Das Büro des Kommandanten war ein kleiner Verschlag am Ende des Stationsmoduls, das die Steuerzentrale beherbergte. Hier erledigte er die Verwaltungsarbeit, die mit der Führung der Raumstation verbunden war. Man hätte nur mit Mühe zwei Telefonzellen aus dem Raum machen können, so eng war er, und die Wände waren übersät mit Papieren, festgeklammerten Ordnern, Übersichtstafeln und engbekritzelten Faxmeldungen, alle mit Magneten festgepinnt. Ein kleiner Schreibtisch war an der Wand befestigt, und daneben ein ganz normaler Personalcomputer mit flachem Bildschirm, Kanji-Tastatur und einem Tintenstrahldrucker.
»Nehmen Sie Platz«, sagte Moriyama.
Er hatte zwei ›Hühnerstangen‹ in seinem Büro, wie wir die dünnen Plastikgestelle nannten. Sie waren ebenfalls magnetisch am Boden verankert und hatten kleine Sitzkissen am oberen Ende, auf denen man sich mit den Karabinerhaken seines Bordanzugs festzurren konnte. Auf diese Weise wurde das Becken fixiert, und für Schreibarbeiten oder beim Essen war dies eine angenehme und bequeme Körperhaltung.
Ich schnallte mich also fest und erwartete eine Standpauke wegen meines ungezügelten Sexuallebens.
»Mister Carr«, begann Moriyama, der sich gleichfalls festgeschnallt hatte, »Sie erinnern sich sicher, daß Sie hier an Bord als Maintenance and Security Operator angestellt sind.« Er sah mich nicht an dabei.
»Ja«, sagte ich. Maintenance Operator – das war die beschönigende Umschreibung für den Job eines Hausmeisters. Meine Aufgabe war es, alles sauber und in Schuß zu halten. Keine leichte Arbeit und auch keine unwichtige, aber daß sie auch nur annähernd so angesehen war wie die irgend eines anderen Crewmitglieds, davon konnte keine Rede sein. Ich war die Putzfrau, basta.
»Ich spreche hier mit Ihnen«, fuhr der Kommandant fort, »in Ihrer Eigenschaft als Sicherheitsbeauftragter.«
Ich nickte nur noch. Jetzt kommt es, dachte ich, und meine Zunge schien plötzlich ausgetrocknet und am Gaumen festgewachsen zu sein.
»Ich glaube, es ist Sabotage«, sagte Moriyama.
Zuerst verstand ich überhaupt nicht, wovon er sprach. »Wie bitte?«
»Sabotage«, wiederholte der Kommandant. »Wir haben alle technischen Möglichkeiten durchprobiert, und es ist noch nicht einmal ein Anhaltspunkt für einen Fehler aufgetaucht. Die Steuerung der Energieübertragung hat lange Zeit funktioniert, und jetzt funktioniert sie nicht mehr. Ich denke, jemand hat sie sabotiert.«
Ich mußte erst einmal erleichtert aufatmen, ehe ich etwas sagen konnte. Ich war wirklich darauf gefaßt gewesen, mir höchst unangenehme Ermahnungen wegen meiner Affäre mit Yoshiko anhören zu müssen; Ermahnungen, in denen die Worte Pflichtvergessenheit und Unpünktlichkeit und dergleichen vorgekommen wären. Dann wurde mir bewußt, wie lächerlich meine Erleichterung war im Vergleich zu dem ungeheuerlichen Verdacht, den Moriyama gerade geäußert hatte.
»Aus welchem Grund sollte jemand unsere Versuche zur Energieübertragung sabotieren wollen?« fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Ano ne«, brummte Moriyama überrascht. »Da kann ich mir eine ganze Menge Gründe vorstellen. Wußten Sie, daß es bereits zwei Bombenattentate auf unser Versuchsgelände auf Hawaii gegeben hat? Natürlich kann man nichts beweisen, aber alles deutet darauf hin, daß hinter den Anschlägen dieser Verein seniler Schwachköpfe steckt, der sich Gemeinschaft erdölexportierender Staaten nennt und der immer noch nicht begriffen hat, daß in fünf bis zehn Jahren sein letztes Faß Öl abgefüllt sein wird.«
»Sie glauben, daß die OPEC uns einen Agenten an Bord geschickt hat?«
»Oder eine der Erdölgesellschaften. Denken Sie nur einmal daran, was alles an dunklen Machenschaften ans Licht kam, als die Exxon Corporation in Konkurs ging. Ich glaube nicht, daß die Konkurrenz besser ist. Wenn unser Konzept funktioniert, dann bricht das Solarzeitalter an, und das bedeutet das sichere Ende für jede Art von Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen. Mit anderen Worten, das sichere Ende für Shell, British Petroleum, Mobil, Texaco…«
»… Nippon Oil…«, warf ich ein.
»Das ist etwas anderes«, wies mich Moriyama zurecht. »Die japanische Industrie hat immer langfristig gedacht, die westliche dagegen immer nur bis zum nächsten Quartalsabschluß. Wäre es anders gewesen, wäre eine Raumstation wie diese schon vor zehn Jahren gebaut worden, und zwar unter der Regie aller amerikanischen Energieerzeuger.«
Ich nickte.
