Ich hatte eine kurze Dusche genommen – da die Japaner Reinlichkeitsfanatiker sind und es ihnen bei der Körperhygiene fast nicht heiß genug sein kann, verfügte die Raumstation trotz der ansonsten sehr beengten Wohnverhältnisse über eine geradezu gigantische Dampfduschkabine –, und nun stand ich nackt vor dem Spiegel im Waschraum, die Füße in den Bodenschlaufen eingehakt, und rasierte mich, während ich zu überlegen versuchte, wie ich vorgehen wollte.
Aus irgendeinem Grund war es ausgerechnet die Tätigkeit des Rasierens, die mich regelmäßig in Hochstimmung versetzte. Immer, wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete, während ich mir das Kinn mit Rasierschaum eincremte, wurde mir mit atemberaubender Klarheit bewußt, daß ich mich im Weltraum befand, daß hinter diesem Spiegel nur ein schmaler Wandschrank war, hinter dem Wandschrank ein paar dünne Rohre und elektrische Leitungen, dann noch eine daumendicke Isolierwand – und dahinter begann unmittelbar das allumfassende, unauslotbare Nichts, dieser unermeßliche, leere Raum, der alle Sterne und Planeten enthielt, der größer war als jedes Menschen Vorstellungskraft, diese niemals endende Weite, von der niemand ahnen konnte, welche Wunder und welche Schrecken sie bereithielt für den, der es fertigbrachte, sie zu bereisen. Ich hatte die äußerste Grenze erreicht. Mein Leben war nicht einmal ein Aufblitzen vor dem unendlichen Abgrund der Zeit, mein Körper nur ein schwaches, zerbrechliches, verletzliches Gebilde, und trotzdem war ich hier.
Doch die Euphorie, die ich dabei empfand, entsprang nicht einem billigen Triumph, sondern einem Gefühl tiefster Übereinstimmung mit mir selbst. Wenn es etwas gab im Leben, von dem ich überzeugt war, dann davon, daß ich das Recht hatte, hier zu sein. Mit fast religiöser Inbrunst glaubte ich, daß das Universum es von mir erwartete. Ich weiß noch, wie mein Vater einmal bei einem nächtlichen Spaziergang zum Himmel deutete, an dem unglaublich viele Sterne leuchteten wie reinstes Geschmeide – ich muß damals ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein, und wir lebten in einem verschlafenen kleinen Ort in Kansas, inmitten von Landwirtschaft und endlosem flachen Land –, und sagte: »Schau dir das an, Leonard, all diese Sterne. Wir Menschen sind wirklich nichts.«
Und ich stand da, den Kopf in den Nacken gelegt, ließ mein Herz vom Anblick des Firmaments wärmen und versuchte zu verstehen, was mein Vater wohl gemeint haben konnte. »Aber Daddy«, sagte ich schließlich, »wenn wir nicht da wären, um sie anzuschauen, würden die Sterne doch ganz umsonst leuchten.« In diesem Moment war mir klargeworden, daß wir Menschen keine Parasiten im Universum sind. Wir Menschen – oder, weniger anthropozentrisch gedacht, Wesen mit Bewußtsein – sind es, die der Existenz des Universums erst Sinn verleihen.
Okay, ich gebe zu, daß es eine Menge Leute gibt, bei denen man nicht das Gefühl hat, daß sie viel zu diesem Sinn beitragen. Vielleicht war es das Rasieren. In ihrer Blütezeit hatte die NASA, die amerikanische Raumfahrtbehörde, einige Millionen Dollar auf die Entwicklung eines weltraumtauglichen Trockenrasierers verwendet, der mittels einer Art eingebauten Staubsaugers die beim Rasieren entstehenden staubfeinen Bartpartikel zuverlässig einsaugen sollte, damit sie nicht durch die Luft schwirrten und in irgendwelchen elektronischen Anlagen Katastrophen anrichteten. Irgendwann hatte man diese Entwicklungen ergebnislos abgebrochen und schlicht verfügt, daß die Astronauten sich naß zu rasieren hätten: jeder handelsübliche Rasierschaum aus der Drogerie an der Ecke war imstande, die Bartpartikel zu binden und damit das Problem zu lösen. Und seither rasieren sich Raumfahrer, so sie es tun, naß.
