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1146, Drittes Zeitalter

Er bewegte sich wie der Schatten einer Vorüberziehenden Wolke, unbemerkt und unerkannt; sogar der Wind blies über ihn hinweg, als gäbe es ihn nicht. Er stieg die Anhöhe hinauf und schaute über die Felder. Vom Wind abgesehen, war da nichts, was die Ruhe gestört hätte.

Als es dunkel wurde, stand der Bruder vom Boden auf. Er drehte sich um, warf einen Blick über die Schulter und nickte. Dann spähte er wieder in die Ferne.

Kurz darauf gesellte sich ein kolossaler Schatten zu ihm oben auf der Hügelkuppe. Im Dämmerlicht der untergehenden Sonne sah der Riese wegen seiner Waffen, die über die Schultern ragten, wie ein monströser Krebs mit gepanzerten Scheren aus. Der Sergeant folgte dem Blick des Bruders und fragte:

»Wie viel Zeit ham wir noch?«

Die Gestalt in Schwarz ließ mit einer Antwort auf sich warten; sie hatte den Kopf geneigt, als lauschte sie einem in einiger Entfernung geführten Gespräch. »Wir haben gut eine Viertelstunde Vorsprung. Darüber mache ich mir die geringsten Sorgen.«

»Verstehe.« Der schwer bewaffnete Riese seufzte. »Wir schaffen’s nich, stimmt’s?«

Der Bruder ließ den Horizont nicht aus den Augen. »Wahrscheinlich nicht.« Nach einer Weile wandte er sich dem sieben Fuß langen Gefährten zu. »Du hättest noch eine Chance. Aber nur dann, wenn du dich jetzt gleich aus dem Staub machst.«

»Kommt gar nich in Frage«, entgegnete der Riese mit breitem Grinsen. »Ich werd doch jetzt nicht mehr kehrtmachen. Und außerdem würden sie mich über kurz oder lang sowieso einholen. Ich würd lieber hier bei dir bleiben, wenn’s recht ist.«

Der Bruder nickte und richtete den Blick wieder auf den Horizont. »Na schön. Sehen wir zu, dass uns die Jäger nicht erwischen.« Mit einer schwungvollen Schulterbewegung ließ er die Armbrust, die er auf dem Rücken trug, nach vorn pendeln, nahm sie zur Hand und setzte sich hügelabwärts in Bewegung.

»Zu Befehl«, sagte der Riese zu dem Wind, dem Einzigen, der mit ihm auf der Kuppe zurückgeblieben war.

Der Einbruch der Dunkelheit kam auf weniger leisen Sohlen als der Bruder, dessen Schritte nicht einmal von den kleinen Tieren des Feldes wahrgenommen wurden. Und zu sehen war er ebenso wenig. Mit seinen schwarzen Waffen und dem schwarzen Umhang ging er restlos in der Dunkelheit auf. Er gab kein Geräusch von sich, hinterließ keine Spuren. Nur wer außergewöhnlich scharfe Augen hatte, vermochte ihn im Dunkeln auszumachen. Und das wäre für den Betreffenden wahrlich kein Vorteil gewesen, denn er hätte gewiss zumindest einen Herzschlag lang gezögert und dem Bruder damit ausreichend Zeit gelassen, den Zeugen auf immer zum Verstummen zu bringen.

Der Bruder schlüpfte durch böige Windstöße und vermied es so gut er konnte, die Schwingungen der Welt zu stören, die außer ihm nur ganz wenige wahrzunehmen vermochten. Er hatte es mit Gegnern zu tun, die sehr ernst zu nehmen waren; seine ehemaligen Herren scheuten keine Kosten, ihn zur Strecke zur bringen. Damit hatte der Bruder gerechnet.

Er ging auf ein Knie nieder und legte die Waffe an. Unter seinen Masken machte sich ein düsteres Grinsen breit. Seine Ziele waren in Reichweite.

Noch konnte er sie nicht erkennen, aber das brauchte er auch nicht. Er spürte ihre Schritte und das Schlagen ihrer Herzen. Wie eine Muräne im Meer konnte er ihr Blut riechen und nahm jede ihrer Bewegungen wahr. Dass er mit so scharfen Sinnen ausgestattet war, verdankte er seinem dhrakischen Einschlag; dabei hatte er ein noch feineres Gespür als reinrassige Dhrakier. Er war der Bruder. Das war seine besondere Gabe. Er schloss die Augen und gewahrte die Bewegungen in der Luft, den Wechsel der Windrichtung, die Strömungen, die seine Geschosse würden ablenken können. Dann atmete er langsam aus und drückte den Abzug seiner Waffe.