Ich sah Moriyama an, wie er da saß und auf ganz unjapanische Art die Dinge beim Namen nannte. Er mußte an die fünfzig Jahre alt sein, und sein Haar begann schon an vielen Stellen weiß zu werden. Auf eine natürliche Weise strahlte er Autorität aus, und er war der einzige an Bord, mit dem ich mich auf der Erde gern in irgendeiner Kneipe getroffen hätte, um über die Welt und das Leben zu diskutieren. Er hatte mir einmal erzählt, daß er ein paar Jahre in Santa Barbara, Kalifornien, studiert hatte, und wir hatten herausgefunden, daß wir uns im Sommer 1990 zur gleichen Zeit im Flughafen von San Francisco aufgehalten haben mußten. Er war damals zurück nach Japan geflogen, ich dagegen nach Kansas City, um mich von meinen Eltern zu verabschieden. Damals war ich Kampfflieger der US Air Force gewesen, und ich hatte einen Befehl in der Tasche getragen, der mich in die Wüste von Saudi-Arabien beorderte, zu einer Operation namens Desert Shield…
»Davon abgesehen«, fuhr er fort, »kann ich mir auch politische Gründe vorstellen. In Ihrem schönen Heimatland zum Beispiel gibt es viele Leute, die den Weltraum als amerikanisches Territorium betrachten. Grundsätzlich sind sie zwar dafür, daß die Menschen das All erobern, aber sie haben etwas dagegen, daß diese Menschen Schlitzaugen haben.«
Ich hob die Augenbrauen. »Dann müßten Sie eigentlich mich verdächtigen.«
Er sah mich an und lächelte. »Sie sind es nicht.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Dai rokkan«, sagte er und klopfte sich mit dem Zeigefinger auf den Nasenflügel. »Spürnase. Sechster Sinn.«
Nun gut, was mich anbelangte, trog ihn sein sechster Sinn durchaus nicht. Ich ließ die Gesichter der Crew vor meinem inneren Auge Revue passieren. »Gibt es jemanden, den Ihr dai rokkan im Verdacht hat?« fragte ich.
»Leider nicht. Bisher kann ich mich dem Problem nur auf rationale Weise nähern.« Und das war ihm nicht geheuer. Japaner legen sehr viel Wert auf ihre Intuition. Schlußfolgerungen, die auf rein logischem Weg zustande kommen, stehen sie sehr mißtrauisch gegenüber.
Moriyama zog einen Ordner aus seinem Halteclip und schlug ihn auf. Darin war der Schichtplan eingeheftet. »Die Pannen fingen am vierten Tag nach dem Rückflug des letzten Shuttles an. Seither ist keine einzige Energieübertragung mehr geglückt. Was die Frage aufwirft, ob es etwas mit diesem Schichtwechsel zu tun hat.« Die Raumstation wurde alle zwei Monate von einem Spaceshuttle angeflogen, das neue Vorräte brachte, neue Geräte für die wissenschaftlichen Versuche, und die Ablösung für ein Drittel der neunköpfigen Mannschaft.
»Mit dem letzten Shuttle kam zum Beispiel Sakai.« Moriyama sah mich an und seufzte. »Ein merkwürdiger Mensch. Er versteht alles von Kommunikationstechnik, aber von allem anderen scheint er nicht die geringste Ahnung zu haben, und außergewöhnlich schwer von Begriff ist er außerdem. Ich frage mich manchmal, wie er die psychologischen Eignungstests bestanden hat.«
Ich versuchte, mir Sakai vorzustellen, wie er im Maschinendeck umherschlich und raffinierte Manipulationen an den Steuerungsautomaten vornahm, aber es gelang mir einfach nicht.
»Iwabuchi kam auch mit dem letzten Shuttle«, fuhr Moriyama fort. »Und das ist ja nun der genialste Techniker, den ich je gesehen habe. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, aus welchem Grund, aber er könnte es bewerkstelligen, daß die Steuerung nicht mehr funktioniert.«
Ich blickte auf den Schichtplan. Der dritte neue Name, der dort stand, war Yoshiko Matsushima.
»Aber selbstverständlich ist jeder andere auch verdächtig«, meinte der Kommandant. »Die zeitliche Übereinstimmung mit einem Schichtwechsel kann Zufall sein, oder ein Ablenkungsmanöver.«
»Wenn es Sabotage ist«, gab ich zu bedenken, »dann könnte es auch sein, daß uns einer der drei, die beim letzten Schichtwechsel von Bord gingen, das faule Ei hinterlassen hat.«
Moriyama starrte eine Weile nachdenklich auf das Blatt Papier vor sich. Dann klappte er den Ordner zu und stellte ihn neben sich in die Luft, wo er schweben blieb, unmerklich langsam in Richtung Tür driftend.
