Das Cymrer-Museum war in einem kleineren Außengebäude untergebracht und aus dem gleichen rosig-braunen Stein gebaut wie Stephen Navarnes Wohnhaus. Aber im Unterschied zu den anderen Gebäuden der Schlossanlage steckten an seiner Fassade keine brennenden Fackeln in den Halteringen, sodass es im Dunkeln kaum auszumachen war.
Die Dämmerung senkte sich herab und es schneite, als sie das Schloss verließen und über den Hof hinweg auf das kleine, unscheinbare Gebäude zugingen.
Rhapsody hatte sich vorher kurz entschuldigt, um ihre Abendvesper singen zu können, was alle anderen im Haus unterbrechen ließ, womit sie gerade beschäftigt waren, um ihr zuzuhören. Melisande und Gwydion hörten und sahen ihr vom Balkon aus zu und applaudierten stürmisch, als sie zu Ende gesungen hatte, was sie zum Lachen und gleichzeitig in Verlegenheit brachte.
Stephen schmunzelte. »Ab ins Bett mit euch!«, rief er ihnen zu und kicherte, als die beiden flugs vom Balkon verschwanden. Er bot Rhapsody seinen Arm an und hielt in der anderen Hand eine brennende Fackel, um den Weg zu beleuchten.
Als sie vor der mit Messing beschlagenen Tür angelangten, zog er einen riesigen Schlüssel aus der Tasche seines Umhangs und steckte ihn ins Schloss, das zu öffnen nicht ganz einfach zu sein schien. Offenbar war das Museum in letzter Zeit nur selten aufgesucht worden. Grunthor half, die in den Angeln quietschende Tür aufzustemmen, und sie traten ein.
Im Licht der einzigen Fackel wirkte das Museum fast wie ein Mausoleum, seine liebevoll arrangierten Exponate wie Grabbeigaben, die eigentlich niemand sehen sollte. Stephens Gesicht schimmerte gespenstisch weiß, als er durch den Raum schritt und mit einem langen Kienspan eine Reihe schmuckvoller, mit Glas umschirmter Wandleuchter anzündete.
»Erstaunlich«, bemerkte Rhapsody. »Wie viel Licht diese Leuchter abgeben!«
»Sie sind eine Erfindung des Cymrerführers Gwylliam ap Rendlar ap Evander tuatha Gwylliam, bekannt auch als Gwylliam der Visionär. Er war unter anderem Ingenieur und ein begnadeter Tüftler und hat viele faszinierende Dinge entworfen«, erklärte der Herzog. »Die Lampen verdanken ihre Leuchtkraft der besonderen Form des Glases, das wie eine Streulinse wirkt.«
»Von Gwylliam habe ich schon gehört«, sagte Rhapsody, als Achmed und Grunthor durch den Raum schlenderten und sich die Gemälde und Statuetten anschauten. Grunthor blieb vor einer schmalen Steintreppe stehen und blickte in den engen Mauerausschnitt hinauf, als wollte er abschätzen, ob er mit seinen breiten Schultern wohl hindurchpasste. »Aber all diese Beinamen sagen mir nichts. War das sein vollständiger Name?«
»Ja«, antwortete Stephen, der, wie es schien, ein Lieblingsthema ansprach. »Als die Mitglieder der Ersten und Dritten Flotte nach fünfzigjähriger Trennung endlich wieder zusammentrafen und sich zu ihrer Einheit bekannten – übrigens auch mit den Landsleuten der Zweiten Flotte –, stellte sich ihnen das Problem der Abstammung beziehungsweise Erbfolge vor allem auch deshalb, weil sich die Cymrer ihre eigene Genealogie zurechtgelegt hatten. Vereinfacht ausgedrückt: Sie wussten nicht, wie sie sich nennen und worauf sie sich beziehen sollten – auf die Flotte, mit der sie gekommen waren, auf ihre Sippe oder ihren Volksstamm. Darum entwickelten sie ein einfaches, geeignetes System der Benennung: Auf den persönlichen Namen folgen die der beiden unmittelbaren Vorfahren, und am Ende steht der Name des Emigranten der Ersten Generation. Gwylliams Vater war König Rendlar, sein Großvater König Evander, und er selbst zählte zur Ersten Emigrantengeneration.«
»Verstehe«, sagte Rhapsody, die plötzlich fröstelte. Stephen hatte gerade eine Teilantwort auf die von Achmed gestellte Frage gegeben, wie viel Zeit zwischen deren Exodus und ihrem Gang durch die Wurzel verstrichen war. Auch ohne dass der Historiker die Anzahl der Jahre beziffert hätte, schien nun klar zu sein, dass zwischen Trinian, der zum Zeitpunkt ihres Weggangs inthronisiert worden war, und Gwylliam mehrere Generationen von Königen das Zepter geführt hatten. Es war also noch weit mehr Zeit vergangen als angenommen.
