»Die denken nicht daran, die Selbstzerstörung auszulösen«, grollte Moriyama erbittert, als der Radarreflex den Achtzehn - Kilometer-Radius passierte, und der Tonfall, in dem er das sagte, ließ keinen Zweifel an dem Maß der Verachtung, das er für die stümperhaften Kontrolleure des näher kommenden Flugkörpers empfand.
Wir hatten uns alle um den Radarschirm geschart und starrten den hellen weißen Fleck darauf mit einer Intensität an, als könnten wir seine Flugbahn allein durch die geballte Kraft unserer Gedanken beeinflussen.
»Wir sollten Raumanzüge anziehen und alle Schotten bereitmachen«, schlug Tanaka nervös vor.
»Und dann?« fragte Moriyama grimmig. »Wenn uns dieser Koloß trifft und die Station zerlegt, was machen wir dann? Ohne Funkverbindung?«
Kim stieß plötzlich einen kieksenden Schrei aus, der unter anderen Umständen komisch gewirkt hätte. »Die Montageplattform!« rief er aufgeregt. »Warum nicht ihm entgegenfliegen mit der Montageplattform, ihn anpacken und aus der Bahn drängen? Schon geringe Abweichung wird ihn nur Solarfläche durchschlagen lassen, und das ist reparierbar…«
»Ikimasho! Worauf warten Sie?« unterbrach ihn Moriyama ungeduldig. »Rasch, stellen Sie fest, ob die Fernsteuerung funktioniert.«
Kim paddelte mit hektischen Bewegungen zu dem entsprechenden Schaltpult mit der Fernsteuerung, schnallte sich an und drückte in rascher Folge eine Reihe von Tasten. Auf dem Bildschirm vor ihm erschien eine Kopie des Radarbildes. »Ja!« rief er. »Fernsteuerung funktioniert.«
»Dann fliegen Sie los!«
Die Montageplattform war eine Art Weltraum-Lastwagen. Sie bestand aus einer Trägerplattform, auf deren Oberseite alle möglichen Befestigungsvorrichtungen für Bauteile jedweder Gestalt angebracht waren, ferner eine rundum bewegliche Beobachtungskamera, die ihr Bild an die Fernsteuerung übertrug, und zwei fernlenkbare Manipulatorarme. Die Plattform verfügte über eine Reihe verschiedener Steuertriebwerke; extrem schubschwache, simple Gasventile für feinste Bewegungen, aber auch stärkere Verbrennungstriebwerke für rasches Fortkommen mit größeren Lasten. Genau diese Triebwerke schaltete Kim jetzt ein. Genau betrachtet, war die Plattform das ideale Instrument für diesen Job.
Vorausgesetzt, sie erreichte die Raketenstufe rechtzeitig.
Auf dem Radarschirm war jetzt ein zweiter Punkt in Bewegung. Auch hierfür berechnete der Computer die voraussichtliche Flugbahn, und diese Linie erlaubte es Kim, die Plattform zielstrebig auf Kurs zu bringen.
»Abstand sechzehn Kilometer.«
»Schneller, Kim«, mahnte Moriyama nervös.
Kims Finger flogen über die Tastatur, um den Computer dazu zu bewegen, eine geschwindigkeitsoptimale Annäherung an die Raketenstufe zu berechnen. Auf dem Schirm erschien in dunkelblauer Farbe eine andere, gebogene Flugbahn für die Plattform: sie beschleunigte, würde bald wieder abbremsen und mit computergenau berechnetem Vorhalt auf die ARIANE treffen. Der Treffpunkt würde in neun Kilometern Entfernung liegen. Kim bestätigte den Vorschlag, und die Farbe der geplanten Flugbahn wechselte von dunkelblau zu hellgrün. »Okay«, meinte er. »Wir schaffen es.«
Hier und da war ein verstohlenes Aufatmen zu hören, aber niemand wagte es, wirklich erleichtert zu sein. Wir starrten weiterhin gebannt auf die Radarschirme und verfolgten die Bewegungen der beiden hellen Punkte, als hinge unser Leben davon ab. Höchstwahrscheinlich hing unser Leben ja tatsächlich davon ab.
Moriyama sah sich um und fragte dann, an Tanaka gerichtet: »Wo ist Sakai?«
»Noch im Labor, etwas ausprobieren.«
Moriyama beugte sich zur Bordsprechanlage.
