16

Kurz bevor der Morgen graute, frischte der Wind auf und blies feine Eiskristalle über Rhapsodys Gesicht.

Aus dem Schlaf geschreckt, fuhr sie hoch und erkannte, dass das, was sie geträumt zu haben glaubte, der Wirklichkeit entsprach. Über Nacht war es bitterkalt geworden. Die Sterne verblassten am inzwischen wolkenlosen Himmel, sträubten sich aber noch davor abzutreten. Der Tag rückte näher und malte einen violetten Streifen an den Horizont.

Die grobe Decke, die ihr während der Ruhepausen auf der Wurzel noch Schutz vor der Kälte geboten hatte, war unter freiem Himmel kaum mehr von Nutzen, so kalt war es. Grunthor, an dessen Seite Rhapsody geschlafen hatte, lag immer noch wie besinnungslos da. Sie hatten ihr Lager zwischen dichten Brombeersträuchern aufgeschlagen. Zwei Schritt entfernt brannte ein kleines Feuer, über dem ein aufgespießtes Kaninchen brutzelte.

Achmed saß unter den kahlen Zweigen einer Forsythie und betrachtete die junge Sängerin. Er nickte ihr zu, als sie die Decke zur Seite schlug. Unwillkürlich reagierte sie mit einem Lächeln. Dann wandte sie sich mit prüfendem Blick dem leise schnarchenden Berg an ihrer Seite zu. Grunthor schien seine heldenhafte Leistung gut verkraftet zu haben.

»Mit ihm ist alles in Ordnung«, sagte Achmed über das Feuer hinweg.

»Schön«, antwortete sie und erhob sich. Ihre Beine waren über Nacht ganz steif geworden und ließen sie daran denken, dass sie gar nicht wusste, wie alt sie mittlerweile war. »Entschuldige mich für einen Moment.«

Dankbar dafür, endlich wieder Himmelsrichtungen unterscheiden zu können, ging sie nach Osten, wo sie bald eine Stelle erreichte, die ihr einen guten Ausblick auf die aufgehende Sonne zu bieten versprach.

Wie schon in der Nacht, als sie das Schwert gezogen hatte, wunderte sie sich wieder darüber, dass das Heft kühl blieb, obwohl von der Klinge Flammen aufloderten, die heller brannten als das Lagerfeuer. Zarte Violett- und Rosentöne spielten darin und gaben ihnen die Farbe des Sonnenaufgangs. Rhapsody konnte sich nicht satt sehen an der wunderschönen Waffe und spürte seine Wärme im Gesicht. Tagessternfanfare, so hatte Achmed sie genannt – nach der Fanfare also, die ihr zur Begrüßung des Tages erschallte. Sie hob das Schwert in die Luft, schloss die Augen und stimmte ihr Morgenlied an, die Aubade, womit die Sippe ihrer Mutter den Sternen der Nacht Lebwohl sagte und den Tag begrüßte. Um die anderen nicht auf sich aufmerksam zu machen, sang sie ganz leise.

Allmählich ordneten sich ihre Gedanken. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie die glühende Waffe über sich schweben sehen und ihr Lied hören, das sich, wie sie überrascht feststellte, klanglich und im Tempo auf ihren Gesang einstellte. Plötzlich überkam sie ein Gefühl von Macht, wie sie es noch nie empfunden hatte, so stark, dass sie in Panik geriet und das Schwert fallen ließ.

Rhapsody öffnete die Augen, schnappte nach Luft und hob die Waffe wieder auf. Der Schnee, in den sie gefallen war, hatte ihrem Feuer nichts anhaben können. Es schien sogar noch heller zu leuchten, als sie das Heft wieder in der Hand hielt. Erschauernd steckte sie die Klinge schnell in die Scheide und kehrte zum Lager zurück, wo Grunthor gerade aus dem Schlaf erwachte.

