Ich war selten im Raum draußen gewesen. Mein Job hatte es nicht erfordert, und wenn, dann war es immer auf der hellen Seite gewesen. Als sich die äußere Luke der Schleuse vor mir öffnete, wurde mir bewußt, daß ich noch niemals zuvor auf der dunklen Seite gewesen war.
Das Panorama, das sich meinen Blicken darbot, war atemberaubend. Unter mir – unwillkürlich und ohne daß ich etwas an dieser Art der Wahrnehmung hätte ändern können, ordnete mein Verstand, mein Auge, dem Anblick Richtungen zu, und die riesige, unermeßlich riesige Solarfläche war unten – unter mir also erstreckte sich die Solarfläche nach allen Seiten, wie eine gewaltige graue gußeiserne Trennwand durch das gesamte Universum, und nur am äußersten Rand, da, wo sie den Erdball zerschnitt, zog sich eine dünne, haarfeine, silberhell leuchtende Linie entlang, wie eine Ahnung von einem Sonnenaufgang, der nie erfolgen würde. Und auch der Erdball war riesig, dunkel und riesig, die Nachthälfte der Erde – unheimlich nahe, bedrückend in ihrer blauschwarzen Dunkelheit, die die Ränder verschwimmen ließ. Ich sah Wasser, träges, schwarzes Wasser, soweit das Auge reichte. Der Indische Ozean. Es war nur noch ein Katzensprung bis zur arabischen Halbinsel, bis Mekka; nur noch Minuten bis zur entscheidenden Schlacht um die Heilige Stadt.
Ich glitt aus der Schleuse, sah zu, wie sie sich geräuschlos hinter mir schloß, und konnte es kaum fassen, daß mich die riesige bleierne Wüste der Solarfläche nicht zu sich herabziehen wollte. Dann drehte ich mich um und wandte mich dem Turmausleger zu.
Ich hatte ganz vergessen, wie groß er war. So hoch wie ein Kirchturm, wie ein sehr großer Kirchturm, ragte die filigrane Konstruktion aus Metallstäben über mir auf, der Blick ging nach oben und wollte kein Ende finden. Hundertfünfzig Meter. Ich kontrollierte meine Uhr. Noch zwanzig Minuten.
Ich setzte mich in Bewegung, hangelte mich von Haltegriff zu Haltegriff bis zum Ende des Knotentunnel-Moduls und schlüpfte dann zwischen den Stäben hindurch in das Innere der Turmkonstruktion. Von hier aus erinnerte sie an einen Ölbohrturm, einen kosmischen Eiffelturm.
In dem modernen japanischen Raumanzug konnte ich mich, natürlich, viel besser und leichter bewegen als in dem alten russischen Modell. Ausgestattet mit allen Errungenschaften der herkömmlichen Weltraumtechnik, war das japanische Modell wesentlich leichter, einfacher zu handhaben und eleganter in der Konstruktion. Ach ja, und billiger waren die japanischen Raumanzüge natürlich außerdem.
Ich stieß mich ab und glitt den Turm hinauf, wie durch einen Tunnel. Entlang der Stützstreben zogen sich die Stromleitungen, daumendicke Kabel, zu armdicken Strängen verzurrt. Ab und zu flitzte ich an einem kleinen schwarzen Signalkästchen vorbei, auf dem drohend Warnlampen flackerten: die Kabel standen bereits unter Strom, wenn auch noch nicht unter Vollast. Unter Vollast würde die gesamte Solarfläche nachtschwarz werden.
In den Kopfhörern meines Funkgeräts, das ich auf Empfang geschaltet hatte, begann es zunehmend zu knistern, je näher ich der Spitze des Turms kam. Es klang beunruhigend, gerade so, als flöge ich mitten in unsichtbare Gewalten hinein, die mich zermalmen konnten – und es vielleicht auch würden. Schließlich erreichte ich die Turmspitze.
