51

Tief in den alten Cymrer-Ländern, noch jenseits von Heide und Schlucht, geschützt von einem Ring hoher, schroffer Felsformationen, lag Kraldurge, das Reich der Geister. Dieser entlegene und seinem äußeren Erscheinungsbild nach abschreckende Ort wurde ausnahmslos von allen Bolg gemieden. Über die schreckliche Tragödie, die sich hier zugetragen hatte, wussten selbst die Legenden nichts Genaues zu berichten, doch musste sie so verheerend gewesen sein, dass sie in der Seele der Firbolg, die seit eh und je in dieser Bergwelt lebten, tiefe Narben hinterlassen hatte. Sie sprachen nur in angewidertem Flüsterton von den Feldern voller Knochen und den wandelnden Dämonen, die alles Leben, das sich ihnen in den Weg stellte, erbarmungslos verschlangen, vom Blut, das aus dem Boden quoll, und von den sengend heißen Winden, die über die Ebene fegten und alles, was sich dort aufhielt, in Flammen aufgehen ließen.

Als sie nach verwaisten Kindern von Schlachtopfern Ausschau gehalten hatte, war Rhapsody zufällig bis zu den Vorgelagerten Aussichtshügeln gelangt, und nun machte sie sich, von Achmed begleitet, auf den beschwerlichen Weg über den Rand der inneren Zahnfelsen zurück an diesen Ort.

Sie war schon eine Weile vergeblich umhergeirrt, als Achmed seine Ungeduld nicht länger im Zaum halten konnte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den versteckten Pass, den er in der Felswand ausfindig gemacht hatte. Unter Aufbietung seiner nahe der Wurzel erworbenen Fähigkeiten schickte er seinen Blick voraus auf den Pfad und durch eine enge, überwucherte Scharte im Fels, die offenbar seit Jahrhunderten nicht mehr begangen worden war.

Auf der anderen Seite mündete dieser Pass in einen weiten Wiesengrund, der schon lange brach lag und ganz und gar verwildert War. In seiner Mitte erhob sich ein kleiner Hügel. Ansonsten gab es an diesem versteckten Gebirgstal nichts Ungewöhnliches zu entdecken.

»Tut mir Leid, aber ich sehe hier keinen einzigen Dämon, geschweige denn Geysire rauschenden Blutes.«

Rhapsody seufzte. »Das kann mir nicht Leid tun. Davon hatte ich genug im Haus der Erinnerung. Wie auch immer, ich muss unbedingt erfahren, was immer noch so viel Angst verbreitet, obwohl es möglicherweise schon längst nicht mehr da ist. Außerdem wär’s eine Schande, wenn ich all das Saatgut umsonst mitgebracht hätte.«

»Na schön.«

Achmed nahm die Cwellan zur Hand und schlüpfte durch die Felsöffnung. Sie staunte immer wieder aufs Neue darüber, wie geschickt und schnell er mit seiner sperrigen Waffe umzugehen verstand. Sie folgte ihm dichtauf, den Bogen mit angelegtem Pfeil im Anschlag.

Ihre Schritte hallten von den Felsen wider, um ein Vielfaches verstärkt, sodass jeder, der sich in der Nähe aufhielt, frühzeitig auf sie aufmerksam werden musste. Doch als sie auf die Wiese hinaustraten, war niemand zu entdecken, und alles zeigte sich so wie von Achmed vorhergesehen.

Die Felswände ringsum waren so hoch, dass unten auf der Wiese von dem Wind, der heulend über die Zacken hinwegfegte, kaum etwas zu spüren war. Achmed und Rhapsody lächelten sich gegenseitig zu. Dieses Pfeifen und Sausen klang tatsächlich wie das Geschrei von Dämonen und würde selbst dem unerschrockensten Bolg Angst und Schrecken einjagen. Trotz der natürlichen Erklärung dieses Phänomens spürte Rhapsody eine tiefe Melancholie auf diesem Ort lasten, ein Gefühl von überwältigender Trauer und Wut zugleich.

Sie kauerte sich hin und berührte den Boden, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Waren hier, so fragte sie sich, Opfer der frühen Cymrischen Kriege bestattet worden? In Gwylliams Aufzeichnungen hatte davon jedenfalls nichts gestanden.