Von der Armbrust mit ihren drei Fuß langen Wurfarmen flogen nicht etwa Bolzen oder Pfeil, sondern drei hauchdünne Metallplättchen, ein jedes in Form und Größe einem Ahornblatt ähnlich. Sie zischten durch die Luft und änderten, vom Wind abgelenkt, ein wenig die Richtung, was der Schütze jedoch einkalkuliert hatte. Noch bevor die Geschosse ihr Ziel erreichten, hatte der Bruder seine Waffe neu geladen und abgedrückt, wieder und wieder, sodass ein dichter Schwärm von Projektilen auf seine vierhundert Schritt entfernten Widersacher zu schwirrte.

Der Bruder war schon auf und davon, als die ersten drei Geschosse einschlugen, ins linke Auge des ersten Opfers eindrangen, an der Schädelbasis wieder austraten und dem Hintermann die Gurgel zerschnitten. So starben noch vier weitere Jäger, ohne dass ihnen ihr Ende gewärtig wurde. Nur der Kommandant hatte noch Zeit, den Kopf zu heben und seinem Tod entgegenzublicken. Inzwischen war der Bruder längst wieder zurück auf seinen Lauschposten geeilt, die Anhöhe, wo er kurz verharrte und einen Blick zurückwarf.

»Der Kommandant war schnell«, sagte er, an den Riesen gewandt.

»Aber nich schnell genug, oder?«

»Diesmal nicht.«

Auf seiner nächtlichen Patrouille rings um das Lager hatte sich der Bruder davon überzeugt, dass niemand in der Nähe war, dem das Feuer hätte auffallen können. Trotzdem stellte Grunthor, der Bolg-Riese, drei Bleche auf, um das Licht nach außen hin abzuschirmen. Dass sie noch lebten, war auch solchen außergewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen zu verdanken.

Der Bolg blickte fragend auf den schweren Sack, in dem ihr Proviant steckte. Der Bruder nickte. Grunthor setzte sich vors Feuer, öffnete den Sack und zog die Keule einer Hirschkuh daraus hervor, die sie zwei Tage zuvor erlegt hatten.

Der lange Schenkelknochen diente ihm als Spieß, den er auf die Bleche legte und drehte, um das Fleisch über den Flammen zu wenden. Die beiden saßen schweigend davor und sahen zu, wie die Keule allmählich schwarz wurde und verkohlte. Der Bruder lauschte aufmerksam in den Wind. Grunthor achtete nicht auf ihn; er kannte die Routine. Wenn Gefahr drohte, würde er schon rechtzeitig alarmiert werden.

Nach einer Weile nahm der Bolg die Keule vom Feuer, rupfte mit der Hand ein Stück Fleisch ab und gab es an den Gefährten weiter; den Rest behielt er für sich. Der Bruder sah zu, wie Grunthor mit den Zähnen das Fleisch vom Knochen nagte, und schnitt sich dann von seinem Stück einen mundgerechten Happen mit dem Dolch ab. Das Fleisch schmeckte faulig und ein bisschen wie Fisch.

»Schon ziemlich vergammelt.«

Der Riese nickte. »Tja, vielleicht sollten wir unsere Trockenration anbrechen.«

»Nein, die brauchen wir noch für den Marsch entlang der Wurzel.«

»Verstehe, aber mehr ham wir nich.«

»Und was ist mit dem Kaninchen?«

»Ham wir gestern verputzt.«

Der Bruder legte das angebissene Fleischstück aus der Hand. »Dann werde ich morgen auf die Jagd gehen.«

Wieder kehrte die gewohnte Stille ein. Wenig später streckte sich Grunthor am Feuer aus. Es dauerte nicht lange, und der Riese war eingeschlafen. Der Bruder ließ seine Gedanken schweifen und verlor sich in der Erinnerung an die Umstände, durch die sie zu diesem Zeitpunkt an diesen Ort gelangt waren.

Er erinnerte sich an den Gang durch die verschlingende Schwärze der Tiefen Kammer des F’dor. Auf dem Boden aus Obsidian hallten seine Schritte überaus laut wider, so leise er sie auch zu setzen versuchte.