Hier oben verjüngte sich die Konstruktion leicht, und es war schwer, sich aus dem Inneren des Turms wieder herauszuzwängen. Ich spähte nach oben, aber es war niemand zu sehen. Auf der Spitze der Turmkonstruktion saß ein großes, zylindrisches Aggregat, das aussah wie eine riesige, weißlackierte Coladose, die jemand in ein Fliegengitter eingewickelt hatte. Oben auf dem Aggregat war eine runde, tellerartige Plattform angebracht, und auf dieser Plattform wiederum – das wußte ich nur; sehen konnte ich es von meiner Position aus nicht – saß der Energiesender, der aussah wie eine große, nach allen Richtungen bewegliche Radarantenne. Nur daß diese Antenne nicht empfangen, sondern nur senden konnte, und zwar einen Mikrowellenstrahl von unvorstellbarer Intensität. Einen unsichtbaren, absolut zerstörerischen Energiestrahl, der sich in wenigen Minuten in den blutgetränkten Sand der Arabischen Wüste bohren und eine Spur der Verwüstung ziehen würde.
Wo war Khalid? Wahrscheinlich auf der Plattform. Ich konnte ihn nicht sehen, genausowenig wie ich sehen konnte, was sich sonst auf der Oberseite der Plattform befand. Die Plattform diente der Abschirmung zur Solarstation hin, und daß ich ihn nicht sehen konnte, hieß hoffentlich, daß er auch mich nicht sah. Für einen Augenblick zuckte mir der Gedanke durch den Kopf, daß er womöglich überhaupt nicht hier oben war, sondern irgendwo anders, um eine noch viel teuflischere Schurkerei vorzubereiten, aber ich wischte diesen Gedanken sofort wieder beiseite.
Wo immer er noch sein konnte, er konnte nirgendwo mehr Schaden anrichten als hier.
Und außerdem wußte ich, daß er da war. Ich glaubte seine Anwesenheit beinahe körperlich zu spüren.
Ich glitt höher, hangelte mich an der Gitterkonstruktion rund um das Umwandlungsaggregat entlang bis dicht unter die Plattform. Paradoxerweise mußte ich jetzt leise sein. Zwar trug das Vakuum keinen Schall, aber das Metall, aus dem der Turm gebaut war, dafür um so besser. Ich durfte nirgends anstoßen, keine Erschütterungen irgendwelcher Art erzeugen, oder Khalid würde mich kommen spüren.
Unterhalb der Plattform gab es dicke, schräg verlaufende Stützstreben, die diese mit dem zylindrischen Aggregat verbanden. Ich hakte mich mit dem linken Knie in einer davon fest und löste dann behutsam die Klebestreifen, mit denen ich den Revolver an meinem Oberschenkelteil befestigt hatte.
Jeder weiß, daß es im Weltraum keinen Sauerstoff gibt und daß man deswegen schlechte Karten hat, wenn man etwa versuchen wollte, sich dort eine Zigarette anzuzünden, mit einem Feuerzeug oder einem Streichholz etwa. Was aber nicht jeder weiß, und was auch viele Leute verblüfft, ist, daß Sprengstoffe aller Art trotzdem hervorragend funktionieren. Auch Schießpulver. Der Grund dafür ist, daß in Schießpulver der für die Explosion benötigte Sauerstoff bereits enthalten ist. Pistolen und Gewehre aller Art kann man deshalb auch im Vakuum problemlos verwenden, vorausgesetzt, man bekommt den Zeigefinger seines Raumhandschuhs in den Abzugsbügel. Der einzige Unterschied ist, daß es bei einem Schuß absolut kein Geräusch gibt.
Ich verwendete einige meiner kostbaren Sekunden darauf, meinen behandschuhten Zeigefinger um den Abzug zu legen, ohne ihn versehentlich zu betätigen. Dann, als ich schußbereit war, griff ich mit meiner freien linken Hand schräg über mich um den äußersten Rand der Plattform, löste mein linkes Bein aus seiner Verankerung und zog mich vorsichtig auf die Kante zu.