Achmed setzte sich in Bewegung und folgte dem Rand der Schlucht. Die Wiese war nicht allzu groß und würde sich von der Kuppe des Hügels in der Mitte in ihrer gesamten Ausdehnung überschauen lassen. Der einzige Zugang schien eben jener Pass zu sein, durch den sie gekommen waren. Mit einem Kopfnicken gab Achmed Rhapsody zu verstehen, dass sie mit dem, was sie vorhatte, nun beginnen mochte, während er das Terrain auskundschaftete. Rhapsody stieg also auf die Anhöhe und holte, dort angekommen, den mit Saatgut gefüllten Leinensack, Pflanzgeräte und eine Flöte aus ihrem Gepäck. Eine Harfe hätte sich besser geeignet, doch hatte sie die Higen vor dem Haus der Erinnerung im Spalt der Eiche zurückgelassen, damit sie ihre heilenden Klänge dort weiter ertönen ließ und den Baum vor dem Verfall beschützte.

Sie warf einen Blick auf Achmed, um sich zu vergewissern, dass er immer noch in Sichtweite war, und machte sich dann mit der Handschaufel an die Arbeit. Zuerst entnahm sie dem Boden unter der Grasnarbe eine Probe und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass die erst kürzlich von Eis und Schnee befreite Krume entgegen ihren Erwartungen voller Nährstoffe und Leben war.

Sie fuhr mit der Hand über das Gras und rief das Feuer auf, das sie in ihrer Seele brennen fühlte, worauf die welken braunen Halme an der Wurzel in Flammen aufgingen und unter ihrer Hand im Nu verbrannten.

Daraufhin jätete sie das nun tote Gestrüpp und lockerte den Boden auf, um ihre Samenkörner zu säen. Es waren die Keime der Hear’sease, einer Blume von ihrer Inselheimat, die die Cymrer mit auf den neuen Kontinent gebracht hatten. Einst war es Brauch gewesen, sie zur Erinnerung an Verstorbene auf Gräber oder Schlachtfelder zu pflanzen. Darum wählte Rhapsody sie auch jetzt. Im Sommer würde die Saat aufgegangen sein und neue Frucht hervorgebracht haben, sodass schon bald, in ein, zwei Jahren, die ganze Schlucht erblühen würde.

Als sie den Leinensack öffnete und ihm eine Hand voll Samen entnahm, stimmte sie, von den heulenden Winden begleitet, einen Bußgesang zur Tröstung des verwundeten Landes an und steckte singend Korn für Korn in den Boden.

Um die Saat vor Wind und Wetter zu schützen, bedeckte sie den Boden anschließend wieder mit der Grasnarbe. Dann rückte sie zwei Schritte weiter und wiederholte den Vorgang an anderer Stelle.

Sie hatte ihre Arbeit fast schon beendet, als ihr plötzlich die kleine Schaufel aus der Hand glitt und im Boden verschwand. Rhapsody staunte nicht schlecht. Das Loch, das sie gegraben hatte, war nicht tiefer, als ihre Hand lang war, und bei weitem nicht groß genug, um die ganze Schaufel zu verschlucken. Anscheinend war sie auf einen Hohlraum gestoßen.

Sie rief Achmed zu sich und trug vorsichtig mit den Händen den Boden an der Oberfläche ab. Als er neben ihr auftauchte, hatte sie einen engen Spalt mit einem Loch in der Mitte frei gelegt, in das die Schaufel hineingerutscht sein mochte, aber eigentlich nicht darin hätte verschwinden können, denn so groß war es nicht.

»Sieh dir das an«, sagte sie zu Achmed, der seine Waffe ablegte. »Der Hügel hat meine Schaufel verschluckt.«

»Dann muss er wohl Hunger gehabt haben.«

Rhapsody spähte in den Spalt. »Darunter scheint’s hohl zu sein.«

»Lass mal sehen.« Achmed beugte sich über den Spalt. Rhapsody hatte Recht. Unter dem Loch in der Mitte befand sich ein Hohlraum. Wieder schloss er die Augen und machte Gebrauch von seiner besonderen Gabe.

