Dieser verdammte Wecker. Irgend jemand mußte ihn heimlich lauter gestellt haben. Und er mußte auch irgend etwas an der Frequenz des Tones gedreht haben, damit das gemeine Piepsen direkt das Zentralnervensystem angriff. Stöhnend und fluchend schaffte ich es, einen Arm aus dem Schlafsack zu kriegen und den akustischen Angriff abzuschalten, ohne ganz wach zu werden.
Eine Weile duselte ich noch schläfrig vor mich hin. Aber die schweren inneren Kämpfe zwischen der Stimme in mir, die der Ansicht war, ich müsse weiterschlafen und die Nacht könne unmöglich schon zu Ende sein, und der Stimme, die unablässig mahnte, ich müsse aufstehen und die Pflicht rufe, ließen mich einfach nicht mehr zur Ruhe kommen. Also gut. Ich stemmte mühsam die Augenlider hoch, öffnete den Reißverschluß des Schlafsacks und fröstelte unter der kühlen Luft, die hereindrang.
Meine Güte, was für ein Brummschädel! Der Pflaumenwein mußte es ganz schön in sich gehabt haben. Wahrscheinlich konnte ich froh sein, daß ich nicht so viel davon abbekommen hatte wie die anderen.
Ich verließ die Kabine und hatte eine Weile regelrechte Orientierungsprobleme in der Schwerelosigkeit. Allerhand. Die Raumfahrtbehörde hatte also doch recht mit ihren Vorschriften.
Im Fitneßraum traf ich Tanaka, der mir nur einen kurzen, gemarterten Blick zuwarf und mich ansonsten keines Wortes würdigte. Wahrscheinlich hatte auch er einen ganz schönen Kater, denn er arbeitete mit fast wütender Besessenheit an den Trainingsgeräten, um die Gifte aus dem Körper zu schwitzen. Ich fühlte mich zwar absolut nicht in Trainingsstimmung – eher danach, mich stöhnend in den Schlafsack zurückzuziehen und bis Mittag zu schlafen –, aber ich beschloß mich zu zwingen, es ihm gleichzutun. Ich begann mit einem längeren, gemächlichen Dauerlauf auf dem Laufband, dessen Vorläufer schon den Spacelab-Astronauten gute Dienste geleistet hatte, und nachdem Tanaka in der Dusche verschwunden war, wechselte ich an die Bodybuildingmaschinen und quälte meine schmerzenden Muskeln mit einem vollen Durchgang durch alle Übungen: Butterfly, Bizepscurl, Trizepsdrücken, Latissimusziehen, Bauchmuskelübungen, Beincurls, Beindrücken – no pain, no gain. Es schien sogar zu helfen, zumindest bildete ich mir das ein. Nach der letzten Übung glühte mein Körper und pulsierte bis in die letzte Faser, und ich hatte das übliche ausgelassene Gummiball-Gefühl, das einen befiel, wenn man nach den anstrengenden Muskelübungen wieder schwerelos durch die Gegend schwebte. Und Tanaka hatte sich beeilt; die Dusche war schon wieder frei. Vielleicht würde heute doch noch ein guter Tag werden.
Als ich in den Gemeinschaftsraum kam, herrschte auch dort ziemliche Katerstimmung. Moriyama saß am Tisch und kaute lustlos an seinem Frühstück, Oba war eben fertig geworden, und Kim und Tanaka drängelten sich in der Küche. Ich wünschte einen guten Morgen, der muffig erwidert wurde, und gesellte mich hinzu.
Schon vor mehreren Jahren hatte eine Kommission von Ernährungswissenschaftlern im Auftrag der NASDA das ideale Raumfahrerfrühstück entwickelt, das sich durch eine gute Transportbilanz und hohen Gehalt an Vitaminen, Ballaststoffen und anderen wertvollen Bestandteilen auszeichnete und seither schlicht und einfach Vorschrift war. Es handelte sich um Weizen, der am Vorabend geschrotet und zusammen mit Rosinen und gehackten Nüssen über Nacht in Wasser eingeweicht wurde. Morgens wurde der eingeweichte Weizenschrot mit einem Mus aus geriebenen Äpfeln, etwas Traubensaft, etwas Zitronensaft, ein wenig Gelatine und einer bestimmten Menge einer komplizierten Mineralienmischung vermengt. Das Ganze war eine regelrechte Vitaminbombe, ein Segen für den geregelten Stuhlgang – unter Bedingungen der Schwerelosigkeit konnte Durchfall zu einem persönlichen Trauma ausarten – und klebte überdies von selbst in der Schüssel, so daß man es fast ganz normal mit einem Löffel essen konnte.
