Sie hielten sich nicht lange mit dem Studium der Handbücher auf. Dies war nicht die Zeit für buchstabengenaues Befolgen von Vorschriften. Sie holten Werkzeug und schraubten die Abdeckplatten der Schaltschränke ab, und was zum Vorschein kam, rechtfertigte diese Art der Vorgehensweise voll und ganz.
Hier waren keine Sicherheitsmaßnahmen mehr notwendig, weil man nichts mehr würde sorgfältig zusammenbauen müssen. Es gab nichts mehr, das man hätte zusammenbauen können. Das Innere der Geräte war zerschmolzen, ineinander zerflossen und vollkommen zerstört, und die Reste des Plastikthermits, mit dem dieses Zerstörungswerk vollbracht worden war, erfüllte die Brücke mit seinem dumpfen, beißenden Gestank.
Tanaka fand drei Paare dünner Drähte, die von einer Batterie im Gehäuseinneren nach außen geführt worden waren, an eine unauffällige Stelle unterhalb des Kommunikationspults, wo sie jahrelang niemandem aufgefallen wären, und von dort zurück zu der Schmelzladung. Um die Zerstörung der Sender auszulösen, war es nur notwendig gewesen, die freien Enden der Drehte miteinander zu verdrillen und so den Kontakt herzustellen.
»Da ist jemand schneller gewesen als wir«, stellte Tanaka grimmig fest.
»Ja«, nickte Moriyama »Schneller und schlauer. Das muß alles von ziemlich langer Hand vorbereitet worden sein.«
»Was machen wir nun?« fragte Tanaka.
Moriyama sah uns der Reihe nach an. »Der Mörder Iwabuchis hat alle unsere regulären Sendeeinrichtungen zerstört. Was er aber möglicherweise nicht wußte oder, falls er es wußte, möglicherweise übersehen hat, ist, daß sich bei der Notversorgungseinrichtung jedes Moduls auch ein starker, batteriegetriebener Sender befindet. Dieser Sender kann zwar nur auf der internationalen Notfrequenz senden, und seine Benutzung löst einen automatischen Alarm aus, aber in Anbetracht unserer Situation wäre das nur wünschenswert. Wir werden nach diesen Sendern suchen und einen davon hierherbringen.«
Wir sahen einander unbehaglich und voller Mißtrauen an. »Vielleicht sollten wir in Gruppen gehen oder alle zusammen«, schlug Kim vor. »Nicht einzeln.«
»Genau«, nickte Moriyama, jetzt ganz Feldherr und Kommandant. »Wir dürfen nicht vergessen, daß einer von uns der Mörder ist; daß er sich unerkannt unter uns befinden muß, in diesem Moment. Ganz klar ist, daß sich von jetzt an niemand mehr allein durch die Station bewegen darf. Auch Zweiergruppen sind zu klein, da dies zwangsläufig heißen würde, daß einer mit dem Mörder allein ist. Wir werden deshalb zwei Dreiergruppen bilden. Yoshiko, Sakai und Kim bilden die erste Gruppe, Jayakar, Oba und Tanaka die zweite.
Mister Carr bleibt hier mit mir auf der Brücke. Ich erinnere Sie nochmals daran, daß Sie die anderen stets mißtrauisch beobachten müssen. Das ist nicht angenehm, aber leider nicht zu vermeiden. Wer versucht, sich von der Gruppe abzusetzen, macht sich dringend verdächtig. Jede Beobachtung, die Ihren Argwohn weckt, alles, was irgendwie ungewöhnlich ist, ist mir sofort zu melden.«
Die beiden Dreierteams gruppierten sich so, wie Moriyama es angeordnet hatte. Plötzlich herrschte ein ziemlich militärischer Ton, und alle beeilten sich zu gehorchen, als drohe andernfalls das Erschießungskommando.
»Die erste Gruppe nimmt sich das Maschinendeck vor, die zweite Gruppe das Labordeck«, befahl Moriyama. »Bis auf weiteres betritt niemand das Wohnmodul Eins. Der Befehl lautet, das erste funktionsfähige Funkgerät, das Sie finden, hierher auf die Brücke zu bringen. Gibt es dazu noch Fragen?«
Es gab keine Fragen.
»Gehen Sie los.«
Kaum war das Schott hinter den beiden Trupps zugefahren, sank Moriyama förmlich in sich zusammen, und die harte Oberbefehlshabermimik in seinem Gesicht wich einem schmerzlichen Ausdruck. Er sah mich an.
