39

Sie saßen noch lange schweigend beieinander, lauschten dem Wind in der Ferne und blickten zum dunkler werdenden Himmel empor. Schließlich richtete Achmed seine Augen auf Rhapsody. Seine Miene war ruhig, verriet aber trotzdem Besorgnis.

»Kannst du auf deinem neuen Instrument so spielen, dass es unser Gespräch übertönt und seine Schwingungen nicht mit dem Wind davongetragen werden?«

Sie nickte, nahm die Heilharfe zur Hand und löste die Riemen, mit denen sie das Gerät unter dem Umhang befestigt hatte. Dann zog sie die Hülle ab und fuhr mit den Fingern über die Saiten.

»Hattest du an ein bestimmtes Lied gedacht?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Es soll nur den Wind ablenken, damit er nicht mit sich trägt, worüber wir uns unterhalten.«

Rhapsody dachte kurz nach. Dann machte sie sich daran, der Harfe eine Folge von abstrakten, misstönenden Klängen zu entlocken. Da war keine erkennbare Melodie, kein Muster, das sich wiederholte oder variiert wurde. Sie spielte noch eine Weile weiter und lehnte das Instrument dann neben sich an den Stamm.

»Samoht«, sagte sie.

Achmed schmunzelte, als die kleine Harfe das unschöne Lied von sich aus fortsetzte. Wahrscheinlich, so dachte er, war ihr die Ironie ihres Tuns selbst nicht klar.

Er begegnete wieder ihrem Blick und hielt ihn fest. Ihre Augen spiegelten erwartungsvolle Neugier und auch Vertrauen, etwas, das er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Und es lag nichts von der Abneigung darin, die ihm sonst ständig entgegengebracht wurde.

»Erzähl mir die Geschichte von den Uralt-Weisheiten, so viel wie eben möglich.«

Rhapsody war verdutzt. »Wovon sprichst du?«

»Wir haben heute einen kurzen Ausschnitt aus der Geschichte der Entstehung der Erde gehört.«

»Ja.«

»Ich will, dass du für eine Weile vergisst, was dieser minderbegabte Mönch erzählt hat, und dass du dich stattdessen an deine Studien zurückerinnerst. Dein Mentor war bestimmt eine sehr viel verlässlichere Wissensquelle.«

»Ja.« Rhapsodys Augen verrieten einen Anflug von Irritation.

»Wie kennst du diese Geschichte? Erzähl sie mir vom Standpunkt einer Benennerin, Rhapsody. Und gib dir Mühe. Glaub mir, du hast in deinem ganzen Berufsleben nie etwas Wichtigeres getan, nichts, was von größerer Tragweite gewesen wäre.«

»Wovon soll ich dir erzählen? Von der Geburt der Elemente?«

»Ja.« Achmed lehnte sich an den Stamm eines der schlanken Bäume zurück.

»Die eigentliche Geschichte ist auf Alt-Serenne überliefert, und diese Sprache beherrsche ich nicht besonders gut. Ich habe den Urtext übersetzen müssen. Vielleicht sind mir dabei ein paar Fehler unterlaufen, was aber der Geschichte selbst wohl keinen Abbruch tut.«

»Gib sie mir möglichst genau wieder.«

Sie holte tief Luft, machte ihren Kopf frei und konzentrierte sich auf den Moment in ihrer Erinnerung, da sie erfahren hatte, was Achmed jetzt von ihr hören wollte. Als sie einen festen Zugriff darauf gefunden hatte, hob sie zu erzählen an.

»Die fünf Elemente kamen in der Vorzeit zur Welt, und zwar gewissermaßen als Werkzeuge, mit denen der Schöpfergott seinen Kosmos aufgebaut hat. Sie werden von manchen auch die Kinder des Allgottes genannt oder die Fünf Geschenke, denn sie waren das, was er ganz zu Anfang erschaffen hat. Als Erstes kam der Äther ins Sein, der Stoff, aus dem die Sterne sind. Es heißt, dass er die Essenz der Zeit, des Lebens und jener Kraft enthält, die manche mit dem Wort Magie bezeichnen. Den Äther gab es schon vor der Geburt der Welt, und darum enthält er auch alle Geheimnisse, die unserem irdischen Wissen vorausgehen. Das Feuer wurde als das zweite Elemente geboren; mit ihm setzte sich die Erde vom Rest des Universums ab und bildete eine eigenständige Einheit. In den Mythen heißt es, dass die Erde, von einem Stern abgebrochen, durchs All geirrt sei, bis sie in der Umlaufbahn der Sonne, ihrer Mutter, ihr Ziel gefunden habe. Das an der Oberfläche brennende Feuer verlosch schließlich, weil es von seiner ätherischen Nahrung abgeschnitten war. Ihm blieb nur noch der Rückzug ins Innere der Erde, womit sich das Feuer aber auf Dauer nicht zufrieden geben kann, weshalb es immer wieder einmal in vulkanischen Eruptionen und lavaspeiend zu entfliehen versucht.«

Achmed grinste breit, hielt aber die Augen geschlossen. »Dieses kleine Detail hat unser Freund, der Mönch, ausgelassen«, bemerkte er.