»Sakai, sollten Sie in den nächsten fünf Minuten imstande sein zu senden, dann rufen Sie bitte zuallererst Kourou und sagen ihnen, sie sollen ihren verdammten Satelliten sprengen.«
»Hai«, kam Sakais Antwort. »Aber rechnen Sie lieber nicht damit.«
Kim starrte mit bebenden Lippen auf seinen Bildschirm, auf dem der Leuchtpunkt, der die Plattform kennzeichnete, gerade in die Bremsphase überging. »Es klappt.«
Yoshiko verkündete weiterhin die Annäherung der Raketenstufe, mit einer Stimme, die plötzlich staubig und kehlig klang. »Abstand zwölf Kilometer.«
Die Plattform folgte immer noch unbeirrbar ihrem vorausberechneten Kurs. Die Bewegung fester Körper in der Schwerelosigkeit und im Vakuum, also ohne Reibung, ohne Luftwiderstand und ohne sonstige schwer kalkulierbare Einflüsse läßt sich mit einer Genauigkeit vorherbestimmen, die immer wieder erstaunlich ist.
»Wir sollten trotzdem Raumanzüge anlegen«, meinte Moriyama halblaut zu seinem Stellvertreter Tanaka. »Und wir müssen Jayakar freilassen; wir haben festgestellt, daß er unschuldig sein muß.«
»Tatsächlich?« wunderte sich Tanaka und riß die Augen auf. »Wie das?«
»Erkläre ich Ihnen nachher.«
»Abstand zehn Kilometer«, verkündete Yoshiko.
Die beiden hellen Punkte waren einander jetzt schon sehr nahe. Auf einem anderen Bildschirm war ein vergrößerter Bildausschnitt zu sehen, und man konnte gut verfolgen, wie die Plattform ihre Geschwindigkeit an die der ARIANE-Stufe anglich und behutsam näher glitt. Kim legte die Hand lauernd auf eine breite Taste. Auf seinem Bildschirm erschien jetzt ein Countdown, der den restlichen Abstand herunterzählte. Noch zwanzig Meter… noch zehn Meter… noch fünf Meter… noch einen Meter… Die Automatik der Plattform griff in diesem Augenblick mit den Greifarmen nach dem einzufangenden Objekt.
»Kontakt!« rief Kim triumphierend in dem Augenblick, in dem er seine Taste drückte.
»Abstand neun Kilometer«, erklärte Yoshiko.
»Kim, Sie sind ein Genie«, stieß Moriyama hervor. »Und jetzt – werfen Sie den verdammten Burschen aus seiner Bahn.«
»Aye, Kommandant«, lächelte Kim und griff nach den Hebeln der Handsteuerung. Eine Reihe von Leuchtbalken, die den wirksamen Schub anzeigten, kletterten rasch in die Höhe und erreichten den roten Bereich. Einige Warnlampen blinkten aufgeregt, aber Kim ignorierte sie.
Eine Weile geschah nichts.
Dann fing die Linie auf dem Radarschirm, die die voraussichtliche Flugbahn der Raketenstufe zeigte, an zu zittern – und verschob sich um eine Winzigkeit zur Seite, so daß sie den Mittelpunkt des Schirms nicht mehr berührte.
Wir stießen unwillkürlich ein Freudengeheul aus. Der europäische Satellit würde mitsamt seiner Trägerstufe zwar immer noch unsere Solarfläche zerfetzen, aber die Station selbst verfehlen. Eine winzige Änderung der Flugbahn, wenige Grad nur, vielleicht nur Bruchteile eines Grades, die über Leben und Tod entschied.
»Abstand acht Kilometer«, verkündete Yoshiko mit einem Seufzer. Einem hinreißenden Seufzer.
»Was meinen Sie, Kim«, fragte Moriyama, »können Sie den Satelliten so weit aus der Bahn drängen, daß er auch unsere Solarfläche verschont?«
Kim verzog das Gesicht. »Schwierig zu sagen. Ich gebe maximalen Schub; das ist alles, was ich tun kann. Lust hätte ich, ihn den ESA-Leuten auf den Kopf zu schmeißen.«
Tanaka verfolgte die Bewegung des Radarreflexes mit skeptischem Gesichtsausdruck. »Hoffentlich kommen sie nicht auf die Idee, ihn zu sprengen, wenn er gerade an uns vorbeifliegt«, murmelte er unbehaglich.