Achmed hatte Rhapsody genau im Blick. Sie stand in der Lichtung auf einer kleinen Anhöhe und schaute nach Osten. Als die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont fielen, leuchtete ihr Haar so strahlend auf wie einen Augenblick später die Sonne selbst.

Das glänzende Gold ihrer Haare krönte das im frühen Morgenlicht rosige Gesicht und ließ die smaragdgrünen Augen funkeln. Von ihr gingen Schwingungen aus, wie er sie noch nie erlebt hatte, Strahlungen von einer Reinheit und Intensität wie das Feuer, durch das sie gegangen war. Allem Anschein nach hatte sie bei diesem Gang einen Teil davon in sich aufgenommen und sich durch ihr Lied zu Eigen gemacht, sodass die zwingende Kraft der Flammen nun in ihr weiterbrannte. Sie war faszinierend, von hypnotischer Wirkung. Bar aller Unvollkommenheiten war sie in ihrer äußeren Erscheinung unvergleichlich schön. Achmed war begeistert – wie immer, wenn es um die Möglichkeit ging, von der Macht anderer zu profitieren oder sie zu beschneiden.

Nach Abschluss ihrer Morgenandacht kehrte sie zurück und beugte sich über Grunthor, der seine offenbar schmerzenden Glieder reckte und wach zu werden versuchte. Rhapsody legte ihre Hand auf seine Schulter und sang ihm leise ins Ohr.

Wach auf, kleiner Mann,

die Sonne lacht,

der Tag will mit dir spielen.

Grunthor hatte die Augen noch geschlossen. Als er das serensche Kinderlied hörte, ging ein breites Grinsen über sein Gesicht. Er rieb sich die verklebten Augenlider mit Daumen und Zeigefinger und richtete sich ächzend auf.

»Ich rieche Frühstück«, sagte er und legte einen Arm um Rhapsody.

»Ich hoffe, du meinst das Karnickel«, antwortete Rhapsody mit Blick auf das Feuer.

»Natürlich.«

»Bei dir weiß man nie. Wie fühlst du dich heute?«

»Ganz und gar obenauf«, sagte er lachend. »Und hier oben geht’s einem doch wirklich besser als unten im Bauch der Erde.« Er sah sie aus großen Augen an. »Gräfin, hast du irgendwas mit deinen Haaren angestellt?«

Rhapsody lachte. »Ja. Ich habe sie mit Dreck behandelt und seit Ewigkeiten nicht gebürstet. Gefällt’s dir so?« Sie zupfte an einer langen Strähne und setzte ein kokettes Lächeln auf.

»Allerdings. Dreck steht dir gut. Vielleicht war das ein Tipp für andere Frauen.«

Sie gab ihm einen freundschaftlichen Knuff und wandte sich dem Kaninchenbraten zu. Als sie näher ans Feuer trat, flammte die Glut wieder auf und färbte die Kruste des Bratens schwarz.

»Ich glaube, der ist durch, Achmed. Wenn wir ihn jetzt nicht runternehmen, wird er gleich verkohlt sein. Grunthor, kann ich kurz deinen Früntmacher haben?« Der Riese langte nach der Pike und reichte sie ihr. Rhapsody zögerte nicht lange und holte den Spießbraten damit aus dem Feuer, wobei sie mit den Flammen in Berührung kam.

Grunthor stieß einen Pfiff aus. »Alle Achtung.«

»Wie bitte?«

»Wie geht’s deinem Arm?«, fragte Achmed.

Rhapsody war sichtlich irritiert. »Gut. Warum fragst du?«

»Nach dem, was du gerade getan hast, sollte man meinen, dass dein Arm jetzt übel verbrannt wäre.«

Rhapsody zuckte mit den Achseln. »So heiß sind die Flammen nicht. Ich war ihnen doch nur ganz kurz ausgesetzt. Sei’s drum. Willst du auch was davon? Grunthor hat Hunger, und ich will, dass er wieder zu Kräften kommt.«

Achmed zog das Kaninchen vom Spieß, riss es in zwei Hälften, gab Grunthor die eine und teilte die andere mit Rhapsody.