Meine Absicht war, über der Umrandung aufzutauchen, Khalid auszumachen und sofort und ohne jede Warnung auf ihn zu schießen, und das so oft wie möglich. Das war natürlich eine völlig vorschriftswidrige, gewissenlose und unfaire Absicht, bar jeden Anstands und jeder Würde.
Und mir war tatsächlich danach, völlig vorschriftswidrig, gewissenlos und unfair zu handeln, ihn unter Verzicht auf jeden Anstand und jede Würde einfach nur zu töten. Ihn zu töten, wie man ein Schwein schlachtet.
Ich glitt um den Rand der Plattform herum, den Revolver schußbereit erhoben, und meine Augen durchbohrten das Ungewisse Halbdunkel der sinnverwirrend komplizierten technischen Einrichtungen darauf. Über mir erhob sich riesig die gewaltige Schüssel aus Drahtgeflecht, eingebunden in ihre kardanische Aufhängung und bereits auf ein Ziel auf der Erde ausgerichtet. Ich sah den klobigen zylindrischen Sensor der lasergesteuerten Feinausrichtung, ich sah Motoren und Antennen und dunkle Geräte, nur Khalid sah ich nirgends.
Einen Moment war ich verwirrt, und eine unklare, nagende Furcht stieg in mir auf, irgend etwas übersehen zu haben, irgend etwas sehr, sehr Wichtiges vergessen zu haben. Wieso war er nicht da? Ich war so sicher gewesen, Khalid hier anzutreffen, und nun war er nirgends zu sehen.
Aber er war da. Urplötzlich tauchte er vor mir auf wie hingezaubert, riesig und überwältigend in seinem schneeweißen Raumanzug Ich sah seinen Schlag nur aus den Augenwinkeln, seinen gewaltigen, wutentbrannten Hieb gegen meine rechte Hand, und da war es schon zu spät. Ein Geräusch wie splitternde Knochen, ein jäh aufflammender, unglaublicher Schmerz durch die Betäubung hindurch, und mein Revolver verschwand in der unendlichen Dunkelheit des Weltraums.
Ich muß aufgeschrien haben, ich weiß es nicht mehr. Um ein Haar hätte ich den Griff der Linken um die Plattformumrandung verloren. Verzweifelt manövrierte ich rückwärts, wollte wieder zurück unter die Plattform, irgendwo einen festeren Halt finden. Die ganze Zeit starrte ich Khalid an, der sich mit einer Hand an einer Stange festhielt, während er mit der anderen am Verschluß seiner Brusttasche herumnestelte. Ich sah sein Gesicht nicht, nur die dunkel glänzende, verspiegelte Hülle seines Raumhelms, aber ich begriff, daß er nach seinem eigenen Revolver suchte. Er hatte ihn zwar mitgenommen, aber in die Tasche gesteckt, weil er nicht damit gerechnet hatte, daß er ihn hier draußen brauchen würde.
In der Schwerelosigkeit kann man sich nicht einfach in Deckung fallen lassen. Ich strampelte verzweifelt mit den Beinen umher auf der Suche nach einer der Streben, die linke Hand nach wie vor um den Rand der Plattform gekrallt. Ich hatte nicht genug Kraft im linken Handgelenk, um mich damit in den Schutz der Plattform zu drücken. Und jetzt hatte Khalid seine Pistole gefunden und herausgeholt, ohne Schalldämpfer diesmal, klein und schwarz und gefährlich, und er richtete sie auf mich. Ich bildete mir ein, die Öffnung des Laufs in der Dunkelheit leuchten zu sehen. Nicht einmal einen Schuß würde ich hören.
Da faßte mein rechter Fuß endlich Halt, stieß unter einen festen Widerstand, und ich winkelte sofort das Bein an und zog mich damit in Sicherheit.
Einen Sekundenbruchteil bevor ich in der Deckung der Plattform verschwand, sah ich noch Mündungsfeuer aus Khalids Pistole aufflammen und sah, wie er von dem unerwartet heftigen Rückstoß zurückgerissen wurde. Aber ich hörte keinen Schuß, hörte keine vorbeipfeifenden Kugeln, nichts dergleichen. Alles vollzog sich in unheimlicher Stille.
