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Um den von Khaddyr bezeichneten Ort im tiefen Forst zu erreichen, hatten sie eine Reise von drei Tagen zurückzulegen. Wieder mieden sie die größeren Ortschaften entlang der Hauptstraße und hielten sich, so gut es ging, im Schutz der Bäume auf.

Der Wald im Westen war unberührt und verwildert, dicht bewachsen mit immergrünen Bäumen, die nicht nur das Tageslicht, sondern auch den Schnee fern hielten, sodass der Waldboden fast frei davon war.

Mit den beiden Bolg hatte Rhapsody ein schnelleres Tempo vorlegen können als mit Khaddyr, der sehr viel älter und schwergewichtiger war und häufiger Pausen einlegen musste. Dafür kannte er sich in der Gegend bestens aus. Es war fast, als hieße ihn der Wald willkommen, als ebnete er ihm den Weg durch das dichte Unterholz.

Rhapsody schaute immer wieder zurück und sah zu ihrer Erleichterung tatsächlich des öfteren zwei dunkle Gestalten oder lange Schatten aus der Deckung auftauchen und bald darauf verschwinden. Achmed und Grunthor blieben ihr auf der Spur und ließen sie das auch wissen. Die Menge der aufdringlichen Dörfler schien abgeschüttelt zu sein. Dennoch sah sie sich nicht allein mit dem Priester, und das beruhigte sie sehr.

Wenn sich Khaddyr früh morgens hinter irgendein Gebüsch zurückzog, um seine Notdurft zu verrichten, nutzte Rhapsody die Gelegenheit zur Morgenandacht. Der Mahnung Achmeds eingedenk und um sich nicht zu verraten, sang sie nur die Melodie und verzichtete auf die alt-lirinschen Verse. Manchmal, wenn sie nach Abschluss des Gesangs aufblickte, sah sie den filidischen Priester vor sich stehen und sie wie einen mythischen Vogel betrachten.

Abends machte Khaddyr immer ein kleines Feuer, von dem sie jedes Mal respektvoll Abstand hielt, weil sie ja wusste, wie Feuer auf sie reagierte. Khaddyr führte diese Zurückhaltung offenbar auf eine wie auch immer begründete Abneigung zurück, die er nicht weiter in Frage stellte. Er versuchte auch nicht mehr, sie zu ihrer Person auszufragen, und sprach nur noch dann, wenn es darum ging, ihr den Weg zu erklären.

Am dritten Tag endlich gelangten sie an eine große Lichtung. Darauf waren etliche Häuser und Hütten verstreut, manche aus Stein, andere aus Lehm oder Fachwerk gebaut, gerade so wie die meisten bäuerlichen Behausungen dieses Landstrichs. Sie kamen auch an einigen großen Gebäuden vorbei, mit schweren Türen und kegelförmigen Strohdächern. Aus den Schornsteinen all dieser Häuser stieg Rauch auf.

Über den Eingängen waren sechseckige Zeichen angebracht, ähnlich demjenigen, das sie noch mit Achmed und Grunthor über der Tür einer Bauernhütte gesehen hatte, das nur nicht so schmuckvoll und bunt gewesen war. Die Mauern waren fast alle weiß getüncht und teilweise mit Steinplatten verziert.

Die Leute, die dort ein und aus gingen, waren nicht wie Bauern oder Dorfbewohner gekleidet. Vielmehr trugen sie wie Khaddyr lange wollende Gewänder in den Farben Blau, Gelb, Grün oder Braun. Manche dieser Gewänder, so wie Khaddyrs, waren mit einer Kapuze versehen, was – ähnlich wie die Farben – allem Anschein nach Rangunterschiede erkennbar machte.

Neben den in solchen Roben gekleideten Ordensleuten waren auch Männer zu sehen, die ledernen Harnisch trugen und mit Pfeil und Bogen, Speeren, Äxten und dergleichen bewaffnet waren. Viele dieser Männer machten einen abgekämpften Eindruck; etliche schienen unter Verletzungen zu leiden. Rhapsody fragte sich, was ihnen an diesem scheinbar so friedlichen Ort widerfahren sein mochte. Bei dem Gedanken an Krieg verkrampfte sich ihr der Magen. Schon in Ostend hatte Krieg in der Luft gelegen. Wenn es tatsächlich zu bewaffneten Kämpfen käme, würden sich ihre Chancen auf eine baldige Rückkehr nach Hause erheblich verschlechtern. Und diese Aussicht bekümmerte sie sehr.

