achmed hatte Recht, das musste sie ihm eingestehen, auch wenn es ihr widerstrebte. Dieser magische, einzigartige Ort war durchdrungen von einer sanften, zarten Melodie, gesungen aus dem vollen Herzen der Erde.
Rhapsody begann in dieser Musik zu schwelgen. Sie nahm ihr alle Schmerzen, allen Verdruss und heilte die Wunden, die sie sich im Kampf gegen das Gewürm zugezogen hatte. Schließlich ließ sie den ureigenen Grundton erklingen, ihren musikalischen Namen, und er harmonierte mit der Stimme der Wurzel so wie vordem mit dem Lied der Sagia. Als sie eine Weile später die Augen wieder aufschlug, sah sie die beiden Männer miteinander reden und mit ausgestrecktem Arm mal auf diesen, mal auf jenen Abzweig deuten. Offenbar versuchten sie sich zu einigen, in welcher Richtung sie nun weitergehen sollten.
Schließlich drehte sich Achmed nach ihr um und fragte: »Na, Krise überwunden? Was ist nun, kommst du mit, oder willst du dich hier auf Dauer einrichten?«
Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Ich komme. Und sprich nicht in diesen Ton mit mir.« Sie glaubte zu schwitzen und versuchte, die Hände trocken zu wischen, merkte dann aber, dass auch die Kleider und Schuhe ähnlich klamm waren. Feuchtigkeit hing in der Luft.
»Immerhin müssen wir nich mehr klettern. Is doch auch schon was, oder?« Grunthor zwinkerte ihr zu und schulterte sein Gepäck.
»Hier lang«, entschied Achmed und zeigte auf die nach links führende Abzweigung.
»Warum?«
»Das rät mir mein Gefühl.« Und in einem Tonfall, der nicht unfreundlich klang, fügte er hinzu: »Aber wenn’s dir gefällt, kannst du natürlich auch eine andere Richtung einschlagen.« Von Grunthor gefolgt, machte er sich auf den Weg, der steil bergan und in weitem, schimmerndem Bogen in finstere Höhen führte. Seufzend nahm Rhapsody ihre Sachen und setzte sich in Bewegung.
Als sie sich nicht länger auf den Beinen halten konnten, schlugen sie ein Lager auf. Das Deckengewölbe der Höhle war jetzt hoch oben im Halbdunkel vage auszumachen.
»Es gibt offenbar extreme Größenunterschiede, was die Gräben angeht, durch die sich die Wurzel erstreckt«, meinte Achmed, als sie sich zum Essen niedergelassen hatten. »Hier ist es wohl deshalb so geräumig, weil von dieser Stelle viele Seitenarme abzweigen. Ich fürchte, dass wir bald wieder in sehr viel engere Bereiche kommen werden. Der Tunnel dort drüben scheint mir durchschnittliche Ausmaße zu haben. Wenn dem so ist, werden wir wohl über weite Strecken kriechen müssen. Ich schätze, dass die Luft dort ziemlich stickig und unangenehm sein wird. Wenn dir Grunthor noch ein paar Dinge in Sachen Schwertkampf beibringen soll, wär’s besser, ihr übt hier, wo genügend Platz ist. Natürlich erst, wenn ihr ausgeruht seid.«
»Ist das denn wirklich nötig?«, fragte Rhapsody besorgt.
»Für ihn wohl nicht, aber umso mehr für dich«, antwortete Achmed. »Denk nur an diese Würmer. Wahrscheinlich gibt es anderswo noch mehr davon. Aber letztlich musst du selbst wissen, wie du dich am besten schützen kannst.«
Rhapsody wandte sich dem Firbolg zu, der übers ganze Gesicht grinste. »Es wäre mir lieb, wenn du mich ausbilden würdest«, sagte sie. »Aber leider habe ich kein Schwert.«
»Wenn’s weiter nichts ist, Herzchen. Zufällig habe ich da ein etwas größeres Messer, das dir ein Schwert sein könnte.« Grunthor zog einen langen Dolch hinter dem Rücken hervor und überreichte ihn mit tiefer Verbeugung.