Die vorausberechnete Bahn des Flugkörpers begann ein zweites Mal zu zittern.
»Gut so«, nickte Moriyama. »Je weiter weg, desto besser.«
Das Zittern wurde stärker, dann erlosch die Linie auf dem Schirm und wurde wieder neu gezeichnet. Und diesmal führte sie wieder genau durch den Mittelpunkt des Radarschirms.
»Kim«, fragte Moriyama beunruhigt, »was ist das? Wieso zielt die Flugbahn jetzt wieder auf uns?«
»Ich weiß es nicht, Kommandant«, rief Kim entgeistert. Er ließ eine Reihe schematischer Darstellungen, Übersichten und Kontrollkurven auf dem Bildschirm erscheinen und studierte sie mit fassungslosem Kopfschütteln. »Es sieht so aus, als ob es Gegenschub gibt von der europäischen Rakete.«
»Gegenschub?«
»Ja. Sie korrigiert die Abweichung.«
Kim veränderte die Stellung der Regler, so daß die Schubkraft der Plattform den Satelliten in die entgegengesetzte Richtung zog. Wieder flackerte die Linie, die den vorausberechneten Kurs anzeigte, sprang ein Stück zur Seite, um gleich darauf wieder in die alte Position zurückzukehren.
»Das ist nicht zu fassen«, flüsterte Moriyama ungläubig. »Der Satellit will uns treffen!«
»Abstand… nur noch fünf Kilometer!«
Kim stieß einen Fluch aus. Einen koreanischen Fluch. Niemand von uns sprach Koreanisch, aber jedem war klar, daß es nur ein grober Fluch sein konnte. »In wenigen Augenblicken ist der Treibstoff der Plattform erschöpft«, rief er verzweifelt. »Ich muß die Plattform lösen von der Raketenstufe und sie abbremsen mit den letzten Tropfen, damit sie uns nicht auch noch trifft!«
Seine Händen huschten über Tasten, Hebel und Regler. Auf dem Radarschirm konnten wir verfolgen, wie sich die beiden Leuchtpunkte voneinander lösten und der eine der beiden zurückblieb.
»Kommandant«, mahnte Tanaka, »wir sollten jetzt Raumanzüge anlegen.«
»Ja«, nickte Moriyama verdrossen.
»Abstand – drei Kilometer«, meldete Yoshiko und fügte unsicher hinzu: »Wird langsamer!«
Unsere Köpfe ruckten herum wie von einem unsichtbaren Puppenspieler an unsichtbaren Fäden gezogen.
»Langsamer?« vergewisserte sich Moriyama.
»Ja. Die Raketenstufe verzögert mit einem zwanzigstel Meter je Sekundenquadrat«, las Yoshiko aus der Computeranzeige ab. »Etwas weniger – 0,048.«
»Reicht das?«
Der Computer nahm die Antwort vorweg. Die vorausberechnete Flugbahn zielte zwar immer noch auf das Zentrum des Radarschirms, aber sie endete kurz davor.
»Ja. Wenn sie konstant weiter verzögert, wird sie zum Stillstand kommen, ehe sie uns erreicht.«
Es waren qualvolle Minuten, während derer wir auf den Radarschirm und auf die Anzeigen des Raumüberwachungscomputers starrten, auf unerträglich langsam fallende Zahlen, auf unsagbar zäh absinkende Kurven, auf einen blaß schimmernden Fleck, der langsamer und langsamer wurde und doch nicht zum Stillstand kommen wollte.
»Abstand zweitausend Meter. Geschwindigkeit noch achtundvierzig Stundenkilometer.«
Tanaka zischelte nervös durch die geschlossenen Zähne. »Sie scheinen es doch noch gemerkt zu haben.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Moriyama und warf einen prüfenden Blick hinüber zum Kommunikationspult. Der Zähler der eingegangenen und aufgezeichneten Funksprüche stand seit der letzten ESA-Durchsage unverändert. »Womöglich sind das nur Versuche, den Satelliten doch noch auf seine vorgesehene Bahn zu bringen.«
»Abstand eintausendfünfhundert Meter. Geschwindigkeit noch zweiundvierzig Stundenkilometer.«
Kim schüttelte langsam den Kopf. Sein Lächeln war verschwunden; in seinem Gesicht stand nur noch das nackte Entsetzen. »Das reicht nicht…«, flüsterte er.
Je langsamer die ARIANE-Stufe wurde, desto zäher verlief das Abbremsmanöver.
