KAPITEL 9

Im biologischen Labor war es immer taghell, viel heller als in jedem anderen Raum der Station. Große, milchig strahlende Leuchtflächen beherrschten die Wände des Moduls, und intensiv strahlende Tageslichtlampen gaben noch eins drauf. Die Atmosphäre, die einem entgegenschlug, wenn sich das Schott öffnete, war feucht, heiß und modrig und weckte Vorstellungen von Dschungel und Regenwald, und das unübersichtliche Labor, voller großer Glaskästen, in denen es undefinierbar wucherte und wimmelte, mit seinen leeren Gitterkäfigen, den Mikroskopen und Glasflaschen und chromblitzenden Instrumenten, war geeignet, diese Vorstellungen noch zu unterstützen: man fühlte sich in das Labor eines wahnsinnigen Tropenarztes versetzt, und wenn einem im nächsten Moment Tarzan entgegengekommen wäre, wäre man nicht besonders überrascht gewesen.

Ich hangelte mich vorsichtig zwischen den Tischen und Glasschranken hindurch und fand schließlich, ziemlich weit hinten, eine ältere Frau, die damit beschäftigt war, einzelne Samenkörner mit einer Pinzette in eine mit feuchtem Zellstoff ausgekleidete Trommel zu legen.

» Moshi moshi, Leonard-san.«, begrüßte sie mich leise, ohne in ihrer Tätigkeit innezuhalten. »Was führt Sie an meinen bescheidenen Arbeitsplatz?«

»Hallo, Oba-san. Sie wollten mir bei der Zubereitung des Abendessens helfen.«

Jetzt hielt sie doch inne und konsultierte erschrocken ihre Armbanduhr. »Yaa, ist es schon so spät? Tatsächlich, es ist Zeit. Sie müssen verzeihen, Leonard-san, ich verliere leicht das Zeitgefühl bei meiner Arbeit.«

Oba war unsere Bordärztin. Da alle Crewmitglieder sich für gewöhnlich einer ausgezeichneten Gesundheit erfreuten, verbrachte sie ihre Zeit mit verschiedenen weltraumbiologischen Experimenten, die sich in der Regel um den noch weitgehend ungeklärten Einfluß von Schwerelosigkeit und kosmischer Strahlung auf die Lebensvorgänge bei Pflanzen und Tieren drehten. Oba war nur wenig jünger als Kommandant Moriyama, und ihr von zahlreichen dünnen Falten durchzogenes, sympathisches Gesicht strahlte jene Wärme und Zuversicht aus, die für gute Ärzte charakteristisch ist und im allgemeinen bewirkt, daß jeder Kranke schon beim Anblick des Arztes anfängt, sich besser zu fühlen.

»Wenn Sie mir nur noch gestatten, die Vorbereitungen dieses Versuchs hier abzuschließen…«, bat sie und nahm die Arbeit mit der Pinzette wieder auf.

»Kein Problem.«

»Sie haben gehört, daß der Shuttle später kommt?« fragte sie, während sie die letzten Samenkörner aus der kleinen Plastikflasche angelte, die sie in der Hand hielt. »Wahrscheinlich eine Woche. Als ich das hörte, beschloß ich, noch einen Keimversuch zu machen. Das Wachstum unter Schwerelosigkeit ist immer noch ein großes Rätsel. Manche Pflanzen haben keine Probleme damit, andere sehr große – warum? Diese Pflanze hier keimt nur unter Schwerkraft, und ich will feststellen, wie groß die Schwerkraft sein muß, damit die Keimung einsetzt. Man nennt dieses Verhalten der Pflanzen Gravitropismus. Pflanzen nehmen die Schwerkraft wahr, und dann wachsen Wurzeln abwärts, Stengel, Halme und Stämme aufwärts. Aber wie das funktioniert, ist noch weitgehend unklar.« Sie verstaute Plastikflasche und Pinzette in einer Schublade, schloß dann das lichtdichte Gehäuse der Trommel und schaltete den Motor ein, auf der niedrigsten Stufe. Die Trommel begann, sich ganz langsam zu drehen. Rotation ist die einzige Möglichkeit, im Weltraum eine Art Scheinschwerkraft zu erzeugen.