Rhapsody drehte sich nach Achmed um und sah, dass er zuhörte, aber so tat, als interessierte er sich ausschließlich für das vor ihm aufgeschlagene Buch mit Zeichnungen und Architekturplänen aus Gwylliams Feder.
»Das ist übrigens nur eine Reproduktion«, sagte der Herzog, an Achmed gewandt, der durch die Seiten blätterte. »Das Original ist längst zu Staub zerfallen. Jede nachfolgende Generation stellt einen Historiker, der unter anderem die Aufgabe hat, solche Schriften für die Nachwelt zu erhalten. Leider geht vom ursprünglichen Sinn vieles in der Übersetzung verloren, wie ich befürchte.«
»Wie viele Generationen hat es seit der Landung hier gegeben?«, fragte Achmed wie beiläufig und studierte die Skizze für ein Belüftungssystem.
Stephen blies den Staub von einem Stapel Manuskripte, der auf einem der Regale lagerte.
»Dreiundfünfzig«, antwortete er und zog eine in Leder gebundene Schrift aus dem Stapel hervor.
»Hier«, sagte er, an Rhapsody gewandt, »das ist der Text, um den Llauron gebeten hat, eine Grammatik der alt-serennischen Sprache.«
»Danke«, sagte Rhapsody und fing zu husten an. »Ist das schon alles, ein so dünnes Bändchen?«
»Ja. Sie ist nicht vollständig und unsere Kenntnis der Sprache darum leider nur bruchstückhaft.«
»Aha. Trotzdem, vielen Dank.«
»Wer sind diese hässlichen Leute?«, fragte Grunthor und zeigte auf eine Reihe kleiner Statuen. Der Herzog kam lachend auf ihn zu.
»Das sind die Seherinnen Manwyn, Rhonwyn und Anwyn. Letzte ist übrigens auch in dieser Skulptur hier an der Seite ihres Gatten Gwylliam zu sehen. Ja, die drei sind das Ergebnis einer ungewöhnlichen Verbindung. Ihr Vater war ein Ur-Seren, groß gewachsen, schlank und von goldfarbener Haut, die Mutter ein kupferner Drache. Ihr solltet erst einmal die Gemälde sehen! Darauf sind sie noch viel hässlicher. Manwyns Haare sind feuerrot, die Augen wie Spiegel.«
»Sind?«, fragte Rhapsody. »Lebt sie denn noch?«
»Ja, sie ist das Orakel der Stadt Yarim. Dort steht auch ihr Tempel, es sei denn, die Mauern sind inzwischen über ihrem Kopf zusammengebrochen.«
»Wie alt seid Ihr eigentlich?«, fragte Grunthor geradeheraus. »Gehört Ihr auch noch zur Ersten Generation?«
Stephen lachte. »Wohl kaum. Ich bin 56 Jahre alt, habe nach meiner Rechnung also ungefähr ein Drittel meines Lebens hinter mir, das heißt, im Vergleich zu denen bin ich noch ein Kleinkind.«
Seine Miene wurde ernst. »Übrigens, ich will gern auf all eure Fragen zu antworten versuchen, aber seid euch bitte darüber im Klaren, dass ihr von anderen Cymrern oder deren Nachkommen nichts erfahren würdet. Sie sind ein sehr verschlossenes Volk, und es scheint, dass sie sich für ihre Herkunft schämen – was, bedenkt man ihre Geschichte, im Grunde nicht überraschen kann. Daran ändern auch die vielen Herzöge von Roland nichts, die ja alle dieser Linie entstammen. Ja, wir sind ein seltsamer, verwirrter Haufen.«
»Was ist im Obergeschoss zu sehen?«, fragte Achmed.