Am späten Nachmittag hörte sie es dann: ein Lied, das schöner und Wohltönender klang als alles, was ihr bisher zu Ohren gekommen war. Es war das Lied des Baums, des mit der Sagia verwurzelten Zwillings. Sie waren ihm offenbar schon sehr nahe gekommen.

Als sich die Sonne auf den Horizont senkte, erreichten sie eine große Waldwiese, und in deren Mitte erhob sich sein Stamm, weißer als Schnee, mit weit ausladendem elfenbeinernem Geäst, das wie die Finger einer Riesenhand in den dunkler werdenden Himmel langte.

Rhapsody traute ihren Augen kaum. An seinem Fuß war der Stamm unglaublich dick und maß an die zwanzig Schritt im Durchmesser. Die ersten Äste entwuchsen ihm in der schwindelnden Höhe von über fünfzehn Klaftern. Gern hätte sie die weit gespannte Krone in vollem Laub gesehen. Die letzten Strahlen der Wintersonne ließen die Rinde in einem geradezu ätherischen Glanz aufleuchten. Ringsum in einem Abstand von gut hundert Schritt, da, wo die seitlich auswuchernden Flachwurzeln in der Erde verschwanden, war ein Ring von Bäumen gepflanzt, von jeder nur denkbaren Art einer. In diesem Ring hallte ein uraltes Lied; es unterschied sich von dem der Sagia, klang aber ebenso bedeutungsvoll und schön. In Rhapsodys Augen sammelten sich heiße Tränen.

Khaddyr beobachtete sie mit starrem Blick, bis er schließlich wie nach tiefem Schlaf den Kopf schüttelte. »Du hast Achtung vor dem Baum?«, fragte er. Rhapsody nickte, ohne den staunenden Blick von dem Großen Weißen Baum abzuwenden. Khaddyr schmunzelte. »Dann bist du hier willkommen. Llauron wird sich freuen, dich kennen zu lernen. Komm, wir sind fast bei ihm zu Hause.« Er führte sie an dem Ring aus Bäumen vorbei und auf die Wiese hinaus.

Am Rand der Lichtung stand zwischen hohen alten Bäumen ein großes Haus, das, obgleich einfach und schlicht gebaut, außergewöhnlich schön war. Die vielfach verwinkelte Fassade reichte bis unter das hohe Geäst und enthielt zahlreiche dem Baum zugewandte Fenster. Mit besonders schönen Holzschnitzereien verziert war jener Teil des Hauses, zu dem auch ein Turm gehörte, der noch das Dach des Waldes überragte.

Ein mächtiger Steinwall führte zu einem kleineren Anbau hin, wo vor einem schweren Holztor Soldaten Wache standen, die ähnlich ausgerüstet waren wie die Männer, die Rhapsody zuvor gesehen hatte. An Khaddyr gewandt, zeigte sie mit fragender Miene auf das Haus. Der Priester lächelte.

»Das ist Llaurons bescheidene Bleibe, das Haus unseres Fürbitters, seinem hohen Stand nicht gerade angemessen, aber durchaus wohnlich. Komm, ich bringe dich zu ihm.« Er führte sie durch einen gepflegten Garten zum Tor und nickte den Wächtern zu, worauf diese ihnen den Weg frei machten. Versteckt hinter dichtem Gebüsch, konnten Achmed und Grunthor beobachten, wie der Mann an die Tür klopfte, die wenig später von einer Frau geöffnet wurde. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Priester trat sie zur Seite und ließ ihn mit Rhapsody in dieses seltsam verwinkelte Haus eintreten. Die Dienerin machte die Tür hinter ihnen zu.

