7

Von der Dunkelheit geschluckt, wurde Rhapsody ganz still. Sie wartete, bis sie sich an die Düsternis gewöhnt hatte, und versuchte dann, sich von Grunthors Hand loszureißen – ein sinnloses Unterfangen. Sie konnte den Riesen kichern hören und spürte ihn noch fester zupacken. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie bis zur Hüfte in einer lauwarmen Flüssigkeit steckte, die dickflüssiger als Wasser und von elastischen Fäden durchzogen zu sein schien, was zur Folge hatte, dass sie sich um einiges leichter wähnte.

Wenig später sah sie eine winzige Flamme aufleuchten, und Achmeds schauerliches Gesicht trat in Erscheinung. Der Anblick verschlug ihr wiederum den Atem. Grunthor ließ sie los, langte hinter sich und zog eine Fackel hinter dem Rücken hervor. Die gab er seinem Partner, der sie zum Brennen brachte und damit im Kreis herum leuchtete.

Der Schacht, durch den sie eingestiegen waren, verjüngte sich nach oben hin und verschwand im Dunklen. Darunter tanzten bizarre Schatten.

Sie befanden sich in einem weiten, unregelmäßigen Hohlzylinder aus schimmernden Wänden, in blassem Grün, stumpfem Gelb und fleckigem Weiß gestreift. Im schwachen Schein der Fackel sah sie die trübe Flüssigkeit, in der sie standen und durch die sich knotige Stränge wanden, in ähnlichen Farben schillern.

Es schien, dass hier früher einmal eine Art Stollen bis tief ins Wurzelwerk hinabgeführt hatte, der dann im Laufe der Zeit zugewachsen war. Ein wirres, lockeres Gewebe aus Pflanzenfasern durchzog den Raum und bildete dessen netzartigen Boden. Das durch die Öffnung des Einstiegs verdrängte zähflüssige Grundwasser war wieder zurückgelaufen und schwappte auf und ab.

Aus der feuchten Luft tropfte Wasser auf sie herab und verdunstete kalt auf ihrer Haut. Rhapsody blickte nach oben. Der Einstieg war nicht mehr zu sehen; in den Wänden deutete kein einziger Spalt darauf hin, dass sich dort zuvor eine Luke aufgetan hatte.

Sie rückte von Grunthor ab, der sie auf ein Zeichen von Achmed hin losgelassen hatte, streckte beide Arme nach oben und befühlte mit den Händen die Oberfläche des Holzes. Da war kein Spalt, keine Fuge.

Ein wulstiger Auswuchs, der bis dicht an ihre Hüfte reichte, bot ihr eine höhere Stufe. Mit großer Kraftanstrengung zog sie einen Fuß aus der zähen Brühe und setzte ihn prüfend darauf. Der Wulst war offenbar stabil genug. Als Nächstes suchte sie nach einem Halt für die Hände und zog sich nach oben. Auch als sie nun, im Schacht aufgerichtet, die Einstiegsstelle von nahem betrachtete, konnte sie keinen Hinweis auf eine mögliche Öffnung erkennen. Mit zitternden Händen strich sie über die glatte Oberfläche des Holzes im Kern des Baumes.

»Wo ist die Tür?«, verlangte sie zu wissen und versuchte, ihrer Stimme nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich ängstigte. »Was habt ihr getan?«

»Wir haben hinter uns zugesperrt«, antwortete Achmed nicht ohne Spott.

Grunthor stützte mit der Hand ihren Rücken, als sie auf der faserigen Wucherung ins Schwanken geriet. In ihrer erhöhten Position stand sie ihm nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber und entdeckte in seinen bernsteinfarben Augen, die sich in dem ansonsten monströsen Gesicht überraschend freundlich ausmachten, einen unverkennbaren Ausdruck von Sympathie.