Nach kurzem Zögern nahm sie den Dolch entgegen. Die Klinge war länger als ihr Oberschenkel und dermaßen scharf, dass es sie schon nervös machte, die Waffe in der Hand zu halten. »Ich weiß nicht«, meinte sie zaghaft.
»Hör zu, Herzchen, wenn du dir die Würmer nich vom Hals halten kannst, seh ich schwarz für dich«, meinte der Bolg-Sergeant. »Also, stell dich nich an. Meine Lucy wird dir helfen.«
»Lucy?« Ihre Augen leuchteten auf. »Nanu, Grunthor, du bist ja auch ein Benenner, auf deine Art.«
Der Riese schmunzelte. »Was du nicht sagst. Soll ich vielleicht auch ein Liedchen singen?«
»Nein«, entgegneten Rhapsody und Achmed einstimmig.
»Macht euch an den Unterricht«, fügte Achmed hinzu, »ich will so lange warten.«
Grunthor langte über die Schulter, suchte nach einer passenden Klinge und zog schließlich zwei weitere Waffen hervor. Die eine war ein langes, schlankes Schwert, das er Lopper nannte. Rhapsody sah sich bei dessen Anblick an die Nacht auf den Feldern mit Michaels Männern erinnert und erschauderte. Bei der anderen Waffe handelte es sich um eine dreischneidige Pike, die der Riese mit dem Namen Früntmacher vorstellte. Für diese Waffe schien er sich endlich entschieden zu haben, denn er steckte den Lopper nun wieder in die rücklings getragene Scheide.
»Warum nennst du dieses Ding ›Früntmacher‹?«, wollte Rhapsody wissen.
»Was du über Namen sagst und die Kraft, die davon ausgeht, ist vielleicht gar nicht so dumm«, antwortete Grunthor und nahm Kampfhaltung an. »Bestes Beispiel ist dieser Früntmacher hier. Ich hab ihn so benannt, und sobald ich ihn zieh, will jeder, der mir gegenübersteht, gleich Freundschaft mit mir schließen. Sofern er dazu noch in der Lage ist, versteht sich.«
»Versteht sich«, wiederholte Rhapsody und grinste nervös. »Den Wunsch kann ich nachvollziehen.«
»Das will ich hoffen, wo wir doch schon so vertraut miteinander sind.«
Rhapsody schmunzelte. »Na schön, mein Freund, auf geht’s.«
Das Klirren aufeinander schlagender Schwerter hallte von den Höhlenwänden wider. Der jungen Lirin wurde ein ums andere Mal die Waffe aus der Hand geschlagen. Kaum hatte sie sich in Position gebracht, musste sie auch schon wieder zurückstecken. Und was sie am meisten entmutigte, war, dass er sehr schonend zu Werke ging und stets Rücksicht auf sie, die Anfängerin, nahm.
Immer wieder gab er ihr Gelegenheit zum Angriff, indem er seine Deckung öffnete, doch sooft sie eine solche Einladung annahm, kam er ihr mit einer schnellen Riposte zuvor. Schließlich versuchte sie solche Deckungslücken auszunutzen, die er unabsichtlich geöffnet hatte, wofür er ihr jedes Mal Lob und Anerkennung zollte.
»So ist’s richtig, Gräfin«, sagte er und parierte eine neuerliche Attacke. »Weiter, weiter, nich locker lassen, Herzchen. Ich weiß, du kannst es. Gib’s mir. Hol mich von den Beinen.«
Rhapsody schlug wuchtig zu. Doch Grunthor war zu schnell für sie. Sie trat zurück und holte Luft.