Dass es sie störte, unterbrochen zu werden, war Rhapsodys grünen Augen deutlich anzumerken. »Soll ich fortfahren?«

»Ich bitte darum.«

»Dann sei still. Ich muss mich konzentrieren. Als sich das Feuer zurückzog, wurde die Erde von Wasser überschwemmt, dem an dritter Stelle geborenen Element. Ihm waren sowohl heilende als auch zerstörerische Kräfte eigen. Als die Erdoberfläche des Wassers wegen abkühlte, kamen starke Winde auf, und darum wird der Luft in der Rangordnung der Elemente der vierte Platz zugewiesen. Die über den Globus brausenden Winde drängten das Wasser zurück und legten die Erde darunter frei. Dieses letzte und jüngste Element war im Unterschied zu den anderen von großer Festigkeit und Dauer, und darin lag auch seine Kraft. So wie die Sterne das Wissen und die Weisheit der Vorzeit hüteten, war die Erde Trägerin ihrer eigenen Geschichte und Gegenwart.« Sie atmete tief durch.

»So, jetzt weißt du, was ich weiß.«

Achmed kicherte. »Tatsächlich weiß ich sehr viel mehr als du. Aber dazu kommen wir später.« Er öffnete die Augen und beugte sich vor.

»Weißt du irgendwas über die Erstgeborenen?«, fragte er.

Rhapsody zögerte. Achmed schien Kenntnisse von Dingen zu besitzen, über die eigentlich nur die ganz großen Benenner hätten Bescheid wissen dürfen. »Nicht viel«, antwortete sie. »Die Altertumskunde gehört zu den letzten Dingen, die ein Benenner lernt. Ich hatte gerade erst mit dem Studium dieses Fachs angefangen, als mein Mentor Heiles verschwand.«

Achmed richtete sich so plötzlich auf, dass sie vor Schreck fast von ihrem Baumstamm gefallen wäre.

»Denk nach. Du musst dich so genau wie möglich an diesen Zeitpunkt erinnern. Was konntest du noch vor seinem Verschwinden über die Erstgeborenen in Erfahrung bringen?«

»Es ist zwar nicht viel, woran ich mich erinnere, aber immerhin mehr, als die meisten anderen darüber wissen. Lange bevor die Völker der Lirin und der Menschen, also die Nain und dergleichen, nach Serendair kamen, lebten dort schon sehr viel ältere, urwüchsige Stämme, die den Elementen selbst entsprungen waren und noch einiges von den Eigenschaften dieser Elemente verkörperten. Diese Stämme werden die Erstgeborenen genannt. Die aus dem Äther Geborenen waren die Ur-Seren, hoch gewachsene Wesen mit golden schimmernder Haut und goldenen Augen. Sie hatten eine überaus lange Lebensspanne und waren entsprechend weitsichtig und geduldig. Dank ihrer Beziehung zum Stoff der Sterne waren sie auf die Rhythmen der Natur besonders gut eingestellt. Ihr Stammesname, der sich mit Stern übersetzen lässt, war auch der Name jenes hellen Himmelskörpers, der Jahrein, jahraus über der Insel stand. Serendair, was so viel wie Sternenland heißt, war ihre Angestammte Heimat und gilt deshalb als einer der fünf Geburtsorte der Zeit.«

Achmed nickte. »Und was ist aus den Ur-Seren geworden?«

»Sie sind ausgestorben oder wieder in die Erde zurückgekehrt, wo sie sich während der Völkerkriege des Zweiten Zeitalters versteckt gehalten haben.«

»Und die Völker, die von den anderen Elementen abstammen? Weißt du irgendetwas über sie?«