»Die Tür gibt’s nich mehr, Herzchen, tut mir Leid. Aber wir müssen ja auch weiter und können nich zurück.«

Rhapsody wirbelte herum und starrte auf Achmed. Im Licht der Fackel glühten ihre Augen leuchtend grün. »Was soll das heißen, ›wir können nicht zurück‹? Wir müssen zurück. Lasst mich hier raus!«

»Unmöglich. Finde dich damit ab und komm mit uns. Wir werden nicht auf dich warten.«

Mit jedem Atemzug, den sie tat, wurde ihr die Luft in den Lungen schwerer. »Mitkommen? Seid ihr übergeschnappt? Es geht hier doch nirgends weiter.«

»Du liegst wieder einmal völlig daneben.« Der Mann, den sie Achmed die Schlange genannt hatte, schob ein paar herabhängende Schlinggewächse beiseite und watete auf die andere Seite der zylindrischen Höhlung, wo die Wand am dünnsten zu sein schien.

Er streifte seine Lederhandschuhe ab und tastete suchend über die schwammige Oberfläche, bis er eine geeignete Schwachstelle ausfindig gemacht hatte. Er nickte Grunthor zu, worauf dieser jene seltsame dreischneidige Klinge hinter der Schulter hervorzog, die er Karvolt abgenommen hatte.

Der Riese stellte sich nun so, als wollte er einen Speer werfen. Die Muskeln der mächtigen Schultern angespannt, wuchtete er die Triatine mit kraftvollem Stoß in die fleischige Wand. Dann schnitt er unter Einsatz seines ganzen Körpergewichts ein tellergroßes Stück aus der Wandmasse, die in ihrer Konsistenz einer Melone nicht unähnlich war. Die musikalischen Schwingungen des Baumes, die seit ihrem Einstieg ausgeblendet waren, schwollen plötzlich erschreckend laut an.

»Gütiger Himmel, nein«, wimmerte Rhapsody und sprang von der Stufe zurück in den Pfuhl. »Ihr tut der Sagia weh.« Sie taumelte auf Grunthor zu, wurde aber mit eiserner Hand auf Abstand gehalten.

»Unsinn. Das ist nur eine Wurzel; davon hat der Baum tausende.« Zu Rhapsodys Entsetzen riss Grunthor ein noch größeres Stück aus der Wand. »Sobald wir durchgeschlüpft sind, wird sich das Loch wieder schließen. Es wird langsam Zeit; das Wasser steigt«, sagte Achmed mit Blick auf die zähflüssige Lake, in der sie standen und die Rhapsody mittlerweile fast bis zur Brust reichte. Wieder stieß der Riese mit der dreischneidigen Waffe zu, so wuchtig, dass die Wände ringsum erzitterten.

»Ich bin durch, Meister.«

Achmed nickte. An das Mädchen gewandt, sagte er: »Hör mir genau zu, ich erklär’s nur einmal. Wir müssen jetzt das Innere der Wurzel verlassen und ihr außen folgen. Sie liegt in einer Art Tunnel, der ihr Platz lässt, um sich auszudehnen. Denn je nachdem, wie viel Wasser die Wurzel speichert, ist sie mal dicker, mal dünner. Dieser Tunnel wird uns als Korridor dienen. Wir finden darin genügend Trinkwasser und Luft zum Atmen. Und wenn wir Glück haben, führt er uns an einen Ort, wohin uns keiner unserer Feinde folgen kann. Auch du könntest dich auf diesem Weg vor Michael in Sicherheit bringen. Aber das hängt allein von dir ab. Also, du hast die Wahl, mit uns zu kommen oder zu bleiben, bis sich die Wurzel mit Wasser gefüllt hat und du darin ertrinkst.«

Rhapsody war sichtlich erschlagen von seinen Worten. Sie riss sich von ihm los und watete auf das Loch zu, das Grunthor in die Wand gehauen hatte. Der Riese wich zur Seite, um sie bis an den Rand vortreten und einen Blick durch die Öffnung werfen zu lassen. Sie sah nichts als Dunkelheit, ob sie nun nach unten blickte oder nach oben. Der Tunnel erstreckte sich entlang der fahlen Wurzel, die scheinbar endlos in den Abgrund wucherte.