Schweigend saßen sie beieinander und aßen. Die Männer sahen staunend zu, wie die Sängerin ihre Portion vertilgte. So lange sie sie kannten, hatte Rhapsody nur ganz selten Fleisch gegessen. Offenbar hatte sie nach der langen, dürftigen Wurzeldiät nun zur Abwechslung Appetit auf etwas Deftigeres. Als die drei zu Ende gegessen und ihre Sachen zusammengepackt hatten, warf Achmed Schnee aufs Feuer. Rhapsody sah sich um und schulterte ihr Gepäck. »Was ist geplant?«

Achmed blickte aus der Hocke zu ihr auf und kniff die Brauen zusammen. »Du scheinst doch zu wissen, wohin du willst.«

»Ich weiß nur, dass ich nicht hier bleiben will. Zuerst werde ich mich neu orientieren müssen und mich dann zur nächsten Hafenstadt durchzuschlagen versuchen.«

»Willst du zurück?«

»Natürlich. Hätte ich damals die Wahl gehabt, wäre ich gar nicht erst aufgebrochen«, antwortete sie mit anscheinend gelassener Miene, doch das nervöse Muskelzucken am Kiefer blieb den beiden Gefährten nicht verborgen. Die lange Reise über die Wurzel hatte ihnen jegliches Gefühl für Zeit abhanden kommen lassen. Es schien ihnen fast, als wäre ein ganzes Jahrhundert verstrichen, was aber angesichts ihres nach wie vor jugendlichen Aussehens natürlich nicht sein konnte.

Dass ihre Freunde und Angehörigen inzwischen verstorben sein könnten, war zwar eine reale Möglichkeit, mit der Rhapsody rechnete, doch hatte sie jeden Gedanken daran während des endlos langen Trecks aus ihrem Kopf verbannt. Es wäre ihr sonst wahrscheinlich unmöglich gewesen, den Weg zu Ende zu bringen.

»Also dann«, sagte Achmed. »Grunthor und ich werden dich bis zur nächsten größeren Stadt begleiten. Das sind wir dir schuldig. Dort kannst du dann entscheiden, ob du allein weiterziehen willst oder nicht.«

»Danke«, sagte Rhapsody. »Das beruhigt mich, denn in eurer Begleitung kann ich mich sicher fühlen.«

»Wenn du mit uns reist, musst du allerdings ein paar Regeln beachten. Bolg sind im Allgemeinen vorsichtiger als vorsichtig, verstehst du?« Rhapsody nickte. »Fangen wir bei der Sprache an. Wir werden uns ausschließlich auf Bolgisch verständigen. Das dürfte dir mittlerweile keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Serendair hatte einige große Seehäfen, und die Sprache, die von Menschen und Lirin gesprochen wurde, war mit Sicherheit auch die Verkehrssprache unter Seefahrern. Außer den Bolg aber spricht niemand Bolgisch.«

»Wohlan«, sagte Rhapsody in der Sprache der Bolg. Grunthor lachte.

»Du hast ihm gerade quittiert, dass er gute Arbeit geleistet hat«, meinte Achmed.

Rhapsody zuckte mit den Achseln. »Es wird halt noch eine Weile dauern, bis ich auch die Feinheiten beherrsche. So ist es mit den meisten Sprachen. Die Grundlagen sind schnell gelernt. Erst dann wird’s kompliziert.«

»Nun, das wäre also geregelt. Kommen wir zum nächsten Punkt. Wir wissen noch nicht, wo wir sind und wer in dieser Gegend zu Hause ist. Wie es scheint, ist davon auszugehen, dass wir von der Hauptwurzel der Sagia abgekommen sind. Und das ist vielleicht gut so, denn wir wissen ja, dass die Sagia bewacht wurde. Wir können uns wohl auch darauf verlassen, dass die Gegend hier bewohnt ist. Wir sollten den Anwohnern fürs Erste aus dem Weg gehen, gleichzeitig aber möglichst viel über sie und das Land zu erfahren versuchen.«

»Einverstanden«, sagte Rhapsody. Grunthor nickte.