Schwer atmend griff ich nach dem nächsten Halt, hangelte mich weiter, auf die andere Seite des Umwandlers. Khalid würde nach mir suchen, und ich hatte keine Waffe mehr.
Ich befühlte meine rechte Hand. Der Schmerz war inzwischen dumpfer Taubheit gewichen. Es sah so aus, als könne ich die meisten der Finger annähernd normal verwenden, nur der Zeigefinger entzog sich meiner Kontrolle, war völlig gefühllos.
Wie hatte er gewußt, daß ich kam? Ich mußte mich trotz aller Vorsicht verraten haben. Offenbar bekam man oben auf der Plattform mehr mit, als ich gedacht hatte.
Ich hielt still, an eine Querstrebe geklammert, und spürte den Vibrationen nach. Tatsächlich. Ich konnte spüren, daß sich jemand langsam umherbewegte, von einem Halt zum nächsten griff – ohne jedoch genau ausmachen zu können, wo er sich befand.
So also hatte er mir aufgelauert. Ich verhielt mich ganz still, versuchte möglichst nur den Kopf zu bewegen. Aber da war nur Dunkelheit, ein dämmriges Durcheinander von dunkel glänzendem Metall, und Myriaden kalter, unbewegt leuchtender Sterne ringsumher.
Mein Blick fiel auf das Aggregat. Ob ich das Aggregat sabotieren konnte? Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Ich hatte ja nicht einmal einen Schraubenzieher dabei.
Unten auf der Erde wanderte ein dunkles, schlafendes Madagaskar vorbei und erinnerte mich daran, daß die Zeit unaufhaltsam verrann. Ich mußte hinauf auf die Plattform. Es war auf einmal ruhig im Gestänge. Wahrscheinlich saß Khalid wieder am Steuerknüppel der Handsteuerung, fest entschlossen, sich nicht durch mich von seinem Vorhaben abhalten zu lassen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fing ich an, wie wild mit den Fäusten auf die umliegenden Stangen einzuschlagen.
Mein rechter Arm schmerzte wie loderndes Feuer, aber ich hangelte mich wieder an einer Stange bis an den Rand der Plattform, während ich unentwegt mit beiden Füßen auf alle Metallteile hämmerte, die ich erreichen konnte. Es war unmöglich, daß er das nicht spürte – der ganze Turm schien mit einem Mal zu beben –, und bestimmt würde es ihn irritieren.
Ich behielt den Rand der Plattform im Auge. Und tatsächlich sah ich ihn kurz darauf schräg links von mir herabschauen, den Revolver schußbereit im Anschlag. Im selben Augenblick schnappte ich mit beiden Händen nach der Umrandung und federte mich nach oben, schreiend vor Schmerz.
Ich bekam einen richtigen Haltegriff zu fassen, bremste meine heftige Bewegung ab und versuchte mich hastig zu orientieren. Der nächste Halt: eine Rohrleitung. Ich hangelte mich weiter, mit zusammengebissenen Zähnen, während mein rechter Arm in Stücke zu brechen schien. Ich mußte Khalid erreichen, ich mußte ihm irgendwie weh tun…
Aber der Pirat hatte sich schon wieder aufgerappelt, ehe ich die Halterung der Energiesenderschüssel halbwegs umrundet hatte, und suchte bereits wieder mit gezückter Waffe die Umgebung ab, in der jemand in einem weißen Raumanzug eine leichte Zielscheibe darstellte.
Und die rote Sonne der japanischen Flagge war direkt über dem Herzen angebracht, wie eine Zielscheibe. Er wußte, daß ich keine Waffe mehr hatte. Er wußte, daß er sich unbefangen bewegen konnte, während ich in Deckung bleiben mußte. Vielleicht wußte er sogar, daß ich verletzt war.
Mein Herz hämmerte wie ein Preßluftbohrer, mein Atem ging keuchend, und der Ventilator meiner Klimaanlage dröhnte auf vollen Touren. Ich schwitzte. Der ganze Anzug schien allmählich vollzulaufen mit meinem eigenen Schweiß, und jede Faser meines Körpers sehnte den Augenblick herbei, in dem ich ihn mir wieder vom Leib würde reißen können.