Achmed prüfte die Festigkeit der Riemen an seiner Montur. »Was ist nun? Kommst du mit?«

Gleich einer Schlammlawine stürzte die Einsicht in die Ungeheuerlichkeit ihrer Lage auf sie ein. Sie war gefangen im Innern des Baumes; mithin blieb ihr nichts anderes übrig, als in den finsteren Schacht zu steigen, der Gott weiß wohin führte. Es war ihr schon schlimm genug gewesen, Ostend verlassen zu müssen, doch nun brach ihr der kalte Schweiß aus bei dem Gedanken daran, was sie sonst noch alles aufgeben musste.

Rhapsody stieß Achmed beiseite, stakte zurück und trommelte wie wild mit den Fäusten auf die Stelle, durch die sie in den Baum eingestiegen war. Verzweifelt schrie sie um Hilfe, so laut sie nur konnte, in der Hoffnung, von den Lirinschen Wachen des heiligen Baumes gehört und befreit zu werden. Die beiden Männer schauten ihr kopfschüttelnd zu, bis es Achmed schließlich zu bunt wurde. Er streckte den Arm aus und klopfte ihr verärgert auf die Schulter. »Ich schlage vor, du hörst jetzt auf mit dem Spektakel und kommst mit. Vielleicht möchtest du dir aber lieber die Seele aus dem Leib brüllen und ersaufen. Es dauert nicht mehr lange, und die Wurzel wird voller Wasser sein.«

Rhapsody fing an zu weinen, was nur selten vorkam. Wer sie kannte, wusste, dass Tränen bei ihr ein Zeichen schierer Verzweiflung waren. Achmed verzog das Gesicht und kniff die Augen zusammen, so sehr schmerzte ihn ihr schrilles Lamento.

Er packte sie beim Arm und herrschte sie an: »Hör sofort auf damit! Sei still! Und falls du dich doch noch dazu entschließen solltest, mit uns zu kommen, so merke dir eines: Wir dulden kein Gejammer. Entscheide dich. Komm mit, wenn du willst, aber lass ein für allemal das Flennen sein.«

Er stieg durch das Loch und ignorierte Grunthors ungehaltene Miene, die dieser angesichts der Schimpftirade zog. Der riesige Bolg wandte sich dem Mädchen zu und zeigte dabei einen Gesichtsausdruck, der, wie sie während der vergangenen zwei Wochen gelernt hatte, seine Art zu lächeln war.

»Hab dich nich so, Herzchen, so schlimm wird’s nich werden. Sieh’s als ein Abenteuer an. Und es hat doch was Gutes: Den Luftverschwender bist du ein für allemal los.« Er und Achmed tauschten Blicke und nickten sich zu. Dann stieg Letzterer an der Wurzel entlang nach unten.

»Und was ist mit meiner Familie, meinen Freunden? Die werde ich doch nie mehr wieder sehen«, schluchzte Rhapsody unter Tränen.

»Wieso denn nich? Dass Achmed und ich die Insel für immer verlassen, muss doch nich heißen, dass du nie mehr zurückkehrst. Aber um zurückkehren zu können, musst du zuerst einmal weg sein, oder?«

Obwohl ihr gar nicht danach zumute war, schmunzelte Rhapsody unwillkürlich. Ausgerechnet das Monstrum versuchte sie zu trösten, während dessen Partner – angeblich der Menschenähnlichere der beiden – ihr gegenüber nur gewohnt kühle Gleichgültigkeit an den Tag legte. Die ganze Situation nahm derart unwirkliche Züge an, dass sie sich ernsthaft fragte, ob sie all dies womöglich nur träumte. Sie rieb sich die Augen und seufzte vor Erschöpfung.

»Also gut«, sagte sie zu Grunthor. »Mir bleibt anscheinend wirklich keine andere Wahl. Irgendwo wird’s hoffentlich einen Ausweg geben. Gehen wir.«

»So ist’s recht«, antwortete der Riese. »Dann komm, und immer schön hinter mir bleiben; damit wäre ausgeschlossen, dass ich aus Versehen auf dich drauffalle.« Er langte nach der Wurzel und stieg in den Schacht, der den Gefährten schon verschluckt hatte.