Als hätte er auf diese Fragen nur gewartet, eilte Stephen mit Elan auf die Treppe zu. »Kommt, ich zeig’s euch.«
Auf dem oberen dritten Absatz erhob sich das große Standbild eines kupfernen, mit Edelsteinen und Blattgold geschmückten Drachen, dessen Oberfläche offenbar lange nicht poliert und darum angelaufen war. Rhapsody drückte sich vorsichtig daran vorbei, denn die Statue wirkte sehr lebendig mit ihren Angst einflößenden Zähnen, den Krallen und Muskeln. Der Haltung nach war er zum Sprung bereit, und die Augen blitzten wütend.
»Das ist Elynsynos, jene mächtige Wyrm-Frau, die vor den Cymrern über unsere Gebiete herrschte«, erklärte Stephen. »Sie war allem Anschein nach sehr gefährlich und hat vom Anbeginn der Zeit alle Menschen erfolgreich von den Grenzen ihres Reiches fern gehalten, bis dann schließlich Merithyn der Kundschafter kam.«
Er führte die drei vor die Stirnwand, an der etliche Porträtgemälde hingen, jeweils zu zweit oder zu dritt gruppiert. Eines, das ein wenig abseits hing, war offenbar sehr viel früher gemalt worden als die übrigen. Das Porträt am anderen Ende der Reihe stellte Stephen in jüngeren Jahren dar. Von den anderen Abbildungen stach vor allem das eines Mannes ins Auge, der eine Mitra auf dem Kopf und ein Amulett an einer Kette um den Hals trug. Ganz ähnlich ausgestattet waren auch die Porträtierten in der oberen Reihe.
»Wer sind diese Männer?«, fragte Rhapsody.
»In der oberen Reihe sind der Patriarch – das ist der ganz außen – und die fünf Seligpreiser zu sehen, die unter ihm dienen. So sah er aus, als er noch ein junger Mann war. Mittlerweile ist er wohl auch in die Jahre gekommen. In der unteren Reihe seht ihr die Herzöge, die in den Ländern herrschen, wo auch die Seligpreiser, die ihnen in dieser Aufzählung zugeordnet sind, ihren jeweiligen Amtssitz haben. Einzige Ausnahme ist der da.« Er zeigte auf einen Mann mit rotbraunen Haaren, der ein bisschen älter zu sein schien als er selbst, aber ähnlich blaue Augen hatte. »Das ist Tristan Steward, seines Zeichens nicht nur Hoher Herrscher über Roland, sondern auch Prinz von Bethania, der Hauptstadt. Zwar sind alle unsere Staaten praktisch souverän, doch er führt den Oberbefehl über das zentrale Heer, regiert das größte Land und hat Gesetz gebende Gewalt. Die meisten Herzöge sind übrigens miteinander verwandt. Tristan und ich sind Vettern.«
Rhapsody nickte. »Warum hängen die Herzöge unter den Geistlichen?«
Stephen lachte. »Scharfsinnig bemerkt. Nun, Kirche und Staat liegen schon von alters her im Konflikt miteinander. Letztlich überlässt man es dem Volk zu entscheiden, wie es seine Loyalität zwischen dem Allgott und seinem Regenten aufteilt. Aber so frech können wohl auch nur cymrische Herrscher sein, dass sie eine solche Freiheit der Entscheidung fordern.«
Rhapsody lachte über den pietätlosen Schalk in der Stimme des Herzogs, der ihr zudem auch noch zuzwinkerte.