Heute morgen schien es niemandem besonders zu schmecken. Und ein Gespräch wollte auch nicht so recht in Gang kommen. Jay tauchte auf, mit übernächtigten, rotgeränderten Augen und zerstrubbeltem Haar. »Hat jemand Iwabuchi gesehen?« wollte er wissen.
Allgemeines Kopfschütteln. »Er wird noch schlafen«, brummte Tanaka.
»Nein, in seiner Kabine ist er nicht«, sagte Jay. »Da komme ich gerade her.«
»Er wird schon arbeiten«, meinte Kim, dessen Lächeln heute morgen auch etwas bemüht wirkte.
»Im Labor ist er auch nicht«, schüttelte Jay den Kopf und fuhr sich zerstreut mit den gespreizten Fingern durch die Haare, als ändere das etwas an seiner katastrophalen Frisur. »Ich finde ihn einfach nicht. Könnten Sie ihm etwas ausrichten, wenn Sie ihn sehen?«
Es war nicht ganz klar, wen er damit ansprach, aber Kim sagte bereitwillig: »Gerne. Was soll ich ihm sagen?«
»Daß ich mich noch ein wenig schlafen lege. Wir hatten uns heute morgen verabredet, aber ich hatte die zweite Nachtwache und bin davor nicht zum Schlafen gekommen, habe also die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und jetzt bin ich absolut nicht in der Verfassung, irgendwelche Software zu analysieren.«
»Das werde ich ihm ausrichten«, versicherte Kim.
»Cotto matte ne«, schaltete sich Moriyama ein. »Wie war das? Sie hatten sich heute morgen verabredet, und jetzt finden Sie Iwabuchi nicht?«
Jay sah den Kommandanten an und nickte. »Ja. Als wir es ausmachten, war mir nicht gegenwärtig, daß ich zur Nachtwache eingeteilt war und…«
»Sie waren in seiner Kabine?«
»Ja.«
»Und im Labor unten?«
»Ja.«
Moriyama rieb sich die verquollenen Augen. »Das gibt es doch nicht. So groß ist die Station doch wahrhaftig nicht, als daß man sich darin verlaufen könnte.« Er drehte sich zur Bordsprechanlage um, die hinter ihm an der Wand montiert war, und drückte den roten Knopf, der einen Rundspruch über alle Geräte der Station auslöste. »Hier spricht Moriyama. Iwabuchi, bitte melden Sie sich umgehend im Gemeinschaftsraum.«
Gespannte Stille. Jeder hatte aufgehört zu essen und sah Moriyama und die Sprechanlage an. Nichts rührte sich. Jay rieb sich nervös die rechte Seite des Halses.
Moriyama wiederholte den Rundspruch.
Die kleine Empfangsleuchte an der Sprechanlage blieb dunkel. Moriyama warf mir einen kurzen Blick zu, nur einen Wimpernschlag lang, aber ich wußte, was er mir damit sagen wollte.
Da war sie wieder, die Staubwolke am Horizont. Der Geruch von Gefahr.
»Wir müssen ihn suchen«, ordnete Moriyama an. »Es muß ihm etwas zugestoßen sein. Jayakar und Tanaka, Sie beide nehmen sich bitte das Maschinendeck vor. Oba, bitte wecken Sie Yoshiko und durchsuchen Sie das Labordeck. Kim, Sie prüfen bitte nach, ob ein Raumanzug fehlt. Und Sie, Mister Carr, kommen bitte mit mir auf die Brücke.«
Die anderen eilten davon, und ich schob rasch noch einen Bissen in den Mund. Aber Moriyama schien es nicht so eilig zu haben. Er bedeutete mir mit einer Geste, zu warten, bis wir allein im Gemeinschaftsraum waren, und fragte dann mit gedämpfter Stimme: »Sie haben Iwabuchi gestern nachmittag beobachtet?«
»Ja«, sagte ich. Ich berichtete ihm kurz von der Unterhaltung zwischen Jayakar und Iwabuchi, die ich belauscht hatte.