»Das wäre ja noch schöner!«, entgegnete Rhapsody kleinlaut. Sie kletterte durch das in die Wurzelwand gehauene Loch, ertastete ein faseriges Gewächs, das ihnen als Kletterseil diente, und hielt sich daran fest. Langsam und vorsichtig stieg sie hinab in die flackernden Schatten des tiefen Stollens, der eine der Hauptlebensadern des Baumes umhüllte. Dass er seinen Beinamen ›Eiche der tiefen Wurzeln‹ zu Recht trug, sollte sie in Bälde erfahren.

Michael irrte zwischen seinen toten Männern umher und starrte fassungslos auf das, was ihm da zu Gesicht kam. Nicht, dass ihn die Bilder als solche schockiert hätten – er war zu weit grausameren Taten in der Lage, und hier fehlte jeder Hinweis auf Folter oder sadistische Exzesse. Was ihm die Haare zu Berge stehen ließ, war vielmehr die Ahnung von der verheerenden Gewalt, die hier gewütet hatte.

Gammon ging schweigend neben ihm her, die Augen auf den Boden gerichtet. Er hatte Angst, etwas zu sagen, Angst sogar, dem Blick seines Herrn zu begegnen, zumal ihm selbst der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand. Zwar hatte er schon blutigere Schlachtfelder gesehen, gefallene Opfer in größerer Zahl, doch dass hier so viele Männer allem Anschein nach mit kühlem, gleichgültigem Sinn getötet worden waren, entsetzte ihn über die Maßen. Michael fand wenigstens seine Lust an Mord und Totschlag. Diese brutale Gleichgültigkeit aber war irgendwie noch beängstigender.

Michael hielt an. Mit einer knappen Kopfbewegung forderte er Gammon auf, den anderen dabei zu helfen, die Leichen auf einen Haufen zusammenzutragen. Dann drehte er sich langsam im Kreis herum und blickte über das weite Feld, auf dem seine Jäger gefallen waren.

Zum Schutz vor dem glastigen Licht der Nachmittagssonne hob er schirmend die Hand an die Stirn. So weit das Auge reichte, sah er nichts als offenes Gelände und hohes, sommersprödes Gras, vom warmen Wind in wogende Bewegung versetzt. In eine Falle waren seine Männer nicht gelaufen. Hinter dieser Tat konnte nur einer stecken. Der Bruder.

Die trockene Kehle schnürte sich ihm zu. Er dachte an das Mädchen. Das sonnenbeschienene, wogende Gras ließ ihn an ihr Haar denken, an die langen goldenen Wellen und wie sie ihm durch die Finger flössen. Welch ein Hochgenuss, diese Haare auf der Haut zu spüren, wenn sie im Dunklen unter ihm gelegen hatte. Dieses Gefühl hatte er auch dann nicht vergessen, wenn er andere, erotischere Gedanken an sie aus dem Kopf verbannt hatte, um nicht Gefahr zu laufen, dass sie ihn ablenkten. Jetzt, da sie fort war, sah er sich durch das hohe Gras schmerzlich an das erinnert, worauf er wohl ein für allemal würde verzichten müssen. Denn wenn der Bruder sie nun in seiner Gewalt hatte, würde sie für ihn gewiss verloren sein. Wahrscheinlich hatte der Dhrakier sie längst getötet und vor Ostend ins Meer geworfen. Über den mysteriösen Meuchelmörder war nicht viel bekannt; man wusste aber allenthalben, dass er kein Herz hatte und unempfänglich war für die Versuchungen des Fleisches. Allein dieser Zug an ihm mochte für Rhapsody eine Chance bedeuten.

»Verbrennt die Toten«, ordnete Michael an. »Dann packt alles zusammen, was noch zu gebrauchen ist, und holt die Pferde. Wir sind hier fertig.«

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