»Attacke!«, brüllte Grunthor so laut, dass sie vor Schreck noch einen Schritt weiter zurückwich. »Und pass verdammt noch mal auf. Mach deine hübschen Augen auf, sonst hau ich dir den Schädel ein!«
Rhapsody war entsetzt. Auch der Riese zeigte sich verunsichert und verzog das Gesicht. »Tut mir Leid, Herzchen, manchmal geht der Feldwebel mit mir durch.«
Rhapsody beugte sich nach vorn und holte tief Luft. Plötzlich fing sie lauthals an zu lachen.
»Nimm’s mir nicht übel, Grunthor, aber ich glaube, der Schwertkampf ist nicht meine Sache.«
»Möglich«, meldete sich Achmed von hinten. »Du solltest es aber trotzdem lernen. Wichtig ist vor allem, dass du deine Einstellung änderst.«
Rhapsody merkte auf. »Ach ja? Und inwiefern, wenn ich fragen darf?«
Der verhüllte Mann kam auf sie zu und nahm ihre Hand. »Zu allererst solltest du dir einen anderen Griff angewöhnen. Du hältst eine Waffe, und das sollte dir jederzeit bewusst sein. Also, konzentriere dich darauf. Zweitens, beiß die Zähne zusammen. Sei darauf gefasst, verletzt zu werden. Es wird dir nicht gelingen, Schmerzen zu vermeiden. Du kannst sie allenfalls gering zu halten versuchen, das heißt, du solltest von vornherein darauf aus sein, die Ursache zu beseitigen. Hätte Grunthor sich nicht zurückgehalten, wäre es schon nach dem ersten Schlagabtausch um dich geschehen gewesen. Du musst akzeptieren, dass du nicht ohne Blessuren davonkommst, also sei entschlossen, dem Gegner heimzuzahlen, was er dir antut. Lerne zu hassen. So bleibst du am Leben.«
Rhapsody warf das Schwert auf die Wurzel. »Lieber wäre ich tot, als unter solchen Umständen leben zu müssen.«
»Tja, wenn du an deiner Einstellung festhalten willst, wirst du dich nicht lange quälen müssen.«
»Aber wie könnte ich denn anders? Grunthor ist mir sympathisch.«
Der Riese fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Das beruht auf Gegenseitigkeit, Herzchen, aber wenn du nich lernst, auf dich aufzupassen, reicht’s für dich nur zu einer Zukunft als Futter für Würmer.«
Wieder überfiel Rhapsody jenes Gefühl der Ironie, das sie empfand, sooft sie über ihre Situation nachdachte und sich vergegenwärtigte, mit zwei seltsamen, monströsen Männern unter Tage auf einer riesigen Wurzel vorwärtszukriechen. Der nette Koloss, der ihr immer wieder verstohlen begehrliche Blicke zuwarf, die ihr eher den Eindruck vermittelten, als wollte er sie fressen, versuchte sie nun davon zu überzeugen, dass sie ihn zu ihrem eigenen Schutz anzugreifen hatte. Der menschenähnlichere der beiden – ein lebendiges Beispiel dafür, wie sehr der Anschein trügen konnte – zeigte sich ihr gegenüber immer noch von provozierender Gleichgültigkeit. Rhapsody hob das Schwert vom Boden auf. »Also gut, Grunthor, lass uns noch ein bisschen üben.«
»So ist’s recht«, sagte der Sergeant und grinste. »Zeig’s mir.«
Nach ihrer ersten Lektion, die nach Meinung von Grunthor durchaus zufrieden stellend verlaufen war, sank Rhapsody geschunden, erschöpft und aufgelöst zu Boden und suchte in ihrem Gepäck nach dem kleinen Beutel, in dem sie die Reste des Brotes aufbewahrte, das sie von Pilam geschenkt bekommen hatte. Als sie den Beutel zum Vorschein zog, fing sie zu singen an und intonierte den Namen des Brotes, wie sie es jedes Mal tat, wenn sie davon essen wollte. Sie beschrieb es mit den gesungenen Wörtern Fladen, aus Gerste gebacken, weich, holte es aus dem Beutel, brach ein Stück für sich ab und reichte das Übrige an die Männer weiter. Trotz der hohen Luftfeuchtigkeit und obwohl es schon viele Tage alt war, hatte das Brot immer noch keinen Schimmel angesetzt. Und sonderbarerweise war es überhaupt nicht hart geworden.