Auf der Erde rasiere ich mich immer noch trocken. Ich hatte es bis zuletzt aufgeschoben, das Naßrasieren wenigstens einmal zu üben, und vor meinem ersten Shuttlestart, vor dem Abflug zum Tanegashima Raumfahrtgelände, hatte ich mir in einem kleinen amerikanischen Laden auf dem Flughafen von Tokio ein sündhaft teures Naßrasur-Set gekauft, von Gilette, wohl um mich meiner nationalen Identität zu versichern. Am ersten Morgen in der Raumstation machte ich dann zwei aufschlußreiche Erfahrungen: erstens, daß Schwerelosigkeit das Erlernen des Naßrasierens nicht erleichtert, und zweitens, daß Blut sich – anders als Wasser, das unter Schwerelosigkeit ziemlich große Kugeln bilden kann – in einen feinen roten Nebel verwandelt, und herzlichen Glückwunsch, wenn man den mit einem Schwamm wieder einsaugen muß.
Mit derlei Erinnerungen beendete ich meine Rasur, reinigte den Klingenkopf und packte alles in mein Fach. Dann wusch ich mir die Hände – man macht das im Weltraum mit Hilfe eines nassen Schwammes –, betätigte die Heißluftbrause, um alle noch umherschwirrenden Wassertröpfchen zu beseitigen, und verließ die Waschzelle, um mich in meiner Kabine anzuziehen. Auf dem Weg dorthin kam ich an den Bodybuilding-Geräten vorbei, an denen wir regelmäßig trainierten, um den schädlichen Einwirkungen der Schwerelosigkeit vorzubeugen, Muskelschwund etwa, Brüchigwerden der Knochen oder einer Erscheinung, die man orthostatische Intoleranz nennt: der Effekt, daß nach der Rückkehr ins Schwerefeld der Erde das Gehirn unzureichend mit Blut versorgt wird, wenn man aufrecht steht. Natürlich funktionierten diese Geräte nicht mit Gewichten, wie dies in einem irdischen Fitneßstudio der Fall gewesen wäre, sondern mit Federn und hydraulischen Kolben, und die weitaus meisten Geräte befaßten sich mit den Muskeln der unteren Körperhälfte: es war nicht Ziel, mit einem Schwarzenegger-Bizeps aus der Erdumlaufbahn heimzukehren, sondern die Beinmuskulatur, die bei Wegfall der Erdanziehung am schnellsten verkümmerte, in Form zu halten.
Es gab zwei Wohntrakte auf dem Crew-Deck, jeweils mit fünf Kabinen. Eine Kabine stand in der Regel leer, weil die Raumstation eine Normalbesatzung von nur neun Personen hatte, und wurde als Lagerraum benutzt. Während in meinem Trakt die Hygiene- und Fitneßeinrichtungen lagen, befand sich im anderen Trakt die sogenannte Messe, das hieß die automatische Küche und ein kleiner Gemeinschaftsraum mit einem großen runden Tisch, an dem man essen, lesen oder magnetische Brettspiele spielen konnte. (Nach sieben Jahren in Japan spielte ich allerdings immer noch so schlecht Go, daß ich für die japanischen Crewmitglieder ein völlig uninteressanter Gegner war.) Natürlich gab es auch ein Videogerät und eine Sammlung – größtenteils japanischer – Videofilme.