Rhapsody schluckte und suchte in der Erinnerung nach den Resten dessen, was sie von ihren Studien behalten hatte. »Da waren zum einen die Mythlin, das Volk, das in den Weltmeeren lebte, wovon kaum ein Landbewohner jemals Notiz genommen hat. Sie hatten wie die Ur-Seren stets lange Zeiträume im Blick, aber überhaupt kein Interesse an dem, was jenseits ihrer Domäne geschah. Es heißt, dass die Menschen aus den Mythlin hervorgegangen seien, dass sich der menschliche Körper im Zuge der Evolution aus Salzwasser und durchsichtigen Membranen gebildet habe, also aus Grundstoffen mythlinschen Lebens. Das würde auch erklären, warum es Menschen immer wieder zum Meer hin zieht und warum ihre Tränen und ihr Blut so salzig sind.«

Achmed grinste. »Wie hat Stephen den Namen Abbat Mythlinis noch gleich übersetzt? ›Gott-König der Meere‹ oder so ähnlich, nicht wahr?«

Rhapsody lachte laut auf. »Und ich dachte, du hättest gar nicht zugehört. Wenn ich mich recht erinnere, hat er ihn den ›Herrn der Ozeane‹ genannt.«

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Dhrakiers. »Da sieht man wieder, wie schnell sich Fehler in diese Geschichten einschleichen können. Sehr wahrscheinlich haben die Cym-rer vieles dazu erfunden oder umgedeutet und den Urtext verfälscht.«

»Aber das tut doch jeder, Achmed. Legenden und Mythen, die aus langer Überlieferung stammen, haben unzählige Veränderungen durchgemacht. Darum gibt es uns Sänger und Benenner: dass wir mit unserer Kunst dieser Tendenz entgegenwirken und versuchen, die Geschichten möglichst unverändert weiterzuerzählen. Um Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden.«

»So sollte es sein. Zurück zum Thema. Was kannst du mir von den anderen Völkern erzählen?«

Rhapsody fuhr sich mit den Fingern durch das schimmernde Haar. »Ich wüsste da noch etwas von den Kith. Sie glaubten, Abkömmlinge des Windes zu sein, Wesen mit einem angeborenen Wissen von den Luftströmungen und Schwingungen der Welt. Die Kith suchten am Himmel nach Weisung und Rat. Auf ihren alten Lehren gründen übrigens unsere modernen Wissenschaften der Astronomie und Meteorologie.

Die Kith waren auch die Schöpfer der Musik und die Ahnen des lirinschen Volkes. Nebenbei bemerkt: Lirin ist das Wort der Ur-Seren für Sänger.

Der Ausdruck auf Achmeds Gesicht verdunkelte sich. »Auch die Dhrakier stammen von ihnen ab. Daher rührt auch unser scharfer Sinn für Schwingungen.«

»Tatsächlich?« Rhapsody war sichtlich überrascht. »Das wusste ich nicht.«

»Woher auch? Hast du denn vor unserem Zusammentreffen jemals etwas von uns Dhrakiern gehört?«

»Nein.«

Achmed vermummte sich in seinem Umhang, als wäre ihm kalt geworden. »Es gibt einiges, wovon du nichts weißt, Rhapsody, wovon überhaupt nur die allerwenigsten wissen«, sagte er mit auffallend weicher Stimme. »Doch dass über Dhrakier kaum etwas bekannt ist, kann nicht heißen, dass es uns nicht gibt. Wie steht’s um die Abkömmlinge der Erde?«

»Das sind die Drachen. Wir wissen nur Bruchstücke über sie aus jüngerer Zeit, dem Ersten und Zweiten Zeitalter, aber nichts aus der Zeit davor.«

Achmed nickte. »Und nun zum Schluss: Was ist mit dem Feuer?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur das, was ich heute darüber erfahren habe. Du hast dich nach Heiles erkundigt. Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass wir am Anfang eben dieser Lektion standen, als er davonging. Er hatte alle entsprechenden Materialien schon zurechtgelegt. Das weiß ich, weil ich ihm am Abend zuvor dabei geholfen hatte.«

Achmed bedachte sie mit kalten, bohrenden Blicken. »Was waren das für Materialien? Erinnerst du dich?«

Rhapsody schüttelte den Kopf. »Nur noch ganz vage. Eine Kohlenpfanne, glaube ich. Verschiedene Kräuter und Wurzeln; das eine oder andere Elixier. Er ist nicht mehr dazu gekommen, mir zu erklären, worum es sich bei diesen Dingen im Einzelnen handelte. Und da war noch diese Schriftrolle, aus der er auch in all den anderen Unterrichtsstunden zitiert hatte.«