»In meinem Fall ist das natürlich nicht so. Der Seligpreiser der hiesigen Provinz ist gleichzeitig Segner von Avonderre. Er ist wahrscheinlich der mächtigste Mann von Roland, vielleicht sogar des ganzen Kontinents. Allerdings hat er einen Erzrivalen, nämlich den Segner von Sorbold, der seinerseits das Oberhaupt der Landeskirche ist, also über die Provinzgrenzen hinaus Einfluss ausübt. Die beiden verachten einander voller Leidenschaft. Nur der Allgott weiß, was sein wird, wenn der amtierende Patriarch das Zeitliche segnet. Der Segner von Avonderre-Navarne hält sich aus der Politik weitestgehend zurück, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Er hat Höheres im Sinn. Schaut euch einmal das hier an: In dieser Vitrine sind Skizzen der einzelnen Basiliken zu sehen. Sie sind die prächtigsten Überbleibsel cymrischer Architektur. Noch beeindruckender muss wohl die Gebirgsstadt Canrif gewesen sein, aber die wurde ja zerstört, als die Bolg über Gwylliams Länder herfielen. Das soll natürlich kein Vorwurf sein, Grunthor.«
»Ist als solcher auch nich angekommen«, entgegnete der riesige Firbolg, der seine Aufmerksamkeit auf die Drachenskulptur gerichtet hatte. Rhapsody registrierte, dass Stephen Achmed offenbar nicht für einen Firbolg hielt – was allerdings auch kaum überraschen konnte. Es war ihr ja selbst nicht aufgefallen. Sie folgte Stephen zur Vitrine.
»Hier, ein schönes Beispiel für cymrische Genialität, gepaart mit tiefer Religiosität. Für die alten Cymrer waren die fünf Elemente der Natur heilig und Quelle aller Kraft und Energie. Jede Basilika, die sie gebaut haben, war der Verehrung eines dieser Elemente gewidmet, von dem nicht zuletzt bei der Einsegnung des Grundstücks ausgiebig Gebrauch gemacht wurde.«
Interessiert betrachtete Rhapsody die Tuscheskizzen unter dem Glasdeckel. Sie waren alle von ein und demselben Künstler gezeichnet worden und zeigten detailgetreue und maßstabsgerechte Ansichten der einzelnen Basiliken. Die beeindruckendste war mit dem Namen Avonderre gekennzeichnet: ein allem Anschein nach enorm großes Bauwerk, gestaltet nach dem Vorbild eines Schiffes, das aus den schroffen Klippen einer Felsküste hervorzubrechen schien. Eine zweite Skizze zeigte, dass ein Großteil dieser Basilika nur bei Ebbe zu sehen war. Achmed hatte davon berichtet, etwas Ähnliches entdeckt zu haben. Offenbar handelte es sich um ein und dasselbe Bauwerk.
Stephen bemerkte ihr Interesse und schmunzelte.
»Das ist die Basilika, in der unsere Untertanen Gottesdienst feiern, die Meereskirche des Allgottes und Herrn der Ozeane. In der alten Sprache heißt dieser Abbat Mythlinis.«
Rhapsody erwiderte sein Lächeln. Stephens Beherrschung der Sprache ließ zu wünschen übrig. Abbat Mythlinis bedeutete in Wirklichkeit »Vater der Meeresgeborenen«, womit das Urvolk der Mythlin gemeint war. Sie warf Achmed und Grunthor einen Blick zu und fürchtete schon, dass sie es sich nicht verkneifen konnten, den Herzog eines Besseren zu belehren. Doch sie betrachteten gerade andere Exponate und ließen sich nichts anmerken.
»Diese Basilika wurde zu großen Teilen aus dem Holz der Schiffe gebaut, auf denen die Cymrer ihre Heimatinsel verlassen hatten«, fuhr Stephen fort. »Man weihte sie aus nahe liegenden Gründen dem Element Wasser, das den Bau mit jeder neuen Flut immer wieder aufs Neue segnet. Geheiligten Boden zu finden war für die Cymrer ungemein wichtig. Als Fremde in diesem Land brauchten sie Zufluchtsorte, die ihnen Schutz vor dem Zugriff des Bösen gewährten. Darum waren die Basiliken gleich nach den Wehrtürmen die ersten auf Dauer angelegten Gebäude, die sie errichteten. Avonderre ist die Provinz, an deren Küste die Auswanderer der Ersten Flotte an Land gingen. Hier bei uns befindet sich also der älteste Landungsplatz, wenn man einmal von der Stelle absieht, an der der schiffbrüchige Merithyn angespült wurde.«
Rhapsody nickte und richtete den Blick wieder auf die Gemäldegalerie. Es interessierten sie vor allem die Porträts der fünf Seligpreiser. Der Segner von Avonderre war in einem grünblauen Gewand aus Seide dargestellt, und der um seinen Hals hängende Talisman hatte die Form eines Wassertropfens.