Die Fasern meines Körpers ahnten nicht, daß die Chancen gerade denkbar schlecht standen, daß dieser Augenblick jemals kommen würde. Da draußen in der sternerfüllten Finsternis schlich jemand umher, der fanatisch entschlossen war, genau das zu verhindern.
Und die Scheibe meines Helms begann zu beschlagen. Der Hersteller dieses Kunststoffes garantierte Beschlagfreiheit bei jeder beliebigen Luftfeuchtigkeit. Ich würde ihn verklagen.
Plötzlich hörte ich ein Knacken in meinen Kopfhörern, und gleich darauf Khalids Stimme, bedrohlich ruhig und gefährlich.
»Leonard? Ich weiß, daß Sie es sind. Ich weiß, daß Sie hier oben sind und daß Sie keine Waffe mehr haben.« Er sprach immer weiter, als wolle er mich einlullen, mit seiner weichen, dunklen Stimme, die ihm bei Frauen bestimmt viel Erfolg eingebracht hatte. Nur daß sie jetzt einen kaum wahrnehmbaren Unterton hatte, der schon dem Wahnsinn gehörte.
»Und Sie wissen, daß Sie keine Chance mehr haben. Ich werde Sie gleich erschießen, Leonard, und Sie können mich nicht aufhalten…«
Er glitt von Halt zu Halt, den Revolver schußbereit.
»Ich weiß, warum Sie heraufgekommen sind, Leonard. Ich weiß, daß Sie mich durchschaut haben, aber ich habe Sie auch durchschaut. Es ist wegen Ihres Sohnes. Es geht Ihnen nicht um die Solarstation und auch nicht um den Heiligen Krieg, es geht Ihnen nur um Ihren Sohn, nicht wahr?«
Ja, Khalid. Und das ist Grund genug.
»Es ist, als wüßte man jemanden in Hiroshima oder Nagasaki, fünf Minuten bevor die Bomben fallen. Sie denken, Sie können es verhindern, Leonard – aber das können Sie nicht.«
Durch die milchig beschlagene Scheibe sah ich das dunkle Glas seines Helms, in dem sich die Sterne und die metallisch graue Solarfläche spiegelten. An jedem Schaltschrank, an jedem Transformator hielt er inne, sicherte, war bereit, auf alles zu schießen, was sich bewegte.
Was er erwartet hatte, war ein Mensch in einem weißen Raumanzug, der versuchte, ihn zu überrumpeln. Was er nicht erwartet hatte, war, daß plötzlich die ganze riesige stählerne Schüssel des Energiesenders herumzuckte, unglaublich schnell und gewaltig, und einer der klobigen Motoren der kardanischen Aufhängung traf ihn vor der Brust mit solcher Wucht, daß der ganze Turm zu zittern schien. Khalid wurde zurückgeschleudert, und der Revolver entglitt seiner Hand, schwebte torkelnd und sich überschlagend durch den freien Raum, driftete so langsam auf den Rand der Plattform zu, daß man dabei zusehen konnte.
Nicht nur zusehen. Ich verließ hastig meinen Platz an der Handsteuerung, über die ich vorhin fast gestolpert war und die ich gerade gegen Khalid eingesetzt hatte. Keuchend hangelte ich mich von Halt zu Halt, von Strebe zu Leitung, auf die dunkel glitzernde Waffe zu, die verlockend wie ein Irrlicht im All taumelte, vor dem unglaublichen Hintergrund der heraufziehenden ostafrikanischen Küste. Ich mußte diesen Revolver einfangen, ehe er ins Nichts entglitt, ich mußte, mußte, mußte…
Khalids unartikulierte Schreie gellten in meinem Kopfhörer, während ich mich vorwärtsarbeitete, auf das dahintreibende Stück Metall zu, das immer nur um Haaresbreite vor meinen gierig greifenden Handschuhfingern herzutanzen schien. Es lockte, wirbelte, und ich berührte es einmal leicht, worauf es keck zurücksprang und seine Drehrichtung änderte. Verzweifelt streckte ich die rechte Hand nach einem neuen Halt aus, immer noch mit zusammengebissenen Zähnen, zog mich näher heran, doch da war das düstere Ding schon wieder ein Stück weiter weg, wieder um eine winzige Spanne außerhalb meiner Reichweite. Ich glaubte wahnsinnig zu werden. Leben und Tod hingen davon ab, daß ich an diese Waffe kam, Leben und Tod von Millionen, Leben und Tod meines
Sohnes, und mein eigenes Leben noch dazu, und ich bekam sie einfach nicht zu fassen.