»Ihr habt also noch diese Vorbereitungen getroffen, und am nächsten Tag war er verschwunden.«

»Ja. Er schickte mich los, um ein paar seltene Manuskripte und Noten zu besorgen. Ich sah ihn nie wieder. An die ausgefallene Lektion habe ich dann nicht mehr gedacht, erst heute wieder, als der Mönch von den F’dor erzählte.«

Achmed langte unter seinen Umhang und holte ein kleines gefaltetes Tuch zum Vorschein, das er ihr auf den Schoß warf. Vorsichtig öffnete Rhapsody es an denen Zipfeln. Es war ein Altartuch, wie es zum Reinigen von geweihten Kelchen oder kleinen Reliquien und dergleichen benutzt wurde: ein weißer Lappen, bestickt mit jenem stilisierten Sonnenmuster, das sie auch im Tempel von Bethania gesehen hatte. Anerkennend stieß sie einen Pfiff aus.

»Das nenn ich dreist. Stiehlst bei helllichtem Tag solche Sachen aus einer Basilika.«

»Was, meinst du, soll dieses Symbol bedeuten?«, fragte Achmed.

Rhapsody warf ihm das Tuch zurück und machte aus ihrer Irritation kein Hehl. »Was soll die Frage? Ich bin doch nicht taub. Ich habe gehört, was er gesagt hat. Es ist das Symbol der F’dor.«

Er kroch ihr fast ins Gesicht. »Ich will die Frage anders formulieren. Wofür steht das Symbol? Was glaubst du?« Seine Stimme war scharf und schneidend.

Rhapsody geriet ins Frösteln und schauderte. »Die Sonne?«

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. »Das glaubst du, weil es alle glauben. Aber ich versichere dir, dass dem nicht so ist. Jedenfalls war dem nicht so in der alten Welt.«

Obwohl sie sich mit aller Macht zu beherrschen versuchte, zitterte sie am ganzen Körper wie ein welkes Blatt an einem kahlen Baum im Winter. »Was ist es dann?«

Achmed schlug das Tuch auf. Vorsichtig, fast liebevoll fuhr er mit knochigem Finger um den Rand der goldenen Scheibe.

»Die Cymrer haben beim Anblick dieses alten Symbols offenbar an die Sonne gedacht. Die Vermutung liegt ja auch nahe. Doch dies hier«, er tippte ins Zentrum der Scheibe, »ist die Erde. Die vermeintlichen Strahlen sollen in Wirklichkeit Flammen darstellen. Die Erde in Flammen. Aber nicht etwa so, wie sie in der Vorzeit ausgesehen haben mag, als das Feuer geboren wurde. Nein, so wird sie aussehen, wenn die F’dor erreichen, was sie als ihr Ziel, ihre Bestimmung erachten. Verstehst du, was ich dir sagen will, Rhapsody?«

Sie nickte, brachte aber keinen Ton heraus.

»Und das hier ist das Werkzeug, womit dieses Ziel erreicht werden soll.« Mit dem Zeigefinger fuhr er die rote Spirale entlang, die sich von der Mitte der Scheibe bis an ihren Rand schlängelte. »Was damit dargestellt ist, wirst du jetzt erahnen, zumal du einen kleinen Teil davon schon mit eigenen Augen gesehen hast.«

Ihre Antwort war ein Flüstern, kaum zu vernehmen vor dem Hintergrund der nicht abreißenden Harfentöne. »Der Wyrm.«

»Genau. Immerhin scheint es so, dass dein Schlaflied gewirkt hat. Serendair ist von vulkanischem Feuer zerstört worden, allerdings durch das Schlafende Kind und nicht, wie geplant, durch den Wyrm. Aber vergiss nicht, es war der Aufschlag dieses Sterns, der die F’dor aus dem Innern der Erde hervorgelockt hat. Es kann also durchaus sein, dass der eine oder andere von ihnen die Katastrophe und den Untergang der Insel überlebt hat. Und wenn nur ein Einziger am Leben geblieben wäre, würde er sich daran machen, das Ziel seines Volkes zu verwirklichen. Und er würde auch wissen, wie.«

»Was redest du da?« Mit fahrigen Handbewegungen versuchte Rhapsody, das Haar wieder zusammenzubinden.

Achmed lehnte sich zurück und presste die Fingerkuppen beider Hände aneinander.