»Falls wir doch auf Leute treffen, sollten wir uns möglichst bedeckt halten und untereinander abstimmen, was wir denen an Informationen anvertrauen können. So gehen wir auf Nummer Sicher.«

Die Sängerin pflichtete ihm kopfnickend bei. »Oh, und noch etwas: Rhapsody, ich schlage vor, du hältst dein Schwert versteckt und ziehst es nur, wenn’s unbedingt nötig ist. Sieh auf alle Fälle zu, dass es niemand zu Gesicht bekommt. Von dieser Waffe geht enorm viel Energie aus. Ich habe keine Ahnung, wie es hierhin gelangt ist, auf die andere Seite der Welt, zwischen Felsen tief unter der Erde eingekeilt. Wie auch immer, ich fürchte, es hat nichts Gutes zu bedeuten.«

»Alles klar. Können wir jetzt gehen? Je eher wir auf eine Straße stoßen, desto schneller werden wir einen Hafen erreichen.« Rhapsody trat ungeduldig auf der Stelle.

Achmed und Grunthor sahen einander an. Sie hatten Zeit in Hülle und Fülle. Ein angenehmes Gefühl. Nach einer Stunde strammen Marsches fing Rhapsody zu frieren an. Zur Zeit ihres Aufbruchs von Ostend war es Sommer gewesen, und sie hatte sich entsprechend angezogen. Die Lumpen, die sie trug, waren abgewetzt und voller Löcher und hätten auch in ihrem besten Zustand gegen das hier herrschende Winterwetter nichts auszurichten vermocht.

Rhapsody hatte gehofft, sich mit schnellen Schritten warm halten zu können. Doch der durch den Wald fegende Wind war bitterkalt und setzte ihr noch mehr zu als die klamme Luft im Tunnel. Bei aller Feuchtigkeit war es im Herzen der Erde wenigstens über weite Strecken warm gewesen. Hier, an der Oberfläche, machte ihr die Kälte schwer zu schaffen.

»He, Herzchen, Augenblick mal«, rief Grunthor.

Er schnallte die beiden Wolldecken vom Bündel, die er sonst nur für das Nachtlager hervorholte, zog dann seine Lucy und schnitt mit der scharfen Klinge in jede Decke ein Loch hinein. Eine warf er Achmed zu, der den Kopf durch das Loch steckte und die Decke wie einen Umhang über die Schultern streifte. Die andere Decke gab er Rhapsody, nachdem er das Schwert in die Scheide zurückgesteckt hatte.

Grunthor grinste, als er die Sängerin neu ausstaffiert vor sich sah. Die Decke war ihr viel zu groß und hing bis auf die Knöchel herab.

»Ich hoffe, du wirst darin nicht kämpfen müssen«, sagte Achmed amüsiert.

»Das hoffe ich auch«, erwiderte sie. »Mit meinem Schwert würde ich mich womöglich noch in Brand setzen.«

»Aber immerhin wirst du so nicht mehr frieren, oder?«, sagte Grunthor im Weitergehen.

Die Schneedecke war unterschiedlich dick, doch Achmed schien genau ausmachen zu können, welche Strecke gut begehbar war und wo es Verwehungen gab, um die es einen Bogen zu schlagen galt. Man hätte meinen können, er folgte einer im Geiste vorgestellten Landkarte.

Auch Grunthor schien ein ganz natürliches Verständnis für die Landschaft zu besitzen. Er wusste, wo sich unter der Schneedecke tückische Hindernisse oder scharfkantige Felsbrocken verbargen. Hin und wieder machte er Achmed auf solche Stellen aufmerksam, der dann sofort reagierte und einen anderen Kurs einschlug. Rhapsody konnte kaum glauben, dass die beiden Männer fremd in dieser Gegend waren, so sicher bewegten sie sich.