Die Kabine wäre angenehm groß gewesen, wenn es sich dabei um einen Kleiderschrank gehandelt hätte – aber als Wohnraum war sie doch etwas beengend, obwohl man außer an Platz an nichts gespart hatte. Jede Kabine verfügte über einen Anschluß an die Datenbank des Bordcomputers, die genug Lesestoff bot, selbst wenn man während des halbjährigen Aufenthalts nichts anderes zu tun gehabt hätte als zu lesen, ferner über eine eigene Sprechanlage, eine teure Designer-Leselampe an einem biegsamen Hals, etlichen Stauraum für persönlichen Krimskrams und sogar ein Abspielgerät für diese neuartigen Micro-Discs: kleine Speicherelemente von der Größe einer Vierteldollarmünze, die sechzig Minuten Musik in CD-Qualität enthielten – die ideale Soundtrackmaschine für den Raumfahrer mit leichtem Gepäck.
Und eine kleine Sichtluke hatte meine Kabine, knapp handtellergroß. Ich schob die Blende beiseite und sah hinab auf die geplagte Erde, auf der es so viel unüberschaubarer zuging als früher. Wir überflogen gerade Afrika, und über dem Hoggar-Massiv ging die Sonne auf. Wir sahen zur Zeit immer nur Sonnenaufgänge oder Sonnenuntergänge auf der Erdoberfläche, weil die Raumstation die Erde auf einer von Pol zu Pol laufenden Kreisbahn umrundete, auf der sie selber die meiste Zeit des Jahres nicht in den Erdschatten eintauchte. Vielleicht lagen dort unten jetzt gerade Männer, die den Sonnenaufgang hinter den Läufen ihrer Maschinengewehre erlebten.
Ich mußte an den Golfkrieg denken, in dem ich gekämpft hatte und der jetzt der Erste Golfkrieg genannt wurde, weil seit einigen Jahren der zweite Golfkrieg tobte, ein Flächenbrand, der die gesamte arabische Welt erfaßt hatte, Nordafrika verheerte und dessen Flammen längst nach Europa und Rußland züngelten. Seit bald einem Jahr belagerten die Dschijhadis die heilige Stadt Mekka, und manchmal, wenn wir Arabien überquerten, bildete ich mir ein, daß die Wüste rot war von Blut. Bilder tauchten in meiner Erinnerung auf, wie ich, gerade einundzwanzig Jahre alt und stark und selbstsicher, mit meinem Kampfflugzeug vom Deck des Flugzeugträgers gestartet war, um todbringende Bomben auf Ziele im Irak abzuwerfen, die der Computer vorgab, und wie die Irakis nicht den Hauch einer Chance hatten gegen mich und Gott auf meiner Seite war. Bilder von der Luftwaffenbasis in Bahrain und von der bildschönen, dunkeläugigen Dolmetscherin Fatima, deren Herz ich gewann, ich, der schlaksige Yankee aus Kansas. Damals war mir das alles andere als unglaublich vorgekommen; damals war ich ein Sieger gewesen, und Sieger kriegen die Mädchen, die sie wollen. Mein Vater hatte es nie verwunden, daß ich eine Araberin geheiratet hatte. Er wurde etwas versöhnlicher, als unser Sohn auf der Welt war, der den Namen Neil bekam, weil ich im Jahr der Mondlandung geboren war, aber ich hatte immer das Gefühl, daß er erst aufatmete, als wir wieder geschieden waren. Vier Jahre hatte es gehalten, dann war Fatima zurückgegangen nach Arabien und hatte Neil mitgenommen. Neil, meinen Sohn. Manchmal hielt ich vom Weltraum aus Ausschau nach ihm, obwohl das völlig idiotisch war, und fragte mich, wie es ihm wohl ging. Der Krieg damals kam mir heute so vor wie das letzte Aufbäumen einer Epoche, deren Zeit vorüber war. In meiner Kindheit war alles so einfach gewesen. Auf der einen Seite waren die Amerikaner, die Guten, und auf der anderen Seite die Russen, die Bösen. Und alles war stabil und überschaubar gewesen, wir waren die