»Fangen wir noch einmal von vorn an. In der Vorzeit, als sie aus dem Feuer geboren wurden, waren die F’dor dämonische Geistwesen von neidischer, niederträchtiger Natur, die danach trachteten, die Welt zu verzehren und darin dem Element Feuer zu entsprechen, dem sie entsprungen waren. Ihr Geburtsort war der Feuerkranz, jener Ring aus fünf aktiven Vulkanen, die im Meer versunken sind. Und auch darin sind sie dem Feuer ähnlich, dass sie selbst keine feste Gestalt haben. Sie schmarotzen von anderen Lebewesen, so wie Feuer seine Nahrung aus Brennstoffen bezieht, die es im Zuge der Verbrennung aufzehrt. Wie das zweite Element, das Feuer, sind die F’dor als das zweite Volk zur Welt gekommen. Den Ur-Seren, die ihnen vorausgingen, waren sie an Macht unterlegen, nicht so den nachfolgenden Völkern. Wie das Feuer lebten sie meist im Verborgenen und traten nur sporadisch in Erscheinung. Wenn sie aber in Erscheinung traten, brachten sie unweigerlich Zerstörung mit sich. Das Feuer selbst zog sich ins Innere der Erde zurück, um dort in seiner reinsten Form zu brennen. Die F’dor aber haben eine solche Läuterung nie durchgemacht. Im Gegenteil, sie verkommen mehr und mehr und leben dadurch auf, dass sie Täuschung und Betrug üben. Wie Parasiten nehmen sie Menschen – oder Lirin oder Nain als Wirte in Beschlag, ernähren sich von ihnen und machen sie sich gefügig. Am Ende sind beide Seiten, die menschliche und die dämonische, nicht mehr voneinander zu unterscheiden, selbst für die betreffende Person nicht mehr. Vielleicht verstehst du jetzt ein bisschen besser, warum es mir nicht recht ist, dass du ständig irgendwelche Kinder adoptieren möchtest. Denn womöglich bist du selbst, ohne dass es dir bewusst wäre, von einem solchen Dämon besessen oder stehst unter seinem Einfluss. Auszuschließen ist das nicht.«

»Woher weißt du das alles?«, platzte es aus Rhapsody heraus. »Wie kommst du an solche Informationen, die nur den größten Benennern vorbehalten sind?«

Achmed legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Sternen auf, die zwischen Wolkenlücken zum Vorschein kamen. Von unten stiegen Nebelschleier auf, als wollten sie sich mit ihren Geschwistern am Himmel zusammenschließen.

»Ich stand in den Diensten eines F’dor. Daher weiß ich das alles.«

»Der Dämon, der Gewalt über dich hatte, war ein F’dor?«

»Ja. Er hatte meinen Namen, hielt mich gefangen und machte mich gefügig. Er selbst hieß Tsoltan. Vielleicht hast du schon von ihm gehört.« Er warf einen Blick auf die Harfe, die immer noch schrille Klänge hervorbrachte.

Rhapsody suchte in ihrer Erinnerung nach einer Antwort und fand sie auch wenig später. »Llauron sprach davon, dass der Feind des Königs zurzeit des Großen Krieges, der nach unserem Weggang von der Insel ausgebrochen war, eben diesen Namen trug. Ist es dieser Tsoltan?«

Achmed nickte. »Und ausgerechnet in dem Augenblick, als er von ihm erzählte, musstest du ihn mit einer Belanglosigkeit unterbrechen. Nun ja, damals hattest du ja auch noch keine Ahnung.«

»Hättest du mich doch bloß früher in dein Geheimnis eingeweiht.«

»Wann denn? Wäre es dir etwa recht gewesen, wenn ich seinen Namen in der Erde unter Tage ausgesprochen hätte? Du als Benennerin weißt sehr wohl, was dann womöglich passiert wäre.« Der Ärger schwand aus seinen Augen wie ausgebrannte Glut, und sie nickte.