Die Wände der Kammer standen so weit auseinander, dass ihre schwarzgläsernen, mit obszönen Motiven verzierten Flächen selbst bei Licht kaum auszumachen gewesen wären. Das schwarze Feuer, das in Kohlenpfannen brannte, reichte zur Beleuchtung der Höhlenkapelle bei weitem nicht aus; es war nur als ein schimmernder Kreis zu erkennen, auf den der dhrakische Meuchelmörder zusteuerte.

In diesem Kreis stand eine männliche Gestalt im purpurroten Ornat eines Dämonenpriesters. Der Mann, einst Mensch, nun aber menschlicher Wirt eines dämonischen Geistes, hatte ihn, den Bruder, gerufen.

Freiwillig hätte er sich nie von einem solchen Kunden verdingen lassen. Der Bruder biss die Zähne aufeinander und unterdrückte seinen Widerwillen gegen diesen Ort und dieses Wesen, dem er sich näherte – einen Widerwillen, der sein Blut zum Kochen brachte. Sein Hass gegen alles F’dorische, der ihm als Dhrakier angeboren war, begehrte gegen diesen Ort auf, den die Erzfeinde seines Volkes zu ihrem Zuhause gemacht hatten.

Beide Einflüsse seines Erbgutes – die scharfen Sinne seiner dhrakischen Mutter und die von seinem unbekannten Bolg-Vater übernommene Tiefgründigkeit – wehrten sich instinktiv gegen die Schändung dieses einstmals heiligen Ortes. Aber den stärksten Abscheu empfand er dem Dämonen gegenüber, der in der entmenschlichten Gestalt hauste, die da vor ihm stand. Es war der Herr der Tausend Augen. Der F’dor. Tsoltan. Sein Gebieter.

Als er in den Feuerkreis trat, hörte er eine sanfte, honigsüße Stimme sprechen.

»Ich habe einen Auftrag für dich.«

Mit starrem Blick aus rot umränderten Augen suchte der Priester nach Reaktionen im Gesicht des Bruders. Die hochempfindlichen Nerven des Dhrakiers gerieten in Aufruhr wegen dieser Aufdringlichkeit, die nicht weniger grob war als die Fleischbeschau eines Metzgers. Der Bruder antwortete nicht. Er versuchte alles, um möglichst wenig von der Luft einatmen zu müssen, die sein Gegenüber verpestete.

»Deine Hand«, sagte der Dämonenpriester.

Der Bruder öffnete die linke Faust und kehrte die Handfläche nach oben.

Der F’dor kicherte. »Deine Widerborstigkeit amüsiert mich nach wie vor«, sagte er. »Aber mittlerweile hast du ja wohl begriffen, dass ich dir deinen wahren Namen auf keinen Fall zurückgeben werde. Auf deine Dienste will ich nämlich nie mehr verzichten müssen. Für kein Geld der Welt würde ich dich entbinden; ich würde dir nicht einmal verraten, wie ich an deinen Namen gekommen bin.«

Unmittelbar vor dem Bruder wucherte eine Ranke aus dem gläsernen Boden. Auch sie schien aus vulkanischem Glas zu bestehen und war voll schwarzer Dornen. Ganz oben an der Ranke hing ein Schlüssel. »Nimm.«

Ohne zu zögern, pflückte der Bruder den Schlüssel ab, worauf die Ranke zersplitterte wie der Stil eines spröden Weinglases.

Er hob den Schlüssel vor die Augen, die dank seiner bolgschen Natur nachtsichtig waren, und schmunzelte in sich hinein, als er gewahrte, dass das ehemals menschliche Herz des Dämonenpriesters schneller zu klopfen begann und damit unwillkürlich auf seinen – des Bruders – Widerstand reagierte. Der Schlüssel selbst war nichts Besonderes, außer dass er aus schwarzer Knochensubstanz bestand und wie eine Rippe gebogen war.

»Du gehst mit diesem Schlüssel zum Ausgang der Landbrücke vor den Nördlichen Inseln. Im Fundament dieser Brücke ist ein Tor, wie du so noch keines gesehen, geschweige denn passiert hast. Die Erdkruste dort ist sehr dünn, was dir ein paar Unannehmlichkeiten einbringen könnte. Wie auch immer, wenn du das Tor passiert hast, wirst du dich in einer weiten Wüste wiederfinden. Du wirst wissen, welche Richtung einzuschlagen ist, und bald einem alten Freund von mir begegnen. Den sollst du später durch das Tor auf unsere Seite führen. Vorläufig musst du dich nur über einen Termin mit ihm verständigen. Der sollte allerdings möglichst bald angesetzt werden. Wenn das geschehen ist, kommst du hierher zurück, und ich werde dich auf deinen Dienst als Führer meines Freundes vorbereiten. Ist das klar?«