Dieses Muster wiederholte sich auch auf den anderen Porträts: Roben und Talismane entsprachen dem jeweils zugeordneten Element. Der Patriarch hingegen war ganz in Gold gekleidet, und das Amulett an der Halskette stellte einen silbernen Stern dar.
So war es leicht, auch jene Seligpreiser auszumachen, deren Basiliken dem Feuer beziehungsweise der Erde geweiht waren. Ersterer trug eine flammend rote Amtstracht und eine dazu passende Mitra mit angedeuteten Hörnern. Sein goldener Talisman hatte die Form der Sonne, in der eine Spirale aus roten Edelsteinen funkelte. Der andere trug erdfarbene Kleider und ein Amulett, das aussah wie der Globus, den Llauron ihr gezeigt hatte. Die beiden letzten Seligpreiser aber waren ganz in Weiß gewandet, und nur einer von ihnen hatte eine Kette um den Hals hängen, allerdings ohne Amulett.
»Was hat es mit den anderen Basiliken auf sich? Zum Beispiel mit dieser da?« Rhapsody zeigte auf eine Skizze, die ein Gebäude aus zwei Perspektiven zeigte, einmal aus der Frontansicht und einmal von oben.
Diese mit dem Namen Bethania gekennzeichnete Basilika war kreisrund und, wie es schien, aus Marmor gebaut. Sie bestand aus mehreren konzentrisch angelegten Säulengängen, in denen auch die auf die Mitte hin ausgerichtete Bestuhlung der Gläubigen untergebracht war. Die Freifläche ringsum war mit einem flammenden Mosaik ausgelegt, das, von oben betrachtet, wie die Sonnenscheibe erstrahlte.
»Das ist die Kirche des Allgottes in der Gestalt des himmlischen Feuers, der von den alten Cymrern Vrackna genannt wurde.«
Rhapsody erbleichte. Ursprünglich, das heißt in den Tagen der Vielgötterei, stand dieser Name für den bösartigen Feuergott, wovon der Herzog aber nichts zu ahnen schien.
»Sie ist dem Element Feuer geweiht. Genau in der Mitte brennt ein ewiges Licht, das genährt wird vom vulkanischen Feuer aus dem Herzen der Erde. Auf diese Weise ist dieser Ort geheiligt.«
»Ist das die Basilika des Patriarchen? Denn der hat doch bestimmt seinen Amtssitz in Bethania.«
»Nein, Bethania ist die politische Hauptstadt von Roland. Das religiöse Zentrum ist der unabhängige Stadtstaat Sepulvarta. Dort befindet sich auch die Sternenzitadelle, der Wohn- und Amtssitz des Patriarchen. In der Basilika hält er lediglich Andacht, obwohl dort auch die Gemeinde ihren Gottesdienst feiert.«
»Das verstehe ich nicht. Worin besteht der Unterschied zwischen Andacht halten und Gottesdienst feiern?«
»Im direkten Gebet. Nach unserer Religion gibt es nur einen, der direkt zu Gott spricht, und das ist der Patriarch.«
»Warum?«
»Er ist der Einzige, der einer solch unmittelbaren Beziehung zum Schöpfer für würdig befunden wird.«
Rhapsody kniff die Brauen zusammen, behielt aber für sich, was ihr auf den Lippen lag. »An wen sind denn dann die Gebete der anderen gerichtet?«
»An den Patriarchen. Wir feiern die Riten des Glaubens und wenden uns mit unseren Bitten an den niederen Klerus, genauer gesagt: an die Ordinierten, die dann für uns beten. Der Patriarch trägt schließlich unsere durch den Klerus übermittelten Wünsche dem Allgott vor. Haben die jeweiligen Bittgesuche erst einmal die Ebene des Patriarchen erreicht, steckt die Kraft aller gläubigen Seelen hinter ihnen.«
»Verstehe«, sagte Rhapsody, obwohl ihrem eigenen Glauben im Grunde nichts fremder sein konnte als dies. Sie richtete ihren Blick auf die Patriarchenbasilika von Sepulvarta. »Interessant.«
Stephen strahlte übers ganze Gesicht und erklärte voller Stolz: »Das ist die Sternenzitadelle, die ich soeben erwähnt habe. Die Basilika selbst ist die Kirche des Allgottes in Gestalt des Lichts der Welt. Die alten Cymrer hatten dafür den Namen Lianta’ar.«
Diesmal ist er näher dran, dachte Rhapsody. Lianta’ar bedeutete »Träger des Lichts«.