»Ano ne«, machte Moriyama und wiegte eine Weile nachdenklich das silberne Haupt. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, und er begann sich loszuschnallen. »Ikimasho. Kommen Sie.«
Wir begaben uns in die Steuerzentrale. Sakai war gerade damit beschäftigt, ein paar routinemäßige Checks zu machen, doch Moriyama unterbrach ihn barsch: »Gehen Sie ins Maschinendeck und helfen Sie den Leuten dort, Iwabuchi zu finden.«
Sakai bekam große Augen. »Iwabuchi?«
»Er ist verschwunden«, erklärte der Kommandant ungeduldig. »Machen Sie sich auf den Weg, und das schnell, wakarimas?«
Sakai nickte hastig, stopfte seine Checkliste hinter die nächstliegende Halteklammer und machte, daß er fortkam. Das Schott hatte sich kaum hinter ihm geschlossen, als sich Kim meldete. Die Raumanzüge seien vollzählig, es fehle keiner.
»Danke«, sagte Moriyama und schaltete ab. Dann sah er mich an. »Verstehen Sie das, Leonard?«
»Nein«, sagte ich.
Moriyama hangelte sich zum Bildschirm des Bordüberwachungscomputers und meldete sich mit dem Kommandanten-Paßwort an. Er tippte sich durch ein paar Menüs, die ein normalsterblicher Computerbenutzer niemals zu sehen bekam, und holte schließlich das Protokoll der Schleusendurchgänge auf den Schirm.
»Keine Schleusenaktivität heute nacht«, konstatierte er halblaut. »Er kann die Station nicht verlassen haben.«
Ich schwieg.
»Natürlich nicht«, sagte Moriyama zu sich selbst. »Ohne Raumanzug.«
Der Geruch der Gefahr.
»Und was sollte er draußen anstellen?«
Die Staubwolke am Horizont, die näher kam und näher und näher.
»Tanaka hier.« Die Bordsprechanlage. »Im Solarenergiemodul und im Bordversorgungsmodul ist er nicht. Wir durchsuchen jetzt das Erdbeobachtungslabor.«
Ich stieß mich mit den Fingerspitzen ab, glitt langsam und lautlos zum Schott. Es fuhr bereitwillig vor mir auf. Moriyama beachtete mich nicht. Ich verließ die Brücke, und das Schott schloß sich hinter mir wieder.
Im Knotentunnel war es ruhig. Vom Maschinendeck hörte ich, weit entfernt, die Stimmen der anderen. Und aus meinem Inneren hörte ich eine rostige Stimme, die von Gefahr flüsterte und von Blut und von Angst…
Ich hangelte mich hinüber ins Wohnmodul. Der Gemeinschaftsraum lag verlassen, die Frühstücksschüsseln standen noch auf dem Tisch. Ich räumte sie ab, ehe das Schrot trocknen konnte und anfing zu fliegen. Ich räumte sie ab, weil das meine Pflicht war. Ich räumte sie ab, weil das eine Möglichkeit war, die Konfrontation mit dem Unvermeidlichen noch ein wenig hinauszuzögern.
Dann durchquerte ich den Gemeinschaftsraum und glitt in den Gang dahinter, in dem die Kabinen lagen. Hier war es jetzt ganz still. Die komfortabelsten Kabinen lagen am Ende des Gangs; Kommandant Moriyama hatte die linke und der stellvertretende Kommandant Tanaka die rechte. Iwabuchis Kabine war die zwischen Moriyamas Kabine und der Toilette.
Ich glitt näher und öffnete die Tür.
In der Kabine herrschte das übliche Halbdunkel. Der Schlafsack hing schlaff und leer da, und ansonsten war die Kabine nicht so groß, daß man darin irgend jemanden hätte übersehen können.
Aber der Geruch der Gefahr blieb.
Ich schaltete das Licht ein, und plötzlich sah der schlaffe Schlafsack gar nicht mehr so leer aus. Mit spitzen Fingern zog ich den Reißverschluß herunter. Die Stoffbahnen teilten sich von selbst, und Iwabuchi schwebte mir entgegen, zusammengekrümmt und mit weit aufgerissenen Augen und mit drei blutigen Löchern in der Brust.