Mit freundlicher Stimme fuhr er fort: »Dass ich von den F’dor weiß, hat noch einen Grund. Ich bin zur Hälfte Dhrakier. Wir, die Dhrakier, verabscheuen die F’dor mit jeder Faser unseres Wesens. Das liegt wohl, wie ich vermute, vor allem daran, dass sie nicht zu erkennen sind. Für unsereins, die wir auch die feinsten Schwingungen wahrnehmen können, ist es unerträglich zu wissen, dass Dämonen umherspuken, aber einfach nicht aufzuspüren sind. Die Geschichte der Dhrakier ist eine Geschichte der Kriege gegen die F’dor. Sie im Ganzen nachzuerzählen würde, auch wenn ich mich kurz fasste, viel zu lange dauern. Ich will stattdessen nur von einem Ausschnitt daraus berichten. Nach der Zeitendämmerung, also während jener Phase, die auch als ›Tag der Götter‹ bezeichnet wurde, hatten die Ur-Stämme, von denen soeben die Rede war, ihre ganz eigenen Schwierigkeiten mit den F’dor. Um ihre Schlagkraft zu verbessern, schlössen Ur-Seren, Mythlin und Kith ein Bündnis. Nur die Drachen blieben außen vor. Dieses Bündnis war letztlich der Grund dafür, dass sich die F’dor ins Erdinnere zurückzogen, wo sie blieben, bis ein Zufall sie wieder an die Oberfläche lockte. Jahrtausende später, nämlich in der Mitte des Zweiten Zeitalters, traf das Schlafende Kind – ein Meteor – auf die Erde und riss ein großes Loch, durch das ein Teil der F’dor an die Oberfläche entfliehen konnte. Ich glaube, dass es einer von denen war, der dann in Tsoltan gefahren ist. Tsoltan war schon vorher durch und durch böse, ein Priester der Gottheit des Nichts, des Allesverschlingers. Einen besseren Wirt hätte dieser F’dor gar nicht finden können.«

»Ich kann dir nicht mehr folgen.«

»Verzeihung, ich schweife ab. Im Ersten Zeitalter waren es die Kith, unsere direkten Vorfahren, die die F’dor mit den Mitteln der Schwingung in Schach halten konnten. Als Meuchelmörder hatten sie gelernt, was zu tun war, um sowohl den Wirt als auch den Dämon zu töten, und gaben diese Fähigkeit an ihre Nachfolger, die Dhrakier, weiter.

Die Dhrakier zählen zu den ältesten Völkern überhaupt; sie sind älter als die Menschheit. Aus Gründen, die zu komplex sind, als dass ich sie jetzt im Einzelnen darlegen könnte, haben es sich die Dhrakier zur Lebensaufgabe gemacht, die F’dor mit Stumpf und Stil auszurotten. Die Möglichkeiten dazu haben wir auch heute noch. Sie gehören gewissermaßen zu unseren stammesspezifischen Talenten, zu unserem Kulturgut. Gerade das macht den Umstand, dass ich in Tsoltans Bann stand und Mörder in seinem Auftrag war, umso widerwärtiger und verdammenswürdiger.

Lange Rede, kurzer Sinn: Unsere Welt, das heißt die Welt, die wir kennen, gibt es nicht mehr. Ich muss nun herausfinden, ob Tsoltan mit ihr untergegangen ist oder nicht. Vielleicht hat MacQuieth ihm den Garaus gemacht; vielleicht ist er auch wie all die anderen der großen Katastrophe zum Opfer gefallen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die F’dor im Großen Krieg umgekommen. MacQuieth war der einzige Nicht-Dhrakier, dem es möglich gewesen wäre, Mensch und Dämon zu töten. Ob es ihm auch gelungen ist, wissen wir nicht mit Bestimmtheit. Allerdings können wir wohl ausschließen, dass der Wyrm befreit wurde. Denn wenn dem so wäre, säßen wir jetzt nicht hier in lausig kalter Winternacht, weit weg von Serendair, und würden uns den Hintern abfrieren.

Es besteht aber dennoch die Möglichkeit, dass die F’dor noch leben, zumindest ein kleiner Teil von ihnen. Diese seltsamen Überfälle, die hier allenthalben stattfinden, lassen Schlimmes befürchten, denn überall wo unerklärliches Chaos herrscht, könnten F’dor auf der Lauer liegen. Nicht, dass sie Exklusivrechte auf Krieg und Terror hätten. Auch die Menschen machen seit eh und je reichlich Gebrauch davon. Wie auch immer, wir müssen damit rechnen, dass ein F’dor-Geist entflohen und hierher geflohen sein könnte. Es muss nicht unbedingt der sein, den ich kannte; auch jeder andere wäre in der Lage, den Wyrm zu wecken – vorausgesetzt, dieses Ungeheuer ist noch am Leben. Dass es im Inneren der Erde steckt, weiß jedenfalls jeder F’dor, und es liegt in ihrer Natur, dessen Befreiung zumindest zu versuchen. Darum muss ich wissen, ob der F’dor, dessen Sklave ich war, überlebt hat oder ob womöglich irgendwelche anderen seiner Art unter uns sind.«