Stärkeren, was nichts machte, weil wir ja zum Glück auch die Guten waren, und ab und zu fürchtete man sich ein wenig vor der Bombe. Das war alles. Aber dann verschwand das Reich des Bösen, einfach so, zerplatzte wie eine Seifenblase, und in den Jahren danach konnte man förmlich zusehen, wie Amerikas Bedeutung ebenfalls zerfiel, als hätte es des mächtigen Gegenspielers bedurft, um selber mächtig zu sein. Wir warfen alles weg, brachten uns selber um. Als Fatima und ich geheiratet hatten, hatte ich angefangen zu studieren, mit dem Ziel, Astronaut zu werden. Ganz naiv hatte ich mir gesagt, daß es unübersehbar war, daß die Menschheit die Grenzen des Planeten erreicht hatte und es folglich an der Zeit war, nach Wegen zu suchen, wie man darüber hinaustreten konnte – und dazu wollte ich beitragen. Ein bißchen war ich immer noch der Sieger. Aber dann sagte meine Regierung, nein, ganz falsch, wir geben die Raumfahrt auf, bleiben zu Hause und sparen Energie. Praktisch vor meiner Nase wurde 1999 die NASA aufgelöst, wurde die Columbia ins Smithsonian Museum in Washington gestellt und wurden die übrigen drei Spaceshuttles nach Japan verkauft. Ich spüre immer noch die Fassungslosigkeit, mit der ich einen Leitartikel der New York Times las, der diesen Verkauf als ›gutes Geschäft und bedeutenden Beitrag zur Verbesserung der Außenhandelsbilanz‹ feierte.
Während ich einen frischen Overall überstreifte und den Clip mit meinem Namen an der Brust festmachte, gedachte ich wie so oft in Dankbarkeit meines alten Professors für Astronomie, Harry M. Wheeler, der alle seine Beziehungen hatte spielen lassen, um mir einen Job bei der NASDA, einer der beiden japanischen Raumfahrtbehörden, zu verschaffen. Ihm verdankte ich es, daß ich hier war, daß ich es doch noch geschafft hatte. Nicht als Sieger – man kann nicht sein ganzes Leben lang siegen. Aber immerhin erfolgreich. Ich hatte mit blutendem Herzen Abschied nehmen müssen von dem Land, das ich liebte, und ich hatte es geschafft, die Japaner schätzen zu lernen und in Japan so etwas wie heimisch zu werden. Mein jüngstes Erfolgserlebnis war kurz vor dem Start hier herauf gewesen, als ich erfuhr, daß ich mittlerweile auf der internen Präferenzliste des Personalbüros in meinem Fachgebiet Maintenance and Security zur allerersten Wahl aufgerückt war.
Security. Sicherheit war bisher kein Problem gewesen. Was die rein technische Sicherheit anbelangte, gab es keinen Raumfahrer, der sich damit nicht bestens auskannte. Und was andere Aspekte von Sicherheit anbelangte – mein Gott, es hatte noch nicht einmal einen Diebstahl auf der Raumstation gegeben! Und jetzt Sabotage? Beinahe schmerzhaft wurde mir klar, daß ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wie ich vorgehen sollte. Ich war schließlich kein Privatdetektiv. Und wenn auch nur eine der Befürchtungen Moriyamas zutraf, dann spielten sich hier Dinge ab, die mehrere Nummern zu groß für einen Amateur waren.
Plötzlich fiel mir ein Bruchstück des Textes ein, der zu der Melodie gehörte, die ich während des Anziehens vor mich hin gesummt hatte: What goes up, must come down… Ein Text aus einem alten Song; ich wußte nicht mehr, von wem. Ich verließ meine Kabine und machte mich auf den Weg. Es sah ganz so aus, als würde ich meinen Nummer-1-Platz nicht lange halten. Als ich mich von Haltegriff zu Haltegriff den Gang entlangzog, kam es mir vor, als sei es plötzlich wärmer geworden, aber ich wußte, daß das nur meine Angst war.