»Was soll das heißen, ich darf nicht in die Stadt hinein? Hab ich eine Woche auf diesem verfluchten Gaul gesessen, um mir dann sagen zu lassen, dass ich draußen bleiben muss? Du bist ein Sausack, Achmed. Ich wünsch dir die Pest an den Hals, auch wenn du sowieso schon hässlich genug bist.«
Achmed warf Rhapsody einen Blick zu, die sich schnell wegdrehte, um ihr Grinsen zu verbergen. Seufzend stieg er aus dem Sattel.
»Erklär mir doch bitte noch einmal, warum ich es zulasse, dass du mit ihr unser Brot teilst«, sagte er und warf die Zügel über den Pferderücken, ohne einen einzigen Blick auf Jo zu verschwenden.
»Weil du sie gern hast«, antwortete Rhapsody, und ihre grünen Augen strahlten.
»Hmmm. Tja, vielleicht solltest du noch einmal unsere Pläne mit ihr durchsprechen. Bring ihr bei, dass es zu riskant wäre, wenn sie sich in aller Öffentlichkeit zeigte. Womöglich würde sie entführt und als Gesellschaftsdame für das Mädchenpensionat verpflichtet.«
Rhapsody zog die Satteltasche von ihrem Pferd und trug sie in den kleinen Hain, in dem Grunthor ein Lager aufgeschlagen hatte. Jo folgte ihr dichtauf und schimpfte in einem fort, bis sich Rhapsody schließlich umdrehte und sagte:
»Hör zu. Achmed und ich werden uns kurz in Bethania umschauen. Bethania ist die Hauptstadt von Roland, darin wimmelt es von Soldaten und Gardisten, noch mehr als in Navarne.« Die Worte taten ihre Wirkung: Jo wurde plötzlich kreideweiß im Gesicht, worüber sich Rhapsody im Stillen amüsierte.
»Wir wollen möglichst schnell wieder heraus aus der Stadt. Für unsere nächste Station bleibt uns etwas mehr Zeit. Das wäre die Hauptstadt von Bethe Corbair, wo wir Proviant einkaufen und uns ausführlicher umsehen werden. Dort wirst du uns begleiten können, wenn du dich denn benimmst.«
»Na schön«, schmollte Jo.
»Tut mir Leid, wenn wir dir kein so interessantes und aufregendes Leben bieten können, wie du es von der Straße her gewöhnt bist. Aber glaube mir, es ist sicherer so«, sagte Rhapsody und versuchte, das struppige blonde Haar des Mädchens ein wenig zu entwirren.
»Nich unbedingt«, schaltete sich Grunthor ein. Er hatte sich unter einem kahlen Baum rücklings auf den Boden gelegt und die Hände hinterm Kopf zusammengefaltet. »Wenn du willst, dass die kleine Kratzbürste nach deiner Rückkehr noch zur Stelle ist, sieh zu, dass genügend zu essen hier bleibt.«
»Das höre ich nun schon zum x-ten Mal«, entgegnete Jo. »Aber wann hast du das letzte Mal tatsächlich jemanden verspeist?«
»Tot oder lebendig?«
Rhapsody verdrehte die Augen. »Also gut, wir gehen jetzt. Auf Wiedersehen, Jo.« Sie breitete die Arme aus, doch das Mädchen nickte ihr nur kurz zu. Als sich die Sängerin aber dem Firbolg-Riesen zuwandte, sprang der auf die Füße und nahm sie überschwänglich in den Arm.
»Sei vorsichtig«, warnte er, nachdem er sie wieder auf dem Boden abgesetzt hatte.
»Morgen werden wir wieder zurück sein«, versprach Achmed. Es war so kalt, dass seine Worte in der Luft zu gefrieren schienen. »Es könnte allerdings auch ein bisschen länger dauern. Falls wir nach drei Tagen noch nicht zurück sein sollten, musst du mit Jo ohne uns weiterziehen.« Er schulterte sein Gepäck und zwinkerte dem Freund zu.