Am frühen Nachmittag ließ das Licht merklich nach. Rhapsody hatte davon gehört, dass es in den südlichsten Teilen der Insel von Serendair während der Winterzeit erst verhältnismäßig spät hell und schon recht früh wieder dunkel wurde. Als Kind hatte sie von ihrem Großvater einmal erzählt bekommen, dass auf den kleinen, noch weiter südlich gelegenen Inseln die Nächte sogar noch länger andauerten, und sie fragte sich jetzt, ob sie womöglich irgendwo tief im Süden gelandet wären, wo die Winternächte endlos schienen, aber im Sommer die Sonne gar nicht mehr untergehen mochte. Sie wollte gerade den anderen ihre Überlegung mitteilen, als Grunthor eine abrupte Kursänderung gen Osten empfahl, wo sie bald auf eine schmale, in nord-südliche Richtung verlaufende Straße gelangten. Dass es sie schon sehr lange gab, ließen die großen Eichen und Eschen vermuten, die diese Straße säumten und mit einem Gewölbe aus Ästen und Zweigen überspannten, dass man den Eindruck haben konnte, eine hohe, uralte Kathedrale zu betreten. Die Straße wurde allem Anschein nach instand gehalten; die Spurrillen der Karrenräder waren an der festen Oberfläche nur im Ansatz zu erkennen. Der Schnee war festgefahren und zu Eis verdichtet, was auf durchaus regen Verkehr hindeutete.

»Tja, wie’s aussieht, sind wir hier nicht allein«, sagte Achmed. Rhapsody verspürte einen Anflug von freudiger Erregung bei dem Gedanken, dass dieser Fuhrweg wahrscheinlich in eine Stadt, wenn nicht sogar an einen Seehafen führte. Jedenfalls würde sie dort ihrem Ziel ein großes Stück näher kommen. Doch ihre Freude war schnell getrübt, als ihr bewusst wurde, dass sich auf dieser Straße vielleicht auch feindlich gesinnte Leute bewegten und dass sie womöglich noch tausende von Meilen vom Meer entfernt war. Trotzdem fasste sie neuen Mut. Irgendwie und irgendwann würde sie es schaffen, nach Serendair zurückzukehren.

Sie marschierten schon etliche Stunden über den ausgebauten Fuhrweg, als Achmed plötzlich anhielt.

»Was ist?«, fragte Rhapsody, nur um gleich darauf mit einer schroffen Handbewegung zum Schweigen gebracht zu werden.

Er hatte etwas vernommen, ein Geräusch, das außerhalb seiner Hörweite war. Spontan tauchte vor seinem geistigen Auge ein Bild des Ortes auf, an dem sie sich befanden; gleich darauf setzte sich die Szene in Bewegung. Sein zweites Gesicht raste mit unglaublicher Geschwindigkeit die Straße entlang. Die Bäume flogen als Schatten vorbei, und in den Kurven drohte er das Gleichgewicht zu verlieren, so schnell war er unterwegs.

Er hatte sich schon immer auf einen außergewöhnlich scharfen Orientierungssinn verlassen können; zuletzt war der ihm in den Tiefen der Erde von Nutzen gewesen. Dass ihnen ausgerechnet dort, auf der anderen Seite der Welt, die Tagessternfanfare aus Serendair in die Hände gefallen war, war etwas, das es für ihn noch zu enträtseln galt. Doch jetzt, da er den Feuerkern hinter sich gelassen hatte, bereitete ihm schon die Suche nach dem richtigen Weg heftige Schwindelanfälle. Grunthor streckte die Hand aus und legte sie auf seine Schulter, um ihn zu stützen.