»Sie liegt jenseits der heiligen Mauern von Sepulvarta, hoch oben auf einem Hügel. Ein wunderschöner Bau, wie du sehen kannst. Die Rotunde der Basilika ist in den Ausmaßen die größte ihrer Art und im Innern besonders prächtig ausgestattet. In ihr steht der Amtsstuhl des Patriarchen. Den für mich schönsten Anblick von Sepulvarta bietet allerdings dieses Bauwerk.«
Er zeigte auf einen gesonderten Teil der Skizze, die Zeichnung eines schlanken, spitz zulaufenden Turms, der, aus der Mitte der Stadt aufsteigend, alles andere überragte.
»Das ist die Hohe Warte, ein architektonisches Wunder, wie ich finde und was ich immer ganz unbescheiden anmerke, insbesondere weil es mein Urgroßvater war, der sie entworfen und erbaut hat.«
Rhapsody ließ einen Laut vernehmen, der kundtun sollte, wie beeindruckt sie war.
»Die Spitze ist tausend Fuß hoch und schon aus meilenweiter Entfernung zu sehen. Darauf steht ein einziger, glühender Stern, das Symbol des Patriarchats. Es heißt, dass der Patriarch über die Hohe Warte direkt mit dem Allgott verbunden ist. Das Licht, das an ihrer Spitze strahlt, kommt von den Sternen, die so in jeder Nacht den Boden weihen, auf dem sie steht.«
»Und was ist, wenn der Himmel bedeckt ist?«, fragte Achmed quer durch den Raum, so unerwartet, dass Rhapsody vor Schreck zusammenfuhr. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er, während er ein anderes Schaustück musterte, ihrer Unterhaltung gefolgt war.
»Die Sterne leuchten doch auch, wenn sie für uns nicht zu sehen sind«, antwortete Stephen. »Und was auf der Spitze der Hohen Warte erstrahlt, ist gewissermaßen der Teil eines Sterns, nämlich das Element Äther.«
»Faszinierend«, sagte Rhapsody. »Und die anderen?«
»Die Basilika in Bethe Corbair ist dem Wind geweiht; sie ist die Kirche des Allgottes in Gestalt der Luft, und der ursprüngliche Name lautet ›Ryles Cedelian‹.«
Lebenshauch, übersetzte Rhapsody im Stillen und warf einen Blick auf Achmed, der ein Stück Treibholz unter Glas betrachtete.
»Das besondere Attribut dieser Basilika ist der zentrale Glockenturm mit seinen insgesamt 876 Glocken, die stellvertretend für all die Schiffe sind, die Serendair damals verlassen und die Cymrer in Sicherheit gebracht haben. Die Kirche steht auf einer Anhöhe inmitten der Hauptstadt, wo der Westwind durch den hohlen Turm streicht und die Glocken auf wundervolle Weise zum Klingen bringt. Das musst du dir unbedingt anhören, Rhapsody, wo du doch selbst eine Himmelsängerin bist. Als die Basilika eingesegnet wurde, hat man die Glocken 876 Tage lang läuten lassen, und es ist ihr Klang, der den Boden der Basilika heilig hält und überhaupt ganz Bethe Corbair zugute kommt. In jedem Winkel der Stadt hört man den süßen Klang der Glocken.«
»Einen Besuch dort werde ich mir gewiss nicht entgehen lassen«, sagte sie und lächelte. »Welcher Seligpreiser ist denn der Segner von Bethe Corbair?«
Stephen zeigte auf den einen der beiden in Weiß gekleideten Männer, der eine Silberkette um den Hals trug.