»Sollte die Stufe aufhören abzubremsen, verläßt jeder sofort die Brücke und legt einen Raumanzug an«, verfügte Moriyama. »Abstand tausend Meter. Geschwindigkeit noch dreiunddreißig Stundenkilometer.«
»Mittlerweile ist das Ding so langsam, daß es uns kaum noch Schaden zufügen kann«, überlegte Tanaka.
»Vorausgesetzt«, überlegte Moriyama halblaut, »daß es denen nicht plötzlich einfällt, Vollschub zu geben.«
Jemand schaltete die Außenkameras ein und gab ihr Bild auf den großen Schirm, den normalerweise die Weltkarte zierte. Mit viel Phantasie erkannte man bereits ein ungefähr zylinderförmiges Gebilde, an dem die Flammenstrahlen kleiner Triebwerke arbeiteten.
»Diese ESA-Leute werden was von mir zu hören kriegen«, grollte Moriyama. »Sobald ich wieder ein Funkgerät habe, mach ich sie rund. Keiner von denen, die jetzt gerade in Kourou sitzen, wird jemals wieder eine Rakete aus der Nähe zu sehen bekommen.«
Je näher die ARIANE-Stufe kam, desto deutlicher wurde das Bild. Ich glaubte eine dritte Stufe des Typs Hio zu erkennen, die stärkste und schwerste Oberstufe, die die Europäer besaßen: mit Flüssigwasserstoff und Flüssigsauerstoff angetrieben, war sie in der Lage, bis zu acht Tonnen Nutzlast in einen geostationären Orbit zu bringen, das heißt in eine Umlaufbahn von 36.000 Kilometern Höhe. Allmählich erkannte man das Emblem der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA und verschiedene Aufschriften. Die Stufe trug eine ungewöhnlich langgezogene Nutzlastspitze, ein kegelförmiges Schutzblech, unter dem der eigentliche Satellit sitzen mußte.
Und dann endlich, nach einer schier endlosen Zeit, die erlösende Meldung »Stillstand. Distanz – achtundneunzig Meter.«
Diesmal gab es kein Freudengeheul, nur stille Erleichterung. Ich schloß die Augen und wünschte mir die Ruhe der Wochen zurück, in denen ich geglaubt hatte, unter Langeweile zu leiden. Irgend jemand murmelte leise japanische Worte, die wie ein Dankgebet an die Ahnen klangen.
Ich öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Nutzlastverkleidung abgesprengt wurde. Es gab ein kleines Aufblitzen und ein wenig weißen Rauch, dann trieben drei schalenförmige Teile davon wie die Blätter einer verblühten Blume, die jemand geschüttelt hatte. Ein dunkler, häßlicher Zylinder kam darunter zum Vorschein.
Yoshikos Aufschrei zerriß die Ruhe, die gerade einkehren wollte. »Der Satellit setzt sich wieder in Bewegung!«
Moriyama schoß heran, sah ihr über die Schulter auf den Hauptradarschirm und krallte seine Hand in ihre Schulter, ohne sich dessen bewußt zu werden.
»Ja, sind die denn jetzt vollkommen verrückt geworden…?« Der Satellit kam langsam, aber stetig auf uns zu. Ich starrte auf den großen Bildschirm und konnte kaum glauben, was ich sah. Ich beugte mich vor und schaute genauer hin. Kein Zweifel, an der Spitze des Satelliten – oder was immer es sein mochte – erkannte man die dreiflügligen, unverkennbaren Umrisse einer international genormten Kopplungsvorrichtung. Und das Ding hielt genau auf unsere Hauptandockschleuse zu.
»Die wollen andocken!« entfuhr es mir. »Das ist ein Rendezvous-Manöver!«
»Was reden Sie da, Carr?« fauchte Moriyama.
»Das ist kein Satellit, Sir«, beharrte ich. »Ich wette zehn zu eins, daß das ein bemanntes Raumfahrzeug ist.«
»Ein bemanntes Raumfahrzeug der Europäer? Aber die Europäer haben keine bemannten Raumfahrzeuge.«
»Jetzt haben sie eins.«
»Und warum versuchen sie einfach hier anzudocken, ohne uns etwas davon zu sagen?«
Zwei geschichtsträchtige Ereignisse an einem Tag. Es war kaum auszuhalten.
»Weil das«, sagte ich dumpf, »ein Überfall ist.«