»Glauben Sie, daß er die Notrufsender übersehen hat?«
»Nein.«
»Was ist mit den Funkgeräten in den Raumanzügen?«
»Die sind nicht stark genug, um irgendwen zu erreichen.«
»Warum eigentlich nicht? Es sind doch bloß vierhundert Kilometer bis zur Erdoberfläche, das ist doch keine große Entfernung…«
»Wir sind nicht allein im Weltraum. In den Raumanzügen sind Funkgeräte mit sehr schwachen Sendern und sehr guten Empfängern eingebaut. Andernfalls würden wahrscheinlich Millionen Fernsehzuschauer die Dialoge unserer Außenbordarbeiten mithören.«
Moriyama seufzte. »Es ist der Saboteur, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich.«
»Was können wir denn tun, um ihn zu entlarven?«
»Wir könnten die Waffe suchen.«
»Die Waffe?«
Es war mit Händen zu greifen, daß Moriyama ebenso wie alle anderen noch unter Schock stand. Wie alle – mit Ausnahme des Mörders.
»Iwabuchi wurde offensichtlich erschossen«, erklärte ich geduldig. »Es muß also eine Waffe geben, und da wir keinen Schleusendurchgang registriert haben, muß sie noch irgendwo an Bord sein. Und es wäre möglicherweise aufschlußreich, sie zu finden.«
»Ja«, sagte Moriyama, aber ich hatte nicht den Eindruck, daß er mir zugehört hatte. Er schien mit den Gedanken woanders zu sein, und es waren keine guten Gedanken. Ein harter Glanz trat in seine Augen, eine stählerne Wut, die mir regelrechte Schauer über den Rücken jagte. Plötzlich mußte ich an die sagenhaften Ninja-Krieger denken, die ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben kämpften, an die verbissene, unerbittliche Entschlossenheit der Kamikaze-Piloten des Zweiten Weltkriegs. Natürlich hatte der Mörder die Notfunkgeräte nicht übersehen. Er schien nicht der Mann zu sein, so etwas zu übersehen. Die beiden Gruppen kehrten unverrichteter Dinge zurück. Wir waren von der Welt abgeschnitten, die wir unablässig mit zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit umkreisten. Wir konnten nur hoffen, daß die Bodenstation bald Verdacht schöpfen würde, wenn sie nichts mehr von uns hörte und alle Routinemeldungen ausblieben, und daß daraufhin ein Shuttle starten und uns anfliegen würde.
Aber wer konnte wissen, wie es bis dahin an Bord aussehen würde? Was mochte der Mörder vorhaben? Wenn er so umsichtig gehandelt und alles so eingehend vorbereitet hatte, konnte er nicht dumm sein – was eine Selbstverständlichkeit war, denn selbstverständlich stellte die japanische Raumfahrtbehörde niemanden ein, der keine überdurchschnittliche Intelligenz vorzuweisen hatte –, und er mußte sich folglich sagen, daß ihm die Zerstörung der Sender nur einen kurzen Aufschub gewähren konnte, weiter nichts. Er mußte weitere Pläne haben. Und mich schauderte bei dem Versuch, mir vorzustellen, wie diese aussehen machten.
»Mister Jayakar erwähnte vorhin die alten englischen Kriminalromane«, begann Moriyama, als jeder wieder seinen Platz eingenommen hatte. »Wenn ich mich recht entsinne, pflegen sie immer damit zu enden, daß alle Verdächtigen in einem Raum versammelt sind und dann der Schuldige entlarvt wird.«
»So wie wir hier«, meinte Jay mit einem schiefen Grinsen. »Alle Verdächtigen sind in einem Raum versammelt. Fehlt nur der Kommissar.«
»Ich will mich einmal in dieser Rolle versuchen«, erwiderte Moriyama mit unnatürlicher Ruhe. »Wie Sie alle wissen, haben wir seit vier Wochen massive Probleme mit den Energieübertragungen, und wir wissen nicht, woran es liegt. Was Sie nicht wissen, ist, daß seit einiger Zeit der Verdacht bestand, es könnte sich dabei um Sabotage handeln. Wir – das heißt, Akihiro-san von der Bodenstation und ich – vermuteten, daß sich ein Saboteur in die Crew eingeschmuggelt hatte, der im Auftrag fremder Mächte unsere Versuche zur solaren Energiegewinnung scheitern lassen sollte. Nach dem, was wir heute wissen, ist unser Verdacht berechtigt gewesen. Einer von uns ist der Saboteur. Und man kann wohl davon ausgehen, daß der Saboteur auch der Mörder Iwabuchis ist.«
Es war mäuschenstill in der Schaltzentrale. Selten hatte jemand ein aufmerksameres Publikum gehabt als Moriyama in diesem Moment. Man hörte das gleichmäßige Rauschen der Klimaanlage, man hörte sogar die weit entfernt klackernden Schritte von Spiderman, der wahrscheinlich gerade wieder auf eine neue Folienrolle wartete.