Der Schlag traf mich mit der Wucht einer heranrasenden Lokomotive. Im ersten Moment wußte ich nicht, wie mir geschah; ich krallte mich nur aufstöhnend irgendwo fest, während mich dieses gewaltige Gewicht in den Rücken traf und mir die Luft aus den Lungen preßte. Dann begriff ich, daß es Khalid war, der da auf mich losging wie ein wütender Stier. Er hatte mich von hinten angesprungen, umklammerte meinen Brustkorb und hieb mir auf meinen ausgestreckten rechten Arm. Ich zog ihn aufheulend vor Schmerz zurück. Dann sah ich, daß er selber versuchte, nach dem Revolver zu greifen.
Mit aller verbliebenen Kraft warf ich mich zurück, drehte und wand mich in seinem Klammergriff in dem verzweifelten Bemühen, ihn daran zu hindern, die Waffe zu erreichen. Aber Khalid hatte Bärenkräfte. Er hockte auf mir wie ein böser Dschinn, und seine Arme schienen um das Wenige länger zu sein, das den meinen gefehlt hatte. Ich sah seine Fingerspitzen das schwarze Metall berühren, das schwerelos traumtänzerisch vor uns schwebte. Sein ausgestreckter Zeigefinger berührte den Lauf des Revolvers, und ihm schien die schwebende Waffe nicht ausweichen zu wollen. Ich hörte ihn triumphierend keuchen, als er zugriff…
In diesem Augenblick ließ ich meinen Halt los und warf mich nach vorne, genau in die entgegengesetzte Richtung, und damit überraschte ich Khalid vollkommen. Seine ausgestreckte Hand schlug gegen den Revolver und stieß ihn damit endgültig hinaus in die unendliche Schwärze. Er gab etwas von sich, von dem ich nur wußte, daß es sich dabei um die unflätigsten arabischen Flüche handelte, wenn ich auch nie gelernt hatte, was sie bedeuteten.
Doch er zögerte nicht lange. Nachdem der Revolver auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, ging er daran, mich mit bloßen Händen umzubringen, und er machte seine Sache nicht schlecht. Er griff nach meinem Hals – offenbar war mich zu erwürgen das erste, was ihm in den Sinn gekommen war –, doch dort schützte mich der metallene Aufsatzring des Raumhelms. Aber er bekam meinen Helm zu fassen und begann, ihn mit wütender Kraft gegen den nächsten harten, kantigen Widerstand zu schmettern.
Raumhelme sind innen gepolstert, so daß mir das nicht weh tat, aber ich begann zu befürchten, daß der Hersteller des Helms in bezug auf dessen absolute Bruchfestigkeit vielleicht genauso übertrieben haben mochte, wie er es in bezug auf die Beschlagsicherheit bereits getan hatte. Es gelang mir, mich Khalids Griff zu entwinden und ihn seitlich zu unterlaufen, und während er taumelte und hastig nach dem nächsten Halt griff, sprang ich ihm auf den Rücken und fing an, an seinen Sauerstoffleitungen zu reißen. Ein panischer Schrei gellte in meinen Kopfhörern, und ich verstand ihn nur allzu gut: rings um uns herrschte völliges Vakuum, vollständige Luftleere – wenn es mir gelang, auch nur ein winziges Loch in seinen Raumanzug zu reißen, dann war es unweigerlich um ihn geschehen.