»Und das täte mir wirklich herzlich Leid für dich.«
Nach Rhapsodys Einschätzung war Bethania rund zwei- oder dreimal so groß wie Ostend und jenseits der Stadtmauern von einem großen Kranz aus Siedlungen und Dörfern umgeben. Aus der Ferne sah die Stadt wie eine riesige Kuppel aus. Die höchsten Gebäude standen in der Mitte; zu den Rändern hin wurden sie in Abstufungen immer niedriger. Der große Ringwall war nach allen Seiten hin mit trutzigen Befestigungsanlagen gesichert, so wie es sich für diese wichtige, in der Mitte der Provinz und im Herzen Rolands gelegene Stadt empfahl. Während ihrer ersten Erkundung waren Rhapsody und Achmed in respektvollem Abstand einmal um die Mauern der Stadt herumgeritten, wobei sie die Anzahl der Wachposten und die Beschaffenheit der Sicherheitsanlagen ausgekundschaftet hatten. Beide waren aufgrund ihrer Beobachtungen zu dem Schluss gekommen, dass es für sie nur einen Weg ins Stadtinnere gab, nämlich zu Fuß und als einfache Bauern getarnt.
So standen sie nun in den schlichten Kleidern, die Llauron ihnen mitgegeben hatte, vor dem Südosttor, einem der insgesamt acht Zugänge zur Stadt.
Im Unterschied zur ländlich idyllischen Provinz von Navarne war Bethania von Anfang an ein kulturelles Zentrum und die Krone eines großen Zeitalters gewesen, das längst vergangen war. Sogar in den Außenbezirken waren die Straßen gepflastert. Es mangelte weder an Geschäften noch Herbergen oder Gasthöfen, und in den großen Wohnhäusern hatten jeweils mehrere Familien Platz. In der Innenstadt waren die Straßen mit Laternen beleuchtet: Öllampen, umschirmt von einer Glaskugel auf blank polierten Messingständern. Überall gab es Pferdetränken und Pfosten zum Anbinden der Pferde.
Nach einer streng beachteten Ordnungsvorschrift durften Rinder und anderes Nutzvieh nur durch einige wenige Tore in die Stadt getrieben werden. Märkte gab es nur in den östlichen und westlichen Bezirken. Die Museen und öffentlichen Gärten befanden sich im Norden und Süden. Im Herzen der Stadt erhoben sich die beiden höchsten und prächtigsten Bauwerke: die Feuerbasilika und die Burg von Tristan Steward, dem Prinzen von Bethania. Die Kasernen der Garnison waren dagegen über die gesamte Stadt verteilt.
Dass die dem Element Feuer geweihte Basilika genau in der Mitte der Stadt errichtet worden war, erschien durchaus angemessen als ein Verweis auf das Feuer im Erdinnern. Schon aus weiter Entfernung hatte Rhapsody den Springborn spüren können, eine pulsierende Flamme, die das eigene Feuer in ihr wachrief. Obwohl diese Quelle nur ein Schatten war im Vergleich zu der Feuersbrunst, durch die sich Rhapsody und ihre Gefährten hatten durchschlagen müssen, ließ sie doch keinen Zweifel daran, dass sie demselben Inferno entstammte; sie war echt, ein reiner elementarer Urquell.
»Lass die Kapuze auf und senk den Kopf«, riet Achmed leise, als sie eine Gruppe von Wachposten passierten. »Geh einfach immer weiter auf das Feuer zu. Ich bin dir dicht auf den Fersen. Du brauchst dich also nicht nach mir umzudrehen.«
Rhapsody nickte und konzentrierte sich auf das Lied der Flamme in der Ferne. Alle unguten Gefühle, die sich ihr aufdrängten, schob sie beiseite. Bethania schien trotz all ihrer Pracht eine Stadt ohne Mitgefühl und Humor zu sein. Die kunstvoll angelegten Gärten wirkten allzu perfekt, die Gebäude allzu elegant oder imposant. Arme Leute oder gar Bettler waren weit und breit nicht zu sehen, dafür aber umso mehr Soldaten. Nun ja, dachte sie bei sich, es ist halt die Hauptstadt. Dass hier mehr Wert auf Sicherheit gelegt wurde, verstand sich von selbst.