»Ich muß gestehen, daß es ausgerechnet Iwabuchi war, den ich bislang hauptsächlich verdächtigte«, fuhr der Kommandant fort. »Iwabuchi war, wie wir wissen, ein genialer Techniker, und kurz nachdem er an Bord gekommen war, begann die Zieleinrichtung des Energiesenders, die bis dahin zufriedenstellend funktioniert hatte, ihre seltsamen Ausfälle und Fehlfunktionen zu zeigen. Für Iwabuchi wäre es ein leichtes gewesen, derartige Funktionsstörungen zu erzeugen, ohne daß wir ihm auf die Spur gekommen wären, weil wir ohnehin selten verstanden, was er eigentlich gerade machte.«
»Ich nehme an«, warf Jay trocken ein, »daß ihn seine Ermordung nun, neben allem anderen, von diesem Verdacht entlastet.«
»Richtig«, nickte Moriyama. »Iwabuchi kann es wohl kaum gewesen sein. Aber das ist ja nicht die einzige Möglichkeit der Sabotage. Eine andere, genau so verletzliche Stelle ist das Computersystem der Raumstation – allgegenwärtig, überall eingebunden, und Manipulationen daran sind kaum aufzuspüren. Besonders dann nicht, wenn ein begabter Programmierer sie vornimmt, der das System so gut kennt, daß er weiß, wo man sie geschickt verstecken kann, nicht wahr, Mister Jayakar?«
Jay bekam plötzlich große Augen.
»Mister Carr hat mir von einem Gespräch zwischen Iwabuchi und Ihnen, Mister Jayakar, erzählt, dessen Zeuge er gestern zufällig wurde. Iwabuchi wollte mit Ihnen zusammen die Software Zeile für Zeile analysieren, um eventuellen Computerfehlern auf die Spur zu kommen. Sie aber lehnten ab und vertrösteten ihn auf heute morgen. Dummerweise ist Iwabuchi heute morgen tot und kann Ihnen nicht mehr über die Schulter schauen…«
Ich hob zaghaft die Hand, aber Moriyama bedeutete mir, mich herauszuhalten. »Lassen Sie, Leonard, das ist jetzt meine Sache. Mister Jayakar, was sagen Sie dazu?«
Jay war blaß geworden. Er hatte schon den ganzen Morgen nicht gut ausgesehen; jetzt sah er entschieden schlecht aus. »Es kommt mir so vor, als seien Sie gerade dabei, eine Anschuldigung gegen mich zu formulieren.«
»Ach, kommt es Ihnen so vor?« fragte Moriyama mit einem Hohn in der Stimme, der einem sadistischen Wildwest-Sheriff gut zu Gesicht gestanden hätte und der aus dem Mund eines Japaners regelrecht erschreckend wirkte. »Warum haben Sie Iwabuchi vertröstet, Jayakar?«
Jay hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Weil… weil man eine solche Riesenarbeit nicht aus dem Stand heraus in Angriff nimmt. Das braucht Anlauf. Haben Sie eine Ahnung, wieviel Programmcode das ist? Wieviel hunderttausend Programmzeilen? Ich wollte vorher noch alle Aufzeichnungen analysieren, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der die Suche hätte einschränken können…«
»Und das haben Sie heute nacht gemacht?«
»Ja.«
»Aber Sie sagten, zu dem Zeitpunkt, als Sie das mit Iwabuchi ausmachten, sei Ihnen nicht gegenwärtig gewesen, daß Sie Nachtwache hatten. Hätten Sie auf jeden Fall durchgearbeitet, um die Aufzeichnungen zu analysieren?«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Und wann hatten Sie Ihren Schlaf eingeplant?« Moriyamas Stimme war jetzt so scharf wie die Klinge eines Henkerbeils. »Ihnen muß doch klar gewesen sein, daß Sie nicht die Nacht durcharbeiten und sich dann am Morgen mit Iwabuchi treffen konnten.«
»Na ja…«, wand sich Jay unbehaglich. »Vielleicht hätte ich die Aufzeichnungen auch später analysiert… Ich wollte mich nur ein wenig vorbereiten auf den Programm-Check…«