Sein geistiger Blick drang durch das Loch, weit hinab durch den Spalt. Der reichte enorm tief und hatte eine überraschend ebenmäßige Ausformung. Zuerst ging er konisch auseinander und setzte sich dann wie ein Rohr nach unten fort.

Nach etwa hundert Fuß mündete dieses Rohr in eine große Höhle, deren hohes Gewölbe der Oberfläche des Hügels entsprach, auf dem sie sich befanden. Der über hundert Klafter tiefer liegende Grund stand unter Wasser.

»Da ist ein unterirdischer See«, sagte Achmed und richtete sich auf. »Den sollten wir uns einmal genauer ansehen, oder?«

»Ja, natürlich«, antwortete Rhapsody merklich erregt. »Aber lass mich das hier erst zu Ende bringen. Ich bin fast fertig. Nur noch diese letzten Samenkörner. Du kannst ja schon mal unser Mittagessen auspacken.«

Achmed nickte, öffnete seinen Rucksack und hörte ihrem fortgesetzten Trostgesang zu, wobei ihm auffiel, dass sie nun einen freudigeren Klang in der Stimme hatte. Als das Lied gesungen war, setzte sich Rhapsody auf einen von der Sonne beschienenen Fleck, nahm ihre Flöte zur Hand und spielte das gesungene Lied auf ihr nach. Von Traurigkeit war da keine Spur mehr. Das Lied harmonierte mit dem Wind und nahm ihm die Schärfe, mit der er über die hohen Klippen brauste. Rhapsody hatte offenbar Mühe, ihre Vorfreude auf das bevorstehende Abenteuer im Zaum zu halten. Achmed schüttelte den Kopf und fing schmunzelnd zu essen an.

Nach der kurzen Rast machten sich die beiden an die Suche nach einem Einstieg zur Höhle und wurden bald fündig: Er lag versteckt im dunkelsten Winkel der Schlucht, in einer schattigen Felsnische, so gut getarnt, dass Achmed ihn auf seinem Erkundungsgang glattweg übersehen hatte. Achmed ging voran und führte Rhapsody über tückisch rutschige Tritte in den Fels. Mit Schaudern dachte sie zurück an den Gang über die Wurzel, woran sie Dunkelheit und abgestandene Luft auf unangenehme Weise erinnerten.

»Was meinst du, wie tief?«

»Fünfzig, sechzig Klafter in der Mitte. An der äußersten Stelle wohl noch erheblich tiefer.«

Immer weiter folgten sie dem engen Stollen. Rhapsody fürchtete schon, die Nerven zu verlieren, als sie hinter Achmed endlich in einen riesigen Höhlenraum trat. Durch winzige Löcher im Gewölbe fiel Tageslicht, und es war so hell, dass an den Rändern des unterirdischen Sees Pflanzen wachsen konnten. Der modrige Geruch stehenden Wassers hing in der Luft, dabei ging aber unverkennbar eine Strömung durch den See.

Nicht weit entfernt stand ein kupferner, quaderförmiger Aufbau, den an den Seiten schmuckvolle Gravuren zierten. Davor lagen, halb eingesunken im Sand, metallene Räder auf Schienen. Zeit und Feuchtigkeit hatten sie zu einem rostigen Verbund miteinander verschweißt.

Aus der Nähe betrachtet, zeigte sich, dass es sich bei dem kupfernen Kasten um eine Art Bootshaus handelte. Davor steckten die verrosteten und mit Algen überwucherten Pfosten der Anlegestelle im Wasser.

Achmed wuchtete die Kupfertür auf und fand dahinter tatsächlich noch ein Ruderboot liegen – kieloben auf einem Bett aus Reis. Auf den ersten Blick hatte Rhapsody die Reiskörner für Engerlinge gehalten und war vor Schreck zurückgesprungen, als sie mit der aufgehenden Tür nach draußen rollten. Dass sie darüber in Verlegenheit geriet, fand Achmed offenbar äußerst komisch, und er lachte immer noch, als er das Boot aus dem Verschlag zerrte.