»Was war das nun wieder, Herzchen, ’ne Art Segensspruch oder dergleichen?«, fragte Grunthor und nahm das gereichte Stück entgegen.
»Wenn man so will. Ich habe das Brot beim Namen genannt.« Rhapsody lächelte ihm zu und ließ es sich schmecken. Achmed schwieg.
»Schaffst du’s so, das Brot frisch zu halten?«
»Ja. Auf diese Weise bleibt es so, als wäre es gerade eben aus dem Ofen gekommen.«
Achmed legte sich auf die Wurzel und streckte alle viere von sich. »Gib ihm doch mal irgendeinen anderen Namen. Wie wär’s mit Würstchen in Blätterteig^«, meinte er. Es war das erste Mal, dass Rhapsody ihn scherzen hörte.
»Ich kann es wohl in seinem Urzustand bewahren, aber nicht verändern«, antwortete sie zwischen zwei Bissen. »Wenn ich so viel Macht hätte, wärst du eine sehr viel angenehmere Person und ich würde nicht hier in diesem Loch stecken.«
Vielleicht lag es an der pulsierenden Kraft der Axis Mundi... Wie auch immer, jedenfalls wurde Rhapsody nun von noch eindringlicheren Albträumen geplagt.
In dieser Nacht waren die Träume besonders intensiv. Wiederholt und erschreckend deutlich hatte sie einen Mann vor Augen, der unter großen Qualen in der Dunkelheit erstickte. Ringsum waberten dichte Nebelschwaden, die sich durch nichts vertreiben ließen. Rhapsody versuchte aufzuwachen, war aber zu erschöpft.
Stöhnend warf sie sich hin und her und rutschte schließlich von Grunthors breiter Brust, als die Traumszenerie plötzlich wechselte. Sie sah nun das Bild eines anderen Mannes mit aufgedunsenem Gesicht und blutrot geränderten Augen. Mit krallenden Händen ruderte er im Dunkeln umher, scheinbar auf der Suche nach etwas, das nicht zu finden war. Es kamen ihr Wörter in den Sinn, die sie unwillkürlich im Flüsterton aussprach.
Die Kette ist gerissen, raunte sie.
Als Achmed, der auf dem Rücken lag und ins Dunkle starrte, ihre Stimme hörte, richtete er sich auf und schaute ihr ins Gesicht, das die Schrecken des Traums widerspiegelte. Es schien, als führte sie einen aussichtslosen Kampf. Achmed stieß seinen Gefährten an und machte ihn auf sie aufmerksam. Der Mann mit den blutrot geränderten Augen und dem erschreckend formlosen Gesicht starrte ihr entgegen. Es war, als versuchte er, ihr Bild in seinem Gedächtnis abzuspeichern. Sie wollte seinem Blick ausreichen, doch irgendetwas hielt sie fest im Griff, und zu ihrem großen Entsetzen musste sie nun mit ansehen, wie sich die Augen ihres monströsen Gegenübers teilten und verdoppelten, immer und immer wieder, bis es Dutzende und Aberdutzende waren, die ihr aus dem amorphen Gesicht entgegenstarrten.
Der Herr der Tausend Augen, flüsterte sie.
Dann löste sich ein ums andere dieser Augen aus dem Gesicht; ein kalter Wind regte sich, der sie nach allen Seiten hin ausschwärmen ließ, ohne dass sie den starren Blick von ihr abgewendet hätten.