»Ja.«

»Du wirst mir mitteilen, was ihr vereinbart habt. Vielleicht gibt er dir auch eine Nachricht für mich mit.«

»Ich bin kein Botenjunge.«

»Wie Recht du hast. Du bist noch viel geringer.« Im Talisman, der um den Hals des Dämons hing, spiegelte sich schwach funkelnd das Licht einer fernen Kohlenpfanne. Das Amulett bestand aus einem goldenen Flammenkreis und einer Spirale roter Steine, aus deren Mittelpunkt ein eingraviertes Auge starrte, ähnlich stechend wie der Blick des Schwarzen Priesters.

Der F’dor rückte einen Schritt näher, und der Bruder verzog angewidert das Gesicht, als ihm der Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase stieg, den der Dämon mit der verbrauchten Atemluft verströmte. All seine Artgenossen rochen so, aber der Meister des Bruders stank besonders übel aus dem Mund.

»Ich will, dass die Sache schnell über die Bühne geht. Sie ist von entscheidender, weit reichender Bedeutung. Im Vergleich dazu ist alles, was du für besonders wichtig erachtest, von lachhafter Belanglosigkeit. Ich bin dein wahrer Herr und Gebieter, und du wirst mir dienen, freiwillig oder gezwungenermaßen.«

Und in der Tat, er hatte den Befehl des Dämonenpriesters ausgeführt.

Unter Gewissensbissen litt der Bruder nicht, auch scheute er nicht vor dem Bösen zurück, aber was er in der Ödnis jenseits des Horizonts hatte erfahren müssen, spottete jeder noch so schrecklichen Beschreibung. In Anbetracht der verheerenden Katastrophe, die der ganzen Welt drohte, hatte er sich zum ersten Mal in seinem Leben für eine Flucht entschieden und Reißaus genommen, selbst auf die Gefahr hin, dass er ewig dafür würde büßen müssen. Eine andere Möglichkeit gab es für ihn nicht. Der Bruder merkte auf, als eine Bewegung in der Ferne seine Sinne in Alarmbereitschaft versetzte. Schnell steckte er den Schlüssel, der schimmernd in seiner Hand lag, zurück in die Tasche, wo er ihn stets trug.

Er spähte in die Richtung, aus der die Luftschwingung stammte, und nahm Witterung von einem Wolfsrudel auf, das anscheinend auf Beute aus war. Eine störende Schwingung wies darauf hin, dass es sich nicht um gewöhnliche Wölfe handelte, die sich da näherten, sondern um Tiere, die dem F’dor als frei bewegliche Augen dienten.

Ein leiser Schnalzlaut reichte, um den Riesen aufzuwecken.

Sofort hellwach, langte der spontan nach seinem Waffengurt und blickte zu dem Gefährten auf. Mit ein paar Handzeichen gab ihm der Bruder zu verstehen: sechs Wölfe, drei auf jeder Flanke. Grunthor nickte und griff nach dem großen Bogen. Gleichzeitig legte er mit der anderen Hand einen metallenen Deckel aufs Feuer und erstickte es, ohne Rauch entweichen zu lassen. Der Bruder hatte sich selbst schon mit seiner absonderlichen Waffe, der Cwellan, zum Kampf gerüstet. Gespannt warteten die beiden.

Den Kopf zur Seite geneigt, lauschte der Dhrakier den Tieren, die, ohne von ihrer Richtung abzuweichen, in weitem Abstand vorbeiliefen und am Horizont verschwanden. Sie hatten das in der kleinen Senke versteckte Lager nicht bemerkt. Als die Gefahr endgültig vorüber war, holte der Bruder tief Luft und ließ sie langsam entweichen. Grunthor tat es ihm gleich.

»Sie kommen näher«, sagte der Bruder.

»Was kaum verwundern kann, oder? Wir ham den Schlüssel, und das können sie wahrscheinlich irgendwie spüren.«

»Ja. Wir sollten möglichst schnell eine Stadt aufsuchen und in der Menge untertauchen.«

»Prächtig, wo du dich doch so gern in Städten aufhältst.«

Als es in den frühen Morgenstunden zu regnen anfing, räumten sie ihr Lager und machten sich auf den Weg nach Ostend, während sich in ihrem Rücken ein Gewitter zusammenbraute.

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