»Mir wäre es auch lieber, wenn ich nur Gespenster sähe, Leonard«, sagte er. »Trotzdem – ich habe das Gefühl, daß irgend etwas an Bord nicht stimmt. Das Gefühl von Gefahr. Eine Staubwolke am Horizont. Ich möchte, daß Sie sich umsehen, unauffällig Augen und Ohren offenhalten. Sie können sich überall in der Station aufhalten, ohne verdächtig zu wirken, und fast jeder an Bord unterschätzt Ihre Intelligenz. Meine Landsleute tun das, rassistisch wie sie nun einmal sind, wegen Ihrer Hautfarbe, und die anderen, weil Sie keinen akademischen Grad haben. Nutzen Sie das bitte aus.«
Über dieses Thema hatten wir uns schon öfters unterhalten. Moriyama kannte die andere Seite. Während seines Studiums in Kalifornien hatte er jobben müssen, in einem Restaurant, in dem auch seine reichen Kommilitonen verkehrten, und hatte das ganze Spektrum von Herabsetzung, Verachtung und Diskriminierung erlebt. Und seit ich in Japan lebte, hatte ich in Gedanken schon tausendmal meinem Freund Joe von der Fliegerakademie Abbitte geleistet, meinem Freund Joe, dem Schwarzen aus Washington, D.C., der mir vergeblich versucht hatte zu erklären, wie man sich fühlte als Neger, als Nigger, als Mensch zweiter Klasse. »Wenn dich jemand anschaut und du genau spürst, daß sein Blick nur bis zu deiner Haut reicht und keinen Millimeter tiefer, und du siehst, daß ihm das schon reicht, um dich zu beurteilen, dich in eine Schublade zu stecken – das ist Diskriminierung und wenn du das nicht erlebt hast, dann weißt du nicht wie sich Ungerechtigkeit anfühlt.« Das pflegte er immer zu sagen, und ich hatte geglaubt, ihm mitfühlend zuzuhören, und überhaupt, ich war ja kein Rassist, denn ich hatte einen guten Freund, der schwarz war, und das machte mir überhaupt nichts aus. Aber ganz tief unten dankte ich natürlich dem Schicksal, daß es mich als Mitglied der Herrenrasse hatte zur Welt kommen lassen und mir damit diese Probleme erspart blieben. Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, daß ich mich eines Tages wie ein Mensch zweiter Klasse fühlen könnte, weil ich ein Weißer war. Aber trotz all ihrer wohlerzogenen Höflichkeit ließen es einen die Japaner, vor allem die jungen, nie vergessen, daß man nicht das unerhörte Glück gehabt hatte, als Japaner zur Welt zu kommen.
»Okay«, versprach ich. »Ich schnüffle ein bißchen herum.« Moriyama sah mir forschend in die Augen.
Dann, als müsse er sich einen Ruck geben, öffnete er eine Schublade unter seinem Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier heraus, das am Rand einen roten Streifen hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen meine Befürchtungen eindringlich genug habe deutlich machen können«, erklärte er mit ungewöhnlichem Ernst. »Deshalb will ich Ihnen eine Mitteilung zeigen, die ich vor vier Wochen erhalten habe und über die Sie bitte Stillschweigen bewahren. Sie kennen Professor Yamamoto?«
Ich nickte. Ich erinnerte mich dunkel an ein Seminar an der Universität von Tokio, auf dem er über verschiedene Konzepte raumgestützter Sonnenenergiegewinnung referiert hatte. Yamamoto hatte das Steuerungssystem des Energiesenders entwickelt, und wir hatten ihn um Rat fragen wollen, als die Störungen auftraten. Es hatte jedoch geheißen, er liege mit einem schweren Herzinfarkt im Krankenhaus und sei nicht ansprechbar.
Moriyama reichte mir das Blatt. Es war eine verschlüsselte Mitteilung, die er eigenhändig mit dem Code des Kommandanten entschlüsselt hatte:
VERTRAULICH. PROFESSOR YAMAMOTO WURDE VOR ZWEI WOCHEN VON UNBEKANNTEN AUS SEINEM WOHNHAUS ENTFÜHRT. ES FEHLT JEDE SPUR. WIR HALTEN DEN VORFALL EINSTWEILEN GEHEIM. ISA, TOKIO, SICHERHEITSABTEILUNG.
Ich starrte das Papier an. Jetzt spürte ich sie auch, die Staubwolke am Horizont. Den Geruch von Gefahr.
»Regt das Ihre Phantasie an?« fragte Moriyama.
»Ja«, nickte ich und reichte ihm das Blatt mit dem roten Rand, auf dem in japanischen Schriftzeichen Streng vertraulich stand, zurück.
Ich war schon am Gehen, als er plötzlich sagte:
»Ach, und wenn ich Ihnen noch einen Tip geben darf, Leonard…«
Ich faßte den Haltegriff neben der Tür und wandte mich noch einmal um. Moriyama lächelte plötzlich verschmitzt. Er hatte die ganze Zeit nicht gelächelt, seit wir den Raum betreten hatten.
»Von Mann zu Mann«, meinte er. »Achten Sie auf Ihren Bartwuchs. Ganz gleich, was sie Ihnen erzählen – japanische Frauen mögen keine Bartstoppeln.«
Ich fuhr mit der Hand über mein Kinn. Es kratzte wie Sandpapier. Jetzt mußte ich auch grinsen.
»Danke«, sagte ich.