Von zahllosen Hinweisen unfehlbar auf den richtigen Weg geführt, pilgerten sie auf die Basilika zu. In einer Straße waren die Pflastersteine mit Goldblatt belegt und zu einem Flammenmuster mit Ausrichtung nach Osten geordnet. Je weiter sie sich dem Tempel näherten, desto häufiger wiederholten sich diese und ähnliche Muster. Rhapsody blieb stehen, um Achmed aufschließen zu lassen.
»Erinnerst du dich an die Tuschezeichnungen in Stephens Museum?«, flüsterte sie.
Achmed drängte sie zum Weitergehen, denn ihm war aufgefallen, dass ein Wachposten Notiz von ihnen genommen hatte. »Ja«, antwortete er leise und ohne die Lippen zu bewegen.
»Der Vorplatz der Basilika war als ein großes flammenfarbenes Mosaik dargestellt, und dieses Muster hier sieht genauso aus. Offenbar sind wir schon ziemlich nahe dran.«
Rhapsody hatte Recht mit ihrer Vermutung. Als die beiden um die nächste Ecke bogen, tauchte die Basilika vor ihnen auf. Sie war ein Rundbau, hoch aufragend und mächtig, aus poliertem weißem, golden geädertem Marmor gebaut.
Die Freifläche ringsum war ein einziges großes Mosaik, begrenzt von gepflegten, flammenförmig beschnittenen Buchsbaumhecken. Die in nuancenreichen Rot- und Gelbtönen gefärbten Mosaiksteine waren in ihrer Anordnung den Strahlen der Sonne nachempfunden. Lapislazuli und andere kostbare Steine brachten, wenn vom Sonnenlicht beschienen, den ganzen Platz zum Funkeln. Zwischen der Basilika und dem Palast im Norden erstreckten sich weitere Gärten, die jetzt zur Winterszeit öde und welk dalagen.
Die Basilika selbst war aus mehreren großen, konzentrischen Ringen aufgebaut, mit aufsteigenden marmornen Sitzreihen, die auf das Zentrum ausgerichtet waren, wo eine riesige goldene Kohlenpfanne stand. Vereinzelt saßen oder knieten einige wenige Gläubige in den Sitzreihen, betend oder meditierend, während zwei Kirchendiener umhergingen und nach dem Rechten schauten.
Aus der Kohlenpfanne loderte eine ungemein helle Flamme auf, die in den Farben Rot und Orange changierte und wie von blauen, flatternden Bändern durchwirkt zu sein schien. Ihre Wärme und Strahlen riefen Erinnerungen wach, Erinnerungen an jede Feuerwand, durch die sie, Rhapsody und ihre beiden Gefährten, vor langer Zeit und auf der anderen Seite der Zeit hindurchgegangen waren. Unwillkürlich stiegen Rhapsody Tränen in die Augen, als sie an die Umarmung durch die Flammen und das Gefühl der alles verzehrenden Akzeptanz zurückdachte, das im Herzen der Erde über sie gekommen war.
Sie hätte noch lange Zeit bleiben und auf die Flamme in der Kohlenpfanne starren mögen, doch wurde sie in ihrem andächtigen Staunen gestört, als sich Achmeds dünne, kräftige Finger um ihren Oberarm legten.