»Das klingt, als wären Sie froh, daß Sie noch eine Weile bleiben können«, meinte ich.

Sie lächelte, und ihr Gesicht wirkte plötzlich wie das eines verträumten Kindes. »O nein, Leonard-san, ich bin schrecklich ungeduldig. Da ist ein Mann, wissen Sie, der mich gebeten hat, seine Frau zu werden, und er wartet auf mich. Und ich warte auf ihn…«

»Oh«, machte ich. Ich hatte auf der Erde in Raumfahrerkreisen manchmal häßliche, abwertende Bemerkungen über die unverheiratete Ärztin gehört. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke. Dies sind meine letzten Tage im Weltraum, wissen Sie? Ich werde mit ihm gehen, nach Wakkanai, hoch im Norden von Japan, wo er ein Häuschen besitzt. Man sieht dort aufs Meer hinaus, auf die Straße zwischen Hokkaido und Sachalin, und an klaren Abenden werden wir die Raumstation über den Himmel ziehen sehen, und ich werde ihm erzählen, wie es ist hier oben…«

Ich lächelte, und sie sah es. »Jetzt halten Sie mich für eine sentimentale alte Närrin, nicht wahr, Leonard-san?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte ich. »Ich beneide Sie. Ich wünschte mir, auf mich würde auch jemand warten.«

Sie sah mich prüfend an, und das war jetzt wieder der Ärztinnenblick. »Ich kenne wenigstens sieben Menschen, die auf Sie warten – und auf mich«, meinte sie spitzbübisch. »Und die sehr ungeduldig werden, wenn wir sie mit dem Abendessen warten lassen. Kommen Sie, Leonard-san, es wird Zeit. Ikimasho!«

Sie nahm aus einem der leerstehenden Tierkäfige einen großen Plastikbeutel mit Sojasprossen, die das heutige Abendessen bereichern würden. Soja zählt zu den absolut unproblematischen Pflanzen; in der Schwerelosigkeit wächst es wie Unkraut.

Die frühen Weltraumexpeditionen, sowohl die amerikanischen als auch die russischen, waren gekennzeichnet von Hektik und Zeitnot. Die Astronauten hatten mehr oder weniger rund um die Uhr gearbeitet, um so viele Experimente wie möglich in der vorhandenen knappen Zeit zu erledigen, und ihre eigenen körperlichen Bedürfnisse waren dabei so ungefähr das Unwichtigste gewesen. Gearbeitet wurde in Schichten, geschlafen nur so viel wie nötig, und es wurde eigentlich nicht gegessen und getrunken – man nahm lediglich Nahrung zu sich. Ich hatte Protokolle des Funkverkehrs zwischen Houston, der amerikanischen Bodenleitstelle, und verschiedenen Mondflügen und Skylab-Missionen gelesen, die einen guten Eindruck der allgemeinen Zeitschinderei vermittelten, und die vielgerühmten guten Nerven der ersten Astronauten waren wohl vor allem deshalb notwendig gewesen, weil ihnen bei jedem Handgriff ein halbes Dutzend Leute besserwisserisch dazwischenquatschte.

Dergleichen Unkultur ist für das japanische Denken selbstverständlich indiskutabel. Nicht nur, daß die Japaner den sogenannten kleinen Dingen des Lebens von jeher größere Aufmerksamkeit zukommen ließen als wir Amerikaner mit unserer Fast-Food-Kultur; sie sind darüber hinaus auch fest davon überzeugt, daß nichts von wirklichem Wert geschaffen werden kann, wenn man hektisch und oberflächlich handelt, ohne in seiner eigenen Mitte zu ruhen. Die teilweise mangelhaften wissenschaftlichen Ergebnisse der ersten Weltraumexperimente, die gegen Ende der achtziger Jahre allgemeine Zweifel an Sinn und Nutzen der Raumfahrt aufkommen ließen, erklären sich für die Japaner aus der gedankenlosen Geschäftigkeit, die diese Unternehmungen oft kennzeichnete.