Es bestand aus Holz, war aber mit einem dünnen, grün angelaufenen Kupferblech beschlagen, das das Boot erstaunlich gut erhalten hatte. Es schien noch dicht zu sein, und das Holz zeigte an keiner Stelle Spuren von Fäulnis. Prüfend klopfte Achmed an den Planken. Offenbar überzeugt davon, dass es noch zu gebrauchen war, kippte er das Boot um und schob es ins Wasser.

»Kannst du schwimmen?«

»Ja«, antwortete Rhapsody mit Blick über das Wasser. In der Ferne, auf der gegenüberliegenden Seite, war etwas zu sehen, das sie nicht näher zu bestimmen wusste. »Und du?«

»Halbwegs. Ausreichend, vermute ich. Zum Glück scheint das Wasser nicht besonders tief zu sein.«

Rhapsody legte die Stirn in Falten. Ihrer Schätzung nach war der See in der Mitte an die zehn Klafter tief. »Ich hoffe, du bist gut in Form?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, entgegnete sie grinsend. »Also los.«

Sie stieg ins Boot. Achmed sammelte die beiden Ruder ein, die aus einem ihnen unbekannten Metall bestanden, das überraschend leicht war und frei von Rost oder Belag.

Sie fuhren über den See und wechselten sich dabei an den Riemen ab. Während der eine ruderte, hielt die andere Ausschau.

Es war kaum möglich, die Höhe des Gewölbes zu ermessen, zumal das einfallende Licht die Augen blendete. Rhapsody glaubte in einen bewölkten Himmel aufzublicken. Das Wasser des Sees war so klar, dass man selbst an der tiefsten Stelle bis auf den Grund sehen konnte. Fische schwammen darin, und ein Luftzug brachte die Oberfläche ein wenig in Bewegung; von einem Wind wie über Tage aber konnte keine Rede sein.

Tropfsteine, die von der Decke herabhingen oder am Ufer vom Boden aufragten, schillerten in den Farben des Regenbogens. Sooft ein Sonnenstrahl auf einen dieser Steinzapfen fiel, war es, als zuckte ein Blitz, der die Wände kurz aufleuchten ließ.

Als das andere Ufer näher rückte, wurde ein Wasserfall sichtbar, der sich hoch oben an der Wand über eine Felskante ergoss. Reich an Frühjahrsniederschlägen donnerte der Zulauf herab. Rhapsody war begeistert von der dramatischen, von den Felsen widerhallenden Wassermusik.

»Es ist wunderschön hier«, sagte sie. Achmed sah sie an, sagte aber nichts.

Das Ufer war schließlich fast erreicht, und was sie von weitem nur in groben Umrissen erkannt hatten, entpuppte sich als eine schlichte, anscheinend jahrhundertealte Kate. Jetzt zeigte sich auch, dass sie nicht etwa die andere Höhlenseite erreicht hatten, sondern nur eine Insel, hinter der sich wiederum das Wasser ausdehnte. Sie lag fast genau in der Mitte des Sees. Das Haus, das auf ihr stand, war dunkel und voller Flecken, die darauf schließen ließen, dass die Wände einmal mit Efeu oder anderen Schlingpflanzen berankt waren. So weit die beiden es vom Boot aus einschätzen konnten, schien das Mauerwerk noch in Ordnung zu sein.

Als Achmed das Boot auf die alte Anlegestelle zusteuerte, konnte Rhapsody vor Ungeduld kaum an sich halten. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre ins Wasser gesprungen und an Land gewatet. Achmed schien als Ruderer nicht viel Übung zu haben und stellte sich ein wenig ungeschickt an. Rhapsody grinste; es war das erste Mal, dass sie ihn dabei ertappte, einer Aufgabe nicht vollauf gewachsen zu sein, und es machte ihr Spaß, ihn in dieser Situation zu beobachten. Er fand das offensichtlich ganz und gar nicht komisch.

»Mach dich nützlich! Wirft die Leine auf den Steg!«, zischte er ihr zwischen zusammengebissenen Zähnen zu. Rhapsody verkniff sich das Lachen und tat ihm den Gefallen. Dann stieg sie hinter ihm aus dem Boot.

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