»Komm endlich«, flüsterte Achmed. »Der da sieht aus wie ein geeigneter Kandidat.«
Mit einer knappen Kopfbewegung machte er auf einen der Kirchendiener aufmerksam, einen Mann in mittleren Jahren mit kahlem Kopf. Er trug ein braunes Gewand, auf dessen Brust eine stilisierte Sonne prangte, die mit ihrer roten Spirale in der Mitte jenem Amulett auffallend ähnlich war, das Rhapsody auf dem Porträt des Segners von Canderre-Yarim im cymrischen Museum gesehen hatte.
Rhapsody spannte die Oberarmmuskeln an, um Achmed zu signalisieren, dass sie verstanden hatte. Die beiden waren übereingekommen, dass sie sich möglichst gründlich über die Basilika und die Geschichten informieren sollte, die von den Gläubigen erzählt wurden, während Achmed solche Winkel auskundschaften würde, die weniger leicht zugänglich waren.
Rhapsody ging auf den Geistlichen zu und machte in respektvollem Abstand vor ihm Halt. Der Mann kauerte auf den Knien und polierte ein Messinggeländer, das zwischen der ersten und zweiten Sitzreihe verlief. Ohne aufzublicken, versuchte er, sie mit wegwerfender Handbewegung zu vertreiben.
»Dem Gesinde ist der letzte Ring vorbehalten«, schnaufte der Kahlköpfige und setzte seine offenbar anstrengende Tätigkeit fort.
Rhapsody warf einen Blick zurück auf Achmed, der sich schon um einiges entfernt hatte. Er signalisierte ihr, die Kapuze vom Kopf zu nehmen, was sie denn auch tat und sich wieder dem Geistlichen zuwandte.
»Bruder?«
Der Mann setzte sich auf seine Hacken und blickte zu ihr auf. Sofort nahm sein Gesicht einen anderen Ausdruck an. Die Kinnlade fiel ihm herunter, und die Augen gingen sperrangelweit auf.
»Liebster Schöpfer! Ist es so weit?«, stammelte er und ließ das Poliertuch fallen.
Simon war schon den ganzen Morgen über mit Putzarbeiten beschäftigt, um das Gotteshaus für die Seligpreisermesse am Hochtag der Woche vorzubereiten. Trotz der winterlichen Kälte war er schwer ins Schwitzen gekommen.
Übe dich in Demut, schärfte er sich immer wieder im Stillen ein, denn Demut war eine der sieben Tugenden der Ordensbruderschaft, und zum vierten Mal an diesem Morgen sprach er sein Gebet. Doch trotz aller eifrig absolvierten Demutsexerzitien ließ ihn sein an Wut grenzender Neid nicht los, ja, er troff ihm gleichsam wie Schweiß aus den Poren und bereitete ihm großen Ekel. Tatsächlich fühlte er sich schon seit dem Aufstehen krank und matt.
Wieder einmal hatte der Abt nicht ihn, sondern Bruder Datralen für den Pflegedienst im Hospital vorgesehen, als die verwundeten Soldaten eingetroffen waren. Und obwohl Simon der ältere und sehr viel erfahrenere Krankenpfleger war, musste er – wieder einmal – in den sauren Apfel beißen und den Putzdienst verrichten, der in frommer Sprache »die Riten der Vorbereitung« genannt wurde. Er war tief in Gedanken versunken und versuchte seinen Ärger zu bekämpfen, als dieses Bauernmädchen auf ihn zukam. Er verwies sie auf den ihm gebührenden Platz, nämlich in den äußeren Ring, doch sie schien ihn nicht verstanden zu haben.
»Bruder?« Die Stimme war weich und so warm wie der Hauch des ewigen Feuers.
Als er aufblickte, sprang ihm das Herz bis in den Hals.