In der Welt über Tage wütet Krieg, murmelte sie.
»Was die wohl hat?«, fragte Grunthor leise.
Achmed bedeutete ihm mit der Hand zu schweigen. Er hatte den Namen des F’dor gehört. Im Traum erschien ihr nun ein sehr ansehnliches, jugendliches Gesicht, im Mondlicht schimmernd. Der junge Mann nahm sie in den Arm, schmiegte seine Wange an die ihre und berührte mit den Lippen ihr Ohr. Das ist alles, was ich habe; nicht viel, aber ich will dir etwas schenken, sagte er. Plötzlich langten seine Hände fester zu; mit Gewalt zwang er ihre Schenkel auseinander, und seine sanfte Stimme wechselte in ein lustvolles Keuchen über.
Nein, jammerte sie. Hör auf. Das ist doch alles nur gelogen.
Er lachte und hielt ihre Arme schmerzhaft fest umklammert. Ich hoffe, du weißt, dass ich dir nie, nie willentlich wehtun würde.
Hör auf, schluchzte sie. Ich will nach Hause.
Nach Hause? Es gibt für dich kein Zuhause mehr. Erinnere dich, du hast es aufgegeben. Für mich.
Auch alles andere, was dir am Herzen lag. Dabei habe ich mit keinem Wort gesagt, dass ich dich liebe.
Unter dem Eindruck dieser quälenden Traumbilder brach Rhapsody in Tränen aus. Grunthor war sichtlich besorgt und wollte ihr tröstend beistehen, doch Achmed hielt ihn zurück.
»Vielleicht hat sie Visionen«, sagte er. »Womöglich schaut sie in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Und was sie da sieht, könnte für uns von Interesse sein.«
»Es kann aber wohl kaum in unserm Interesse sein, dass sie einen Schock erleidet, von dem sie sich nicht mehr erholt. Oder?« Die Miene des Riesen war für Achmed Warnung genug, und er ließ zu, dass Grunthor das Mädchen in den Arm nahm und weckte.
»Herzchen?«
Erschrocken bäumte sich Rhapsody auf und schlug mit der Faust zu. Zufällig traf sie Grunthors Auge, und das mit einer Wucht, die ihr keiner zugetraut hätte. Der Firbolg kippte wie ein gefällter Baum zu Boden.
Achmed kicherte. »Da sieht man’s wieder: Freundlichkeit wird schlecht belohnt.«
Rhapsody war inzwischen hellwach. Sie zwinkerte die Tränen aus den Augen und sah, was sie angerichtet hatte. »Himmel, Grunthor, verzeih«, stammelte sie. »Das wollte ich nicht.«
Der Bolg vorzog das Gesicht auf eine Weise, die unter anderen Umständen als der Versuch eines Lächelns hätte gedeutet werden können. »Schon gut, Herzchen. Ich muss schon sagen, du hast da ’ne zünftige Gerade. Wer hat dir so zu boxen beigebracht?«
Sie suchte in ihrem Gepäck nach dem Wasserschlauch. »Meine Brüder.«
»Aha. Darf ich dich vielleicht daran erinnern, dass wir dich adoptiert haben und somit auch zur Familie gehören? Ich hoffe, du wirst mich als einen deiner Brüder in Zukunft vor deiner prächtigen Rechten verschonen.«
Sie betupfte sein Auge mit einem feuchten Tuch und sagte schmunzelnd: »Was meinst du, wer diese Faust am häufigsten zu spüren bekommen hat?«
»Oh.«
»Es tut mir Leid.«
»Mach dir nichts draus, Herzchen. Und steck den Lappen weg. Es ist halb so schlimm. Komm, leg dich wieder hin. Wir sollten noch ein bisschen ruhen.« Rhapsody gehorchte.
Als sie ausgeschlafen hatten, packten sie ihre Sachen zusammen und setzten den Weg durch den endlos langen Tunnel fort.