»Also, das herauszufinden dürfte nicht allzu schwierig sein«, sagte Rhapsody und rieb sich die Oberarme mit den Händen, um die Kälte daraus zu vertreiben. »Ihr Tempel ist gleich hier in Bethania. Da feiern sie ihre Gottesdienste, in aller Öffentlichkeit.«

Achmed lachte. »Ich glaube, das siehst du falsch. Denk doch mal nach. Wenn die Legenden wahr sind, haben die F’dor den Großen Krieg von Serendair verloren. Und es sind aller Erfahrung nach nie die Geschichten der Verlierer, die man immer und immer wieder nacherzählt, bis sie zur Legende werden. Die Nachkommen der Sieger kannten von der Wahrheit jedoch wahrscheinlich nur kleine Ausschnitte und waren wie alle Cymrer der Selbsttäuschung erlegen. Sie wollten den Elementen huldigen, den fünf Kindern ihres Schöpfers. Von der gesamten Geschichte aber hatten sie nur den Schimmer einer Ahnung.«

»Ist es denn nicht möglich, dass sie, verkommen wie sie sind, das Böse anbeten und es ernst damit meinen?«

»Möglich ist alles, aber nehmen wir doch für einen Augenblick mal an, dass diese Brüder in der Basilika unschuldige Narren sind. Wie mir scheint, sind sie dermaßen dämlich, dass sie gar nicht wirklich böse sein können. Außerdem würden sich echte F’dor nie offen zu erkennen geben. Ihre Stärke liegt darin, dass sie sich im Verborgenen halten.

Die Frage lautet also: Wie sind die Cymrer zu dieser falschen Geschichte gekommen? Vielleicht haben sie irgendwo eine Abbildung dieses Symbols gesehen. Tsoltan hat ein Amulett mit einem ganz ähnlichen Zeichen getragen, wobei aber anstelle der roten Spirale ein Auge zu erkennen war. Vielleicht hatten die Cymrer, als sie ihre Kathedralen bauten und sich auf ihre Wurzeln zu besinnen versuchten, schon vergessen, was es mit dem Feuersymbol in Wirklichkeit auf sich hat. Möglich auch, dass sie von seiner Bedeutung nie etwas wussten. Nicht zuletzt aus diesem Grund habe ich dich gefragt, wie viel Zeit zwischen unserem Aufbruch und dem Exodus der Cymrer vergangen sein mag. Aber das tut jetzt nichts mehr zur Sache. Tatsache ist, dass die Einwohner von Bethania in hohem Maße vom F’dor bedroht sind, wenn es ihn denn noch gibt. Dadurch nämlich, dass sie in ehrfürchtiger Andacht einer Feuerquelle huldigen, die aus dem Herzen der Erde gespeist wird, und den F’dor als eine wohlwollende Kraft anbeten. Im Grunde haben sie ihm dieses Land längst ausgeliefert. Sie haben ihn sozusagen eingeladen.«

Es war nicht nur die Winterkälte, die Rhapsody bis ins Mark hinein frieren ließ. »Was also sollen wir tun? Wie können wir finden, was sich nicht finden lassen will, zumal an einem Ort, den wir nicht kennen? Und das, nachdem wir über tausend Jahre unserer eigenen Zeit entrückt sind.«

»Wir fangen in Canrif mit der Suche an«, sagte Achmed. »Wenn er denn mit den Cymrern gekommen ist, wird der F’dor ihnen auch weiter gefolgt sein. Wenn dem aber nicht so gewesen sein sollte, wird unsere Reise auch nicht umsonst gewesen sein, denn in Canrif leben jetzt die Firbolg, und auf die bin ich schon ganz neugierig.«

»Sei ehrlich, diese Route stand für dich doch schon fest, als du Llaurons Geschichte hörtest.«

»Ja. Und die Angelegenheit ist noch wichtiger geworden, nachdem wir dem Rakshas begegnet sind und du mir von dieser Vision nahe dem Altar im Garten berichtet hast. Die war zwar gewiss dämonisch, scheint aber dennoch nicht das Werk des F’dor gewesen zu sein. Dazu will ich übrigens etwas grundsätzlich sagen, Rhapsody: Wenn die Religion dieses Landes mit ihren eigenen Dämonen über Kreuz liegt, sollten wir uns da raushalten. Ich vermute, dass das Blut dieser Kinder den Rakshas ernährt und am Leben hält. Stephen will ihm eine Falle stellen. Wenn er und seine Vettern es nicht schaffen, ihn zur Strecke zu bringen, haben wir ohnehin keine Chance. Das ist ein Problem dieser Welt. Wir müssen Antworten auf unsere Probleme finden, und deshalb gehen wir nach Canrif.«