Vor ihm stand, in braunes Sackleinen gehüllt, die Schönheit in Person, eine Frau mit Augen, so tief und grün wie das Meer, und mit Haaren, die wie die Wintersonne glänzten. Dabei strahlte sie eine geradezu magische Wärme aus, die trotz der heiligen Flamme, in deren Nähe er sich aufhielt, deutlich zu spüren war. Das muss der Feuergeist sein, dachte er, der Todesbote, wie er in den alten Sagen beschrieben wird; er ist gekommen, um dich zu holen. Hatte er sich bei den Riten der Vorbereitung so sehr verausgabt?
Ausgerechnet in dem Augenblick, da dieser Engel vor ihm erschien, war er voller neidischer, überheblicher Gedanken gewesen. Ihm sank der Mut. Er war verdammt.
»Liebster Schöpfer! Ist es so weit?«, fragte er mit zitternder Stimme.
Die schöne Erscheinung blinzelte mit den Augen. »Geht es dir nicht gut?«
Simon raffte sich auf. »Oh, vergib mir. Ich... ich habe dich mit jemandem verwechselt.« Er schloss die Augen und betete inständig, dass er im Jenseits nicht auch noch dafür bestraft würde, dass er den Feuergeist mit einem Bauernmädchen verwechselt hatte.
Die Erscheinung verbeugte sich ehrerbietig. »Ich wollte dich bitten, mir etwas über die Geschichte dieser Basilika zu erzählen. Ich komme von weit her.«
Simon zitterte am ganzen Leib. Oje, dachte er und sah sich nach allen Seiten um, in Sorge darüber, dass andere Zeuge seiner Not waren. Jetzt werde ich auch noch geprüft. Es saßen nur wenige Gläubige im Rund, und die waren im Gebet oder in Meditation vertieft. Allerdings wandelte da noch ein Bauer, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, durch die Basilika, bestaunte die Fresken und Mosaiken an den Wänden und auf dem Boden.
Jetzt also soll sich entscheiden, wie mein Leben im Jenseits aussehen wird, dachte er. Mein Verhalten und Wissen als Geistlicher stehen auf dem Prüf stand. Ich werde mich dann wohl anstrengen müssen und mein Bestes geben.
»Es ist mir ein Vergnügen.« Er rang sich ein Lächeln ab und würgte an seinem Herzen, das ihm bis zum Halse schlug. »Hier entlang, bitte.«
»Danke«, sagte Rhapsody und faltete die Hände unter den Ärmeln ihrer Kutte, wie es sich geziemte. Dass ihrem Wunsch so prompt entsprochen wurde, hatte sie gar nicht zu hoffen gewagt, vor allem nicht nach der anfänglichen Reaktion des Geistlichen, der, als er sie erblickte, dermaßen entsetzt zu sein schien, dass ihr selbst kalte Schauer über den Rücken liefen.
Ähnliche Reaktionen auf sie waren ihr schon bei anderer Gelegenheit aufgefallen, so unter Stephens Bediensteten etwa, den Wachposten vor dem Haus der Erinnerung oder den Anhängern von Llauron. Den bislang treffendsten Ausdruck dafür hatte wohl Anborn gefunden, der große cymrische General.
Ah, jetzt weiß ich, wer du bist. Du bist Rhapsody, nicht wahr?
Was macht dich so sicher?
Eine solche Missgeburt wie dich kann es nur einmal geben.
Selbst Khaddyr, der als Heiler den Anblick schrecklich entstellter Patienten gewöhnt war, hatte sie fassungslos angestarrt.
Ich dachte, Ihr könntet Euch für sie interessieren. Mir ist sie ein Rätsel. Eine solche Lirin ist mir noch nie zu Gesicht gekommen.
Was es war, das andere bei ihrem Anblick immer wieder aus der Fassung brachte, blieb ihr unerklärlich. War es ihr Äußeres als Liringlas oder irgendetwas, das sie sich beim Gang durchs Feuer zugezogen hatte?