An Bord der Raumstation herrschte ein geregelter Tagesablauf, der dazu geeignet war, zum Wohlbefinden jedes Crewmitglieds beizutragen und ein ruhiges, konzentriertes und zielstrebiges Arbeiten zu ermöglichen. Unsere Tag- und Nachtphasen entsprachen der Zeitzone, in der auch Japan lag, was die Zusammenarbeit mit der Bodenstation erleichterte. Morgens und tagsüber aß jeder, wann und wo er Lust hatte, und wie Wissenschaftler nun mal so sind, vergaßen die meisten das Essen ganz. Abends dagegen versammelte sich die ganze Crew zu einer gemeinsamen Mahlzeit, die nicht nur der Nahrungsaufnahme diente, sondern gleichzeitig Gelegenheit zu zwanglosen Besprechungen bot, allgemeine Geselligkeit darstellte und so auf angenehme Weise das Denken aus den Bahnen löste, in denen es sich den Tag über festgefahren hatte.

Die Vorbereitung des Abendessens war natürlich meine Aufgabe. In der Regel stellte das keine große Affäre dar, da der größte Teil unserer Nahrungsmittel aus Fertigmahlzeiten bestand, die fix und fertig zubereitet und portioniert in unseren Tiefkühlfächern lagen und nur noch in einem Mikrowellenofen erhitzt zu werden brauchten. Bei einem Teil der Portionen handelte es sich auch um dehydrierte Nahrung, wie sie früher aus Gewichtsersparnisgründen in der Raumfahrt üblich gewesen war. Diese Nahrung war womöglich noch schneller zubereitet: man mußte sie nur mit Wasser versetzen und erhielt eine Art breiige Paste, die man sich aus dem Plastikbeutel direkt in den Mund drücken konnte und die, o Wunder, tatsächlich oft recht gut schmeckte.

Aber man kann sich nicht ein halbes Jahr von Brei und Paste ernähren, ohne massive Verdauungsprobleme und Zahnausfall zu bekommen: diese Teile des menschlichen Ernährungssystems müssen auch beschäftigt werden. Deshalb war die Abteilung Nutzlastverwaltung der NASDA schon vor einiger Zeit dazu übergegangen, den Versorgungs-Shuttles regelmäßig ein gewisses Kontingent an naturbelassenen Lebensmitteln mitzugeben. Im Prinzip war jedes Lebensmittel dazu geeignet, im Weltraum verspeist zu werden, vorausgesetzt, es erfüllte zwei Bedingungen: Erstens mußte es den Transport und die beim Start des Shuttle unvermeidlichen Andruckkräfte überstehen – solche Dinge wie Tomaten, Trauben oder Brombeeren schieden also aus. Und zweitens – es durfte nicht krümeln. Krümel, die in der Schwerelosigkeit umherschwirren, sind fast unmöglich wieder einzufangen und können, wenn sie in geeignete Geräte eindringen, eine Menge Unheil anrichten. Es gab also keine Kekse, und das Brot war ein speziell für uns gebackenes, weiches, fladenartiges Etwas, das nicht trocknete und nicht bröselte.

Zu einem zwar geringen, aber stetig zunehmenden Teil versorgten wir uns auch selbst mit Gemüse und Obst, das im Rahmen von Wachstumsexperimenten im Biolabor gezüchtet wurde. Tomaten waren immer noch ein Problem, aber die Zucht von Gurken und Paprika gelang bereits recht gut. Was Soja anbelangte, unseren Star unter den Weltraumpflanzen, waren wir inzwischen so weit, daß wir sogar unser eigenes Saatgut gewannen, und so gönnten wir uns regelmäßig den Luxus frischgezogener Keimlinge.