»Lanacan Orlando. Der andere ist Colin Abernathy, der die neutralen Länder im Süden zu seiner Diözese hat. Weil dieses Gebiet – wie auch Sorbold – nicht zu Roland gehört, gibt es dort natürlich auch keine Basilika.«
»Und die letzte Basilika?«
Stephen zeigte auf ein düsteres Gebäude, das wie aus einem Berg herausgeschlagen zu sein schien.
»Das ist die einzige nicht-orlandische Basilika, die Kirche des Allgottes in Gestalt der Erde, genannt Terreanfor, was Herr der Erde bedeutet.« Rhapsody nickte, an dieser Übersetzung hatte sie nichts auszusetzen.
»Die Basilika ist in den Hang des Nachtbergs eingegraben worden. Selbst bei Tag fällt kein einziger Lichtstrahl auf ihre Mauern, geschweige denn ins Innere. Sorbold liegt in einer Trockenzone; es ist das Reich der Sonne, und deshalb wird der Nachtberg als ganz besondere Stätte verehrt. Obwohl Sorbold eine Diözese unserer Kirche und dem Glauben an den Allgott verschrieben ist, sind dort noch Reste der alten sorboldischen Religion aus heidnischen Tagen wirksam. Man glaubt, dass Teile der Erdkruste nach wie vor lebendig sind und dass der Nachtberg einer dieser so genannten Orte des Lebendigen Gesteins ist. Immer wieder neu geweiht wird die Basilika nach dieser Vorstellung durch die fortwährende Rotation der Erde. Ich bin selbst schon einmal dort gewesen und kann den Leuten von Sorbold nachempfinden: Es ist wirklich ein zutiefst magischer Ort.«
»Habt herzlichen Dank für Eure Erklärungen«, sagte Rhapsody. »Ich bin neugierig geworden auf all diese Orte und möchte sie gern irgendwann einmal mit eigenen Augen sehen.«
»Was ist das?«, fragte Grunthor. Er stand vor einer kleinen Nische, in der eine Reihe von Votivkerzen aufgestellt waren.
Rhapsody gesellte sich zu ihm und sah einen Tisch, der wie ein Tempelaltar mit einem schmuckvoll gestickten Tuch bedeckt war.
Auf dem Tisch lagen ein goldener Siegelring, ein schartiger Dolch und ein Armreif mit Ledergeflecht, das an einer Stelle aufgerissen war. An der Wand dahinter hing ein Messingschild mit eingravierter Inschrift.
Sie rückte näher, um zu lesen, was auf dem Schild geschrieben stand, doch es hatte sich im Lauf der Zeit allzu viel Staub darauf abgesetzt. Überhaupt hatte Stephens Ausstellung eher den Charakter eines kirchlichen Depositoriums denn den eines historischen Museums.
Sie langte in ihr Bündel und zog ein Taschentuch und eine kleine Flasche daraus hervor. »Das ist ein Zitronenextrakt mit Vogelbeere«, sagte sie, an den Herzog gewandt, und hob das Fläschchen in die Höhe. »Damit ließe sich das Schild putzen. Darf ich?« Stephen zeigte eine ernste Miene und nickte. Rhapsody zog den Korken von der Flasche, benässte das Tuch mit der scharf riechenden Flüssigkeit und streckte den Arm aus, um das Schild zu säubern. Die Schmutzschicht war schnell entfernt und die Gravur darunter klar und deutlich zum Vorschein gebracht.
Gwydion von Monasse, stand auf dem Schild zu lesen.
Rhapsody wandte sich dem Herzog zu, dessen Gesicht zur Maske erstarrt war. »Was ist das?«, fragte sie.
Stephen wich ihrem Blick aus. »Das ist alles, was von meinem besten Freund, der vor zwanzig Jahren starb, übrig geblieben ist«, antwortete er.