Manchmal registrierte sie auch Reaktionen, die wie Bewunderung anmuteten, ein Gefühl, das ihr früher in anderer Form im Bordell häufig entgegengebracht worden war. Wie auch immer, sie würde sich damit abfinden müssen. Vielleicht sollte sie Achmeds Beispiel folgen und sich verhüllen. Rhapsody zog die Kapuze wieder über den Kopf und folgte dem schwitzenden Ordensbruder.
Er führte sie als Erstes vor die Kohlenpfanne.
»Das ist die heilige Flammenquelle von Vrackna, dem all-einen Feuergott«, sagte er betont vorsichtig. Plötzlich wieder an den cymrischen Missbrauch dieses Gottesnamens erinnert, der ja eigentlich einen bösen Feuergeist bezeichnete, wurde Rhapsody ganz bleich im Gesicht, was den nervösen Mann an ihrer Seite zusätzlich irritierte. Er musste um Selbstbeherrschung ringen.
»Die ... Basilika ist ein Haus des Schöpfers und insofern einmalig, als sie einem seiner fünf Kinder geweiht ist, nämlich dem Element des Feuers. Die Flamme in dieser Pfanne stammt direkt aus dem Herzen der Erde.«
Rhapsody lächelte, mied es allerdings, ins Feuer zu blicken, denn sie hatte Angst, in Tränen auszubrechen oder angesichts der tanzenden Farben in Trance zu versinken. Stattdessen nickte sie Achmed zu, der sich gerade in der Nähe aufhielt.
»Das ist mein Begleiter«, sagte sie und winkte den Dhrakier herbei. »Er wird bestimmt gern mit anhören, was du zu sagen hast.«
Mit gütigem Lächeln, das inzwischen zur Maske gefroren war, drehte sich der Geistliche um, um Achmed zu begrüßen. Der lüftete den Schleier vor seinem Gesicht und grinste. Gerade noch rechtzeitig hielt Rhapsody ihren Nebenmann am Arm gepackt, der mit verdrehten Augen in Ohnmacht zu fallen drohte.
Der Todesengel war offenbar nicht allein gekommen.
»Das ist mein Begleiter«, sagte die Erscheinung mit sanfter Stimme. »Er wird bestimmt gern mit anhören, was du zu sagen hast.«
Simon hatte sich aufs Schlimmste gefasst gemacht und damit gerechnet, wiederum eines übernatürlichen Wesens ansichtig zu werden, womöglich einem Feuergeist niederer Ordnung. Dann aber sah er sich einem Gesicht gegenüber, das, vom Licht der flackernden Flammen beschienen, die Ausgeburt eines schrecklichen Albtraums zu sein schien. Die Augen stachen, als wollten sie seine Seele aufspießen; der Mund, diese krumme Falte in pockennarbiger Haut, zeigte zur Begrüßung ein höhnisches Grinsen.
Als ihm schwarz vor Augen wurde, wähnte sich Simon schon am Abgrund der ewigen Verdammnis. Falls er denn nun scheitern sollte, würde er, anstatt in den Armen der holden Feuerfee zur Glückseligkeit aufzusteigen, diesem Unhold der Unterwelt ausgeliefert sein, der nichts als Hohn und Spott für ihn übrig hätte. Es schien, als würden Gut und Böse hier und jetzt um seine Seele streiten. Sein letzter klarer Gedanke war ein Seufzer des Bedauerns darüber, dass er den alten Mythen, die schon lange nicht mehr zum Dogma gehörten, nur so wenig Beachtung geschenkt hatte. Simon fing heftig zu zittern an und stürzte vornüber, als ihm das Blut aus dem Kopf sackte.
Eine kräftige, warme Hand hielt ihn gepackt und richtete ihn wieder auf. Als Simon den Kopf hob, stieg ihm von den Haaren der Feuerfee ein feiner Duft in die Nase, und er sah die grünen, unwiderstehlichen Augen auf sich gerichtet.