Bei der Zubereitung von frischem Gemüse benötigte ich allerdings Hilfe, denn die Zubereitung von Nahrungsmitteln unter Schwerelosigkeit ist alles andere als einfach. Das fängt schon mit dem Zerschneiden an: die Gemüsestücke bleiben ja nicht schön auf dem Schneidebrett liegen, wie sie das auf der Erde täten, sondern fangen an, den Koch fröhlich zu umschwirren, wenn er nicht aufpaßt. Hier hatte sich irgendwann, nach zahlreichen Versuchen mit raffinierten Apparaturen, als einfachste Lösung die herausgestellt, das Kochgut auf einem nassen Kunststoffbrett zu schneiden. Durch die Adhäsionskräfte des Wassers bleiben die Schnipsel zu einem ausreichend großen Teil auf dem Brett kleben, und man kann sie dann bequem in den Topf streifen.

Der Kochtopf ist das nächste interessante Problem. Man kann natürlich keinen gewöhnlichen Kochtopf nehmen, schon weil man natürlich auch keinen gewöhnlichen Herd benutzt. Ein Kochtopf würde davonschweben, der Deckel würde sich unter dem Dampfdruck öffnen, das Kochgut würde sich von den Wänden des Topfes lösen und eine Art kugelförmiges Etwas bilden… kurzum, die Küche würde hinterher schrecklich aussehen.

Natürlich kann man alles in einem Mikrowellenofen zubereiten, und meistens taten wir das auch. Aber es war ein ständiges Hobby der Wissenschaftler (bemerkenswerterweise fast ausschließlich der männlichen Wissenschaftler), immer neue Apparaturen zu erfinden, die es erlaubten, unter Schwerelosigkeit zu kochen. Am lustigsten fand ich den sogenannten Dämpfofen, der dazu gedacht war, Gemüse zu dämpfen. Es handelte sich um einen kleinen Kasten aus Aluminium, der ein Guckloch hatte und innen beleuchtet war, damit man den Anblick genießen konnte, denn durch einige Düsen im Hintergrund strömte kochendheißer Dampf in den Kasten, der das Gemüse, das darin schwebte, wild durcheinanderwirbelte und dabei gar dünstete. Dann gab es noch einen Bratofen, eine Art großer Toaster: das Bratgut – Gemüse oder feine Fleischstreifen – wurde von einer Klammerkonstruktion gehalten, während es von zwei Seiten erhitzt wurde.

Für die stilgerechte Zubereitung von Sojasprossen taugte natürlich weder das eine noch das andere. Hierfür kam nur der Weltraum-Wok in Frage, den Ingenieure aus der vorletzten Schicht entwickelt hatten, ein atemberaubend häßliches und gefährliches Gerät, das aussah wie eine Art glühendheißer, kleiner Betonmischer, der sich rasch um seine Achse drehte. Man gab zuerst etwas gewürztes und gesalzenes Öl hinein, das sich infolge der Rotation rasch im Inneren verteilte, und dann, wenn das Öl ausreichend heiß war, die Sprossen. Eingebaute Schaufeln besorgten das Wenden und Rühren, und man brauchte nur zu warten, bis die Sprossen das Öl ganz aufgenommen hatten, dann schaltete man den Wok aus und konnte darangehen, die gebratenen Sprossen einzufangen, wenn sie aus der Öffnung kamen.

Oba übernahm die Regie. Wie immer kannte sie ein paar Tricks, mit Gewürzen und anderen raffinierten Kniffen das Essen besonders schmackhaft zuzubereiten – Tricks, die, wie sie nicht müde wurde zu erzählen, von ihrer Großmutter mütterlicherseits stammten, die jedesmal als dritter, unsichtbarer Helfer in der Küche zu sein schien. Zusammen bereiteten wir neun Tabletts vor und deponierten sie im Warmhalteschrank, einer Art Durchreiche zwischen der kleinen Küche und dem Gemeinschaftsraum mit seinem großen runden Tisch. Dann ging ich an die Bordsprechanlage und gab das Signal, das die Crew zum Abendessen rief.

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