Achmed schloss die Augen und lehnte sich an den Stamm einer weißen Erle. Der Wind schmeckte ein wenig süßlich, und die Stille war betäubend. Rhapsodys Herzschlag wurde weicher, je weiter sie in das Haus vordrang, bis fast nur noch Grunthors Puls und der eigene unter der Haut resonierte. So muss sich Frieden anfühlen, dachte er und war sich nicht ganz sicher, ob ihm das auch gefiel. Dann spürte er am Rand seines Bewusstseins einen weiteren Rhythmus in der Ferne pulsieren, und da war noch einer, ungewohnt, aber nicht unbekannt. Es schwangen noch andere Herzschläge im Wind, doch die waren allzu weit entfernt und nur als ein vages Stampfen oder geflüstertes Flackern auszumachen. Es gab also draußen in der weiten Welt immer noch einige Herzschläge, die er unter der Haut und in seinem Blut registrierte. Vielleicht war er seiner Gabe doch nicht so restlos verlustig gegangen wie er befürchtet hatte. Allerdings war ihm nicht klar, wie das sein konnte und ob es ein Segen war oder ein Fluch. Er schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf Rhapsody. Die anderen Herzschläge verstummten wieder.

Sie warteten länger als geplant und wollten sicher sein, dass, wer immer in diesem seltsamen Haus lebte, ihr kein Leid antun würde. Achmed hatte ihren Herzschlag vom Augenblick der Trennung an genau beobachtet, ihn als klar und kräftig empfunden, bis sie mit dem Naturpriester in dieses Haus getreten war. Der Puls war nun zwar gedämpft, aber immer noch so deutlich zu vernehmen, dass Achmed seine Rückschlüsse daraus ziehen konnte.

Sie war nervös, ängstlich sogar. Dann spürte er, wie das anfängliche Unbehagen plötzlich in einen Anflug von Panik umschlug, die aber keinen konkreten Grund zu haben schien. In diesem Fall wären er und Grunthor unverzüglich eingeschritten. Doch wie sich herausstellte, war das nicht nötig.

»Wie lange sollen wir noch warten?«

»Noch eine weitere Nacht. Dann gehen wir.«

Sie wurde anscheinend von besonders intensiven Albträumen heimgesucht. Er konnte spüren, wie sich ihr Puls im Verlauf der Nacht dramatisch beschleunigte. Seit der gemeinsam auf der Wurzel verbrachten Zeit kannte er solche Wechsel im Rhythmus, die meist von schlimmen Träumen ausgelöst wurden. In dieser Nacht aber schien das Albdrücken noch um einiges heftiger zu sein.

Als es dämmerte, spürte er, dass sie das Haus verließ und auf den Großen Weißen Baum zuging, vor dem sie ihre Morgenandacht sang. Der Wind trug die sanften Schwingungen über das weite Feld und mit wohliger Wirkung über ihn hinweg. Das Lied war wie immer, hatte aber eine melancholischere Note, wie er sie zuletzt an der Wurzel gehört hatte, eine tiefe Traurigkeit, die sich nicht ermessen ließ. Dabei war sie weder verletzt noch in Gefahr. Es ging ihr gut.

Einen Augenblick später hörte er sie pfeifen und das Zeichen dafür geben, dass alles in Ordnung war. Zwar konnte er ihr anhören, dass sie sich von den Traumgesichten noch nicht ganz erholt hatte, doch war sie zuversichtlich genug, um die Freunde ziehen zu lassen. Achmed lächelte.

Er öffnete den Mund und atmete die frostige Luft ein. Sie war frei von den ekligen Ausdünstungen des Dämons. In der Stille um ihn herum lag ein Vorgefühl von Absolution, von einem Neuanfang, der das alte Leben mit seinen Schrecken weit hinter sich ließ. Sie hatten es geschafft. Die Flucht war geglückt. Die bevorstehenden Herausforderungen konnten ihn nicht schrecken, wenn er zurückdachte an das, was nun glücklich überstanden war.

Der kalte Schnee unter den dürftig besohlten Schuhen holte ihn aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Auch Grunthor war inzwischen aufgewacht.

»Wir sollten uns etwas Wärmeres zum Anziehen besorgen – und etwas zu essen. Ich kann dieses Wurzelgeschnetzelte nicht mehr sehen. Danach wollen wir die Lage peilen und sehen, wohin der Wind uns trägt. Vielleicht können wir für Rhapsody einen Weg ans Meer finden.«

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