»Bruder?« Sie lächelte ihm aufmunternd zu, und er fasste neuen Mut. Vielleicht hatte er sie mit seinen Antworten ja doch halbwegs zufrieden gestellt.
Sie beugte sich näher, was ihn schwindeln machte. »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben«, flüsterte sie. Oh, welch ein Segen, dachte Simon dankbar; die Gottgesandte will mich schonen.
»Es geht mir schon wieder besser. Verzeihung. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, natürlich. Die Gemeinde der Gläubigen unserer Diözese feiert hier ihre Gottesdienste und nutzt dieses Geschenk des Schöpfers zur Reinigung der Gedanken, damit ihre Gebete der Übermittlung durch den Patriarchen würdig sind.«
Die Feuerfee nickte. »Und was hat es damit auf sich?« Sie streckte den Arm aus und zeigte auf die kunstvollen Wandfresken der Basilika.
Simon sammelte all seine Kraft, um ohne Hilfe auf den Beinen zu bleiben. Dann deutete er auf einen Bildausschnitt an der Nordseite des inneren Ringes, der einen jungen Mann mit rotem Gewand und gehörnter Mitra darstellte.
»Das ist das Porträt Seiner Gnaden Ian Steward, des Segners von Canderre-Yarim. Er ist der Seligpreiser unserer Diözese.«
»Tristans Bruder?«, wollte der Dämon wissen. Seine Stimme war so trocken wie schwarzes Feuer und hatte einen überheblichen Unterton.
Simon erschauderte. Auf gar keinen Fall wollte er die Verdammung Seiner Hoheit mit zu verantworten haben. Allerdings wunderte es ihn nicht, dass der Dämon mit dem Fürsten bekannt war. Simon sah sich um und suchte nach Brentel, dem Ordensbruder, der ebenfalls zum Putzdienst eingeteilt war, sich aber offenbar verzogen hatte. Vielleicht war er im Reliquiar oder in der Sakristei. Er richtete den Blick zurück auf die Feuerfee, die ebenfalls auf eine Antwort von ihm zu warten schien.
»J ... ja«, stotterte er. Der Engel nickte und zeigte sich zufrieden. Erleichtert wandte er sich den anderen Fresken zu.
»Das sind die künstlerischen Darstellungen von der Geburt des Feuers«, sagte der Ordensbruder und wischte sich nervös den Schweiß von der Stirn.
Rhapsody folgte seinem Fingerzeig und blickte auf eine Reihe von Mosaiken, die die übrigen Flächen des inneren Ringes der Basilika schmückten. Auf der Ostseite waren die Sonne und eine Sternschnuppe auf schwarzen Kacheln abgebildet, die das Nichts des Universums darstellen sollten. An der Oberfläche der Sonnenkugel tanzten hell leuchtende Flammen.
»Die Erde ist aus einem Bruchstück unserer Sonne entstanden, das durch das Nichts streunte, bis es schließlich in der Umlaufbahn seiner Mutter zur Ruhe gekommen ist«, referierte der Geistliche und suchte nach Zustimmung in Rhapsodys Miene. Weshalb er das tat, war ihr rätselhaft, doch sie lächelte und nickte mit dem Kopf. Erleichtert wandte er sich der Südseite zu.
»Feuerstürme fegten über die Erde, die sich dann aber legten, weil ihnen der ewige Zündstoff fehlte. Das Feuer verzog sich ins Innere, wo es den Kern ausbildete und bis heute in seiner reinsten Form weiterbrennt.« In zehntausenden winziger Mosaikstücke war die erloschene Erde dargestellt, durch die sich eine rote Spirale bis ins glühende Zentrum zog.
Von Simon dazu angeregt, richteten Achmed und Rhapsody nun ihr Augenmerk auf das letzte Bildnis, eine stilisierte Darstellung der Sonne mit roter Spirale, ähnlich dem Zeichen, das er als Amulett um den Hals trug.