Rhapsody seufzte. »Wenn’s denn sein muss. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als zumindest den Versuch zu unternehmen und herauszufinden, ob dieses Etwas mit den Flotten hergekommen ist und Schuld hat an all den schrecklichen Dingen, die hier geschehen. Darf ich dir noch eine Frage stellen?«

Achmed stand auf und reckte sich. »Natürlich.«

»Was wirst du tun, wenn sich deine Befürchtungen als berechtigt erweisen?«

Er blickte zu den Zweigen auf, die über ihnen schwebten und wie weiße Knochenarme ins Dunkle langten. »Wer weiß, was ich dann überhaupt tun kann«, sagte er schließlich und in Gedanken versunken, wie es schien. »Nach unserem Gang durchs Feuer ist vieles ganz anders geworden. Mir sind ganz neue Kräfte und Fähigkeiten gegeben, aber manches ist verloren gegangen, worauf ich mich früher habe verlassen können. Ich weiß auch nicht, mit welchen Waffen der Feind zu bekämpfen ist.«

»Damit ist meine Frage nur zum Teil beantwortet«, sagte Rhapsody. »Vielleicht sollte ich fragen: Was wünschst du zu tun? Und: Wie stehst du eigentlich zu diesem Ort und seinen Bewohnern? Bist du wirklich so distanziert, wie es den Anschein hat?«

Er starrte sie an, musste dann aber lächeln. »Auch das ist mir nicht ganz klar. Komm, gehen wir zurück. Ich schätze, Grunthor hält Jo im Schwitzkasten, um sie am Lauschen zu hindern.« Er ergriff ihre Hand und half ihr beim Aufstehen.

»Übrigens ist mir im Zusammenhang mit dem, was wir besprochen haben, etwas eingefallen«, sagte Rhapsody und zog die Kapuze über den Kopf. »Erinnerst du dich an die Prophezeiung der Drei? Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels?«

»Sicher doch.«

»Llauron zufolge wären das Anwyn und ihre hellsichtigen Schwestern. Aber könnten damit nicht vielleicht die drei Ur-Völker gemeint sein, die sich zusammengetan haben – die Kith, die Mythlin und die Ur-Seren?« Achmed krauste die Stirn. »Glaubst du wirklich?« »Ich frage mich nur, ob das eine Möglichkeit sein könnte.« Schmunzelnd zeigte Achmed auf die Harfe. »Sorg dafür, dass das Ding endlich Ruhe gibt. Es geht mir auf die Nerven.«

Die Kinder des Himmels müssen Luft zwischen den Ohren haben, dachte er. Liringlas. Dein eigenes Volk, und du erkennst dich nicht einmal selbst. Oder Grunthor und mich. »Du bist wirklich ein echter Cymrer, Rhapsody; in punkto Selbsttäuschung bist du kaum zu schlagen.«

»Was soll das denn jetzt heißen?«

Die ungleichen Augen blitzten auf. »Nichts. Oder nur so viel: Ich lasse mich von Prophezeiungen nicht einwickeln, geschweige denn irreführen. Der Glaube daran ist häufig bloß das Ergebnis gescheiterter Versuche, bestimmte Hinweise und Zeichen zu deuten, die nicht klar zu bestimmen sind. Und überhaupt, was hat dir deine Hellsicht bislang eigentlich gebracht? Du hast vom Tod der Insel geträumt. Konntest du ihn verhindern?«

Er öffnete eine Schneise im Dickicht und setzte sich in Richtung Lager in Bewegung. Rhapsody schaute ihm eine Weile nach und folgte schließlich.

Der Morgen kam wie eine Befreiung aus dem Bann der Nacht. Die drei sattelten die Pferde und bereiteten sich auf ihre Reise nach Bethe Corbair vor, der letzten Bastion der Menschen vor der Grenze zu den Bolgländern.

Als sie den Westrand der Krevensfelder erreichten, jener scheinbar grenzenlosen Ebene, die die Provinz von Bethe Corbair umgab, versuchte Rhapsody noch einmal, bei Achmed vorzufühlen und seinen Gedanken auf die Schliche zu kommen. Vergebens. Er gab sich wieder wie gewohnt reserviert und reagierte auf ihre Versuche, ihm etwas zu entlocken, mit frostigem Schweigen. Es war, als hätte ihr Zwiegespräch in der Nacht zuvor nie stattgefunden.

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