Ein mörderischer Zweikampf entbrannte. Verblüfft stellte ich fest, daß ich Khalid, was den Ringkampf in der Schwerelosigkeit anbelangte, weit überlegen war: die zahlreichen Schäferstündchen mit Yoshiko hatten meine Gewandtheit und meinen Orientierungssinn besser geschult, als ein jahrelanges hartes Training es vermocht hätte. Ineinander verkeilt umherzuschweben, sich zu winden, den anderen festzuhalten, wegzustoßen – all das hatte ich schon oft und ausgiebig praktiziert, nur daß wir damals die Lust des anderen im Sinn gehabt hatten und nicht seinen Tod.
Khalid warf sich zurück, um mich gegen eine Strebe zu schmettern, doch da war ich schon neben ihm, packte seinen Arm und verdrehte ihn im Gelenk. Khalid schrie auf. Seine Schreie klangen mittlerweile wie Musik in meinen Ohren. Er riß sich los, versuchte einen schwerfälligen Ringergriff, doch ich drehte mich mit einem Sprung, der unter normaler Schwerkraft unmöglich gewesen wäre, mühelos wieder heraus. Und wieder widmete ich mich seinen Sauerstoffleitungen, riß und zerrte daran mit all der bluthungrigen Wut, die die letzten Tage in mir aufgestaut hatte. Ich riß daran für Neil, ich riß daran für Oba, ich riß daran für Professor Yamamoto – doch was die Stabilität der Raumanzüge anbelangte, schien der Hersteller mit seinen kühnen Behauptungen sogar noch untertrieben zu haben; ich bekam keinen der Schläuche ab.
Aber eigentlich, schoß es mir durch den Kopf, war es auch nicht unbedingt nötig, Khalid zu töten. Unter uns, in jenem schmalen morgenhellen Spalt am Rand der kilometergroßen betongrauen Scheibe, kam das Rote Meer in Sicht. Ich war ihm wenn auch nicht kräftemäßig, so doch aufgrund meiner Erfahrung und Geschicklichkeit überlegen, ich brauchte ihn nur so lange in Schach zu halten, bis wir Mekka passiert hatten, dann war Khalids Spiel, das Spiel des neuen Propheten Abu Mohammed, verloren. Dann würde das teuflische Wunder nicht stattfinden, und Neil würde leben…
Da riß sich Khalid los, schnellte auf den Rand der Plattform zu und schwang sich um den Rand herum auf die Unterseite. Ich setzte ihm nach, ohne zu zögern; es herrschte Schwerelosigkeit, und ob wir auf der der Solarstation zugewandten Seite der Plattform miteinander rangen oder auf der stationsabgewandten Seite, das war ein und dasselbe.
Er hangelte sich hastig durch das Gewirr der schräg verlaufenden Stützstreben; ein Mann auf der Flucht. Ich setzte ihm nach, holte ihn ein und wollte mich gerade erneut auf ihn stürzen, als er plötzlich herumfuhr, die rechte Hand zu einer weiten, bedrohlichen Bewegung nach oben reißend. Ich sah, was er in der Hand hielt, und mir gefror das Blut in den Adern.
Er mußte es die ganze Zeit bei sich getragen haben, in irgendeiner seiner Taschen, und erst jetzt war er dazu gekommen, es herauszuholen. Und er würde mich damit töten. Alles in mir war starr vor Verzweiflung, und eine blinde, heiße Panik stieg wie kochendes Wasser aus meiner Magengrube auf, nur Flucht! Flucht! signalisierend, doch ein Teil meines Verstandes, der kühl und leidenschaftslos blieb und es immer bleiben würde, wußte, daß mein Schicksal besiegelt war. Ich konnte versuchen, es hinauszuzögern; wenn ich mich geschickt anstellte, konnte ich ihn lange genug aufhalten, um Mekka zu retten, und damit meinen Sohn. Vielleicht. Aber mich selber würde ich nicht retten können.
Im kalten, gleichgültigen Licht der Sterne, die uns umgaben, glänzte die Klinge eines Messers.