»Das ist das Symbol der F’dor, der Kinder des Feuers, also jenes inzwischen ausgestorbenen Urvolkes, das bereits lange vor der Menschheit existierte. Sie zähmten das Feuer, soweit dies überhaupt möglich war, und schenkten es den Menschen, damit sie es nutzten, um ihre Wohnungen im Winter zu wärmen und Waffen zu schmieden. Die F’dor waren die Väter der Schmiedekunst und überhaupt jeglicher Nutzanwendung dieses heiligen, mächtigen Elements, das uns der Allgott als erstes Geschenk gemacht hat.«
Achmeds düstere Miene brachte Simon ins Stocken. Schnell richtete er den Blick auf Rhapsody, die nach wie vor lächelte.
Sie streckte die Hand aus, die der Ordensbruder beherzt ergriff und schüttelte.
»Vielen Dank, es ist jetzt für uns Zeit zu gehen.«
Ohnmächtig sank der Mönch zu Boden. Rhapsody konnte nur noch verhindern, dass sein Kopf auf den harten Fliesen aufschlug.
»Was, um alles in der Welt, ist bloß los mit ihm?«, fragte sie, als sie den Bewusstlosen mit Achmeds Hilfe unter dem Symbol der F’dor mit dem Rücken an die Wand lehnte.
»Nichts«, antwortete Achmed und warf einen Blick auf das Mosaik darüber. Es ist irgendetwas in der Erde, dachte er.
Rhapsody zog den Korken aus ihrer kleinen Schnapsflasche, führte sie an Simons Lippen und träufelte ihm ein Quäntchen in den Mund. Der Mönch hustete, spuckte und bekleckerte sein Gewand, kam aber immer noch nicht zu sich. Sie flößte ihm noch einen Schluck ein und verkorkte dann die Flasche.
»Hoffentlich hilft’s«, sagte sie.
»Fürs Erste vielleicht«, grinste Achmed. »Ordensbrüder, die das Feuer hüten, sprechen für gewöhnlich aus nahe liegenden Gründen dem Alkohol zu. Ich schätze, er wird ganz schön in Verlegenheit kommen, wenn er erklären muss, warum seine Kutte nach Weinbrand stinkt.«
Als er sah, dass wachsende Besorgnis Rhapsodys Blick verdunkelte, drängte er sie zum Aufbruch.
»Keine Bange, er steht gleich wieder auf den Beinen und wird sich zu seiner Entschuldigung schon das Passende einfallen lassen. Diese Leute verstehen sich auf die Kunst der Selbsttäuschung fast so gut wie du.« Er half ihr beim Aufstehen.
»Was soll das heißen?«
»Komm jetzt endlich. Sobald wir außerhalb der Stadtmauern sind, werde ich dir’s sagen.« Er nahm sie bei der Hand und eilte mit ihr nach draußen, wo die beiden in der Menge der Passanten auf den Straßen untertauchten.
Simon kämpfte gegen seine Ohnmacht an und verlor. In den wenigen Wachmomenten nahm er den bezaubernden Duft der Feuerfee wahr und spürte ihre warmen Hände, die ihn im Nacken abstützten. Er hatte seinen Tod kommen sehen und war von der Feuerfee bei der Hand genommen worden. Vielen Dank, hatte sie gesagt; es ist jetzt ftir uns Zeit zu gehen. Sie hatte ihn erwählt. Das heißt, er war erlöst und nicht etwa 4er Verdammung durch den Dämon mit dem grässlichen Antlitz anheim gestellt. Schwärze umfing ihn.
Doch dann spürte er ihre Hand ein weiteres Mal, und es rann ihm flüssiges Feuer durch die Kehle, wogegen er sich zunächst zu wehren versuchte. Doch dann gewahrte er eine wohlige Wärme, die ihn beruhigt einschlafen ließ, befreit von aller Angst und Not.
Vorläufig jedenfalls, bis ihn der Abt aufwecken würde.