»Alles in Ordnung, Kumpel?« Achmed nickte, beugte sich, die Hände auf die Knie gestützt, vornüber und ließ den Kopf hängen. »Isses wieder wie damals auf der Wurzel?«, wollte Grunthor wissen. Wieder nickte Achmed. »Da kommt eine Viehherde auf uns zu, und ein Stück weiter unten ist eine mit Stroh gedeckte Hütte zu erkennen. Dahinter zweigt die Straße ab. Leider reicht mein Blick nicht weiter. Trotzdem, die Fähigkeit, mit der ich offenbar seit kurzem gesegnet bin, könnte sich noch als nützlich erweisen. Ist aber ziemlich gewöhnungsbedürftig.«

Tatsächlich war jetzt in der Ferne ein Geschrei von Tieren zu vernehmen. Die drei Gefährten starrten auf den Horizont. Grunthor winkte den beiden anderen zu und führte sie hinter eine Schneebank, die Deckung bot, ohne ihnen die Sicht zu nehmen. Sie duckten sich und warteten.

Achmed nahm seine Cwellan von der Schulter und hielt sie in Bereitschaft. Mit seinem zweiten Gesicht hatte er einen kleinen Jungen bei den Tieren gesehen, und er versuchte nun, seinen eigenen Herzschlag auf den des Jungen auszurichten, doch seine Suche ging wie ein verschossener Pfeil in die Irre. Für einen Moment verdunkelte sich die Welt in seiner Vorstellung. Er hatte, wie schon befürchtet, seine Blutsbande eingebüßt.

Dass ihm diese Gabe abhanden gekommen war, traf ihn wie ein schwerer Schlag. Zwar war er nach wie vor in der Lage, das rhythmische Pulsieren der Welt zu erspüren und mit seiner Waffe die fernsten Ziele zu treffen, doch hatten diese Fähigkeiten merklich nachgelassen.

Wo er sonst früher das betäubende Durcheinander tausender von Herzschlägen vernommen hatte, war es nun verhältnismäßig still, abgesehen von Grunthors heftig stampfendem Puls und dem langsamen, ruhigen Rhythmus der Sängerin. Die einzigartige Fähigkeit aber, den Herzschlag seiner Beute aufzuspüren, hatte er als Preis für die neu gewonnene Freiheit abtreten müssen. Dieser Verlust war ihm allerdings schlimmer als der Verlust der Sehkraft und in seinen Konsequenzen so schrecklich, dass ihm bei dem Gedanken daran ganz übel wurde.

Die Herde kam nun in Sicht. Sie bestand aus stämmigem, zotteligem Hornvieh, das wie ein donnerndes Ungewitter über der Straße heraufzog.

Ein junger Bursche trieb die Tiere mit einem langen, biegsamen Stecken an. Er war, wie es schien, 14 oder 15 Jahre alt und trug die einfache Kleidung eines serenschen Bauernjungen. Er pfiff eine Melodie, die Rhapsody noch nie gehört hatte. An seiner Seite lief ein Hütehund mit schwarz-weißem Fell, der dem von ihrem Vater vor vielen Jahren gehaltenen Hund verblüffend ähnlich sah. An Grunthor gewandt, deutete sie mit einer knappen Geste auf den Burschen, doch der Riese schüttelte den Kopf. Dann schaute sie wieder zurück auf den Jungen und seine Herde, bis sie außer Sicht waren.

Als sie den Blick schließlich auf Achmed richtete, entdeckte sie in dem teilweise verhüllten Gesicht einen Ausdruck, der ihr Angst machte. »Was ist los mit dir?«

Der Dhrakier schwieg. Grunthor aber schien die Antwort zu kennen. Die beiden Firbolg hatten darüber gesprochen, dass der Fortgang von der Insel wahrscheinlich nicht ohne Folgen für Achmed bleiben würde.

Als der Bruder und Erstgeborene seines Volks auf der Insel war seine Gabe untrennbar mit eben diesem Eiland verbunden gewesen. Kind des Blutes, hatte der dhrakische Weise gesagt, Bruder aller, mit niemandem verwandt. Grunthor sah seinem Gefährten an, dass sich dessen Befürchtungen bewahrheitet hatten. Das Band war zerrissen, die Blutsbande verloren. Er war niemandes Bruder mehr. Grunthor legte ihm eine Hand auf die Schulter, doch Achmed schüttelte sie ab, trat hinter der Schneewächte hervor und kehrte auf die Straße zurück.