»Nach dem, was Sie mir erzählt haben, analysieren Sie Ihre Aufzeichnungen schon seit Wochen. Ich glaube nicht, daß das heute nacht Ihre dringendste Beschäftigung war, als Sie Nachtwache hatten. Als Sie sieben Stunden lang allein waren, während jeder sonst in der Station schlief – Zeit genug, um alles vorzubereiten, die Funkgeräte zu verminen, die Notfunkgeräte zu zerstören…«
»Unsinn«, wehrte sich Jay. »Völliger Unsinn. Ich bin kein Techniker, ich… ich könnte das überhaupt nicht!«
»Zeit genug, Iwabuchi zu töten…«
»Ich habe Iwabuchi nicht getötet!« Jetzt schrie Jayakar. »Das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen! Kommandant, Sir… das sind alles bedeutungslose Zufälligkeiten. So ein Verdachtsgebäude könnten Sie gegen jeden hier errichten, wenn Sie wollten. Nehmen Sie Carr: er kann sich überall in der Station bewegen, ohne verdächtig zu wirken – er könnte die Notfunkgeräte viel unauffälliger zerstören. Und er hat Iwabuchi gefunden. Warum verdächtigen Sie ihn nicht?«
Moriyama sah den wild gestikulierenden Kybernetiker dumpf brütend an, wie ein Raubtier, das darauf wartet, seiner Beute den tödlichen Schlag zu versetzen.
»Ich habe«, erklärte er schließlich düster, »eine Überprüfung jedes Crewmitglieds durch den Sicherheitsdienst in die Wege geleitet. Die Ergebnisse dieser Überprüfung sind mir als verschlüsselte Akte übermittelt worden, und der Teil der Akte, der am dicksten ist, betrifft Sie, Professor Jayakar.«
So hatte er ihn noch nie genannt. Der Gipfel der schlechten Laune des Kommandanten war bisher immer gewesen, mit Mister angeredet zu werden.
»Diese Akte könnte nicht so dick sein, wie sie ist, wenn Sie alle bei der Einstellung vorgeschriebenen Angaben zu Ihrer Person und Ihrem Lebenslauf gemacht hätten. Aber Sie haben eine Menge Dinge verschwiegen. Zum Beispiel, daß Sie im Jahre 1997 bei der Stadtverwaltung von Cambridge einen Waffenschein für einen Revolver beantragt haben.«
»Ich war damals mehreren ausländerfeindlichen Übergriffen ausgeliefert gewesen und fühlte mich nicht mehr sicher.«
»Und Sie haben auch verschwiegen, daß Sie, ehe Sie 1996 den Ruf nach Cambridge erhielten, für die British Petroleum Company arbeiteten.«
»Ich habe für Geoscope Inc. gearbeitet. Ich habe Analysealgorithmen für geologische Untersuchungen entwickelt, nichts weiter.«
»Sie wußten, daß Geoscope eine hundertprozentige Tochter der British Petroleum war. Das hätten Sie angeben müssen.«
»Mein Gott!« begehrte Jay auf. »Hören Sie endlich auf mit Ihren haltlosen Verdächtigungen. Sie beleidigen meine Intelligenz. Wenn ich Iwabuchi hätte umbringen wollen, glauben Sie, ich hätte mir nicht etwas weniger Plumpes ausdenken können als einfach mit dem Revolver zu ihm in die Kabine zu gehen?«
»Das glaube ich schon. Aber nicht in der kurzen Zeit, die Ihnen zur Verfügung stand.«
»Ich verbitte mir jede weitere Beleidigung, Mister Moriyama. Im übrigen bin ich nicht Angestellter der NASDA, sondern der ISAS und Ihnen nur organisatorisch, aber nicht disziplinarisch unterstellt.«
Moriyama beugte sich vor, und seine Stimme war gefährlich leise, als er sagte: »Sie haben nicht verstanden, Mister Jayakar. Ich werde Sie jetzt festnehmen lassen, weil ich Sie der Sabotage verdächtige sowie des Mordes an Taka Iwabuchi. Und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir ohne Funkkontakt mit unserer Basis sind. Nach geltendem Recht bin ich als Kommandant dadurch an Bord dieser Raumstation Herr über Leben und Tod – und ich rate Ihnen dringend, nicht auszuprobieren, wie ernst es mir damit ist.«