Gemeinsam setzten sie den Weg fort und wanderten dem Bauernhof entgegen, den Achmed in seiner Vision gesehen hatte: eine einfache Hütte samt Stall und mit einem kleinen, dem Wald abgetrotzten Garten.

Der Stall für das Vieh war nicht viel mehr als ein überdachter Verhau; die Wohnhütte dagegen schien sehr viel solider gebaut zu sein.

Über der Eingangstür prangte ein Sechseck, ein Symbol, das Rhapsody vertraut war. Falls es hier die gleiche Bedeutung hatte wie in Serendair, wollte man mit ihm Feuer und Krankheit vom Haus fern halten. Flüsternd gab sie den beiden Begleitern darüber Auskunft. Sie hatten sich wieder versteckt und beobachteten das Anwesen.

Als sich der Junge mit der Herde näherte, trat ein Mann vors Haus und grüßte ihn in einer fremden Sprache. Während die beiden – Vater und Sohn, wie es schien – das Vieh in den Stall trieben, führten sie ein launiges Gespräch miteinander und verzogen sich schließlich in die Hütte.

Rhapsody holte tief Luft. »Hat einer von euch ein Wort verstanden?«, fragte sie.

»Nein, aber manches klang mir irgendwie vertraut«, antwortete Achmed. Grunthor zuckte nur mit den Achseln. »Hast du etwas verstanden?«

»Nein«, sagte Rhapsody. »Ich weiß nicht, wie ich’s erklären soll, aber diese Sprache hat irgendwie den gleichen Zungenschlag wie meine, auch wenn die Rhythmen und Wortmuster ein bisschen anders sind.«

Grunthor gluckste. »Vielleicht sprechen alle Menschen so«, sagte er.

»Vielleicht. Was soll ich jetzt tun? Soll ich an die Tür klopfen und um Unterkunft bitten?«

Die beiden Firbolg lachten gleichzeitig auf.

»Wohl kaum, Gnädigste.«

»Und was ist an dem Vorschlag so lächerlich?«

Achmed seufzte. »Nach unserer Erfahrung werden Firbolg, wenn sie irgendwo an einer Haustür klopfen, nicht gerade freundlich empfangen. In deinem Fall mag das anders sein. Du würdest wahrscheinlich sogar ein Bett für die Nacht bekommen – das du dann allerdings mit jemandem teilen müsstest, wenn du verstehst, was ich meine.« Achmed grinste, wohl nicht zuletzt auch über Rhapsodys verärgerte Miene. »Aber das bleibt natürlich dir überlassen. Ich weiß nicht, wie wichtig dir ein warmes Bett ist.«

»Ich kann sehr gut darauf verzichten. Was schlagt ihr stattdessen vor?«

»Tja«, hob Grunthor an, »ein Stück weiter nördlich gibt’s etliche solcher Höfe. Wenn wir nach Süden gehn, kommen wir bald in eine Art Dorf. Klein, aber ansehnlich. Die Straße führt noch weit darüber hinaus. Aber ich sag euch was. Im Südosten, ungefähr ’ne halbe Meile von hier entfernt, gäb’s ein hübsches Versteck für uns: ein netter kleiner Graben, über den ein Baum gefallen ist. Wenn wir noch ein paar Zweige darüber legen, ham wir da ’n gemütliches Nest, in dem wir auch ein Feuer machen könnten.«

Achmed und Rhapsody starrten ihn fassungslos an. »Woher weißt du das alles so genau?«, fragte Achmed schließlich.

»Keine Ahnung. Ich weiß es eben. Ich fühl es.«

»Verstehe. Dann wollen wir doch mal sehen, ob dich dein Gefühl auch nicht trügt.«

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