Ich klammerte mich an dem Guckloch der inneren Schleusentür fest wie ein Ertrinkender an seiner letzten Luftblase, starrte hinaus in die Schleuse und zermarterte mir das Gehirn nach einem Ausweg. Die äußere Schleusenluke schien zum Greifen nahe zu sein. Wenn draußen kein Vakuum geherrscht hätte, man hätte einfach nur das Innenluk öffnen und sich hinauszulehnen brauchen, um sie zuzuziehen. So aber war sie unerreichbar. Allein der Versuch, das Innenluk, das nach innen aufging, gegen den Druck der Kabinenatmosphäre zu öffnen, wäre gescheitert, und wenn man es wider Erwarten doch geschafft hätte, wäre man vom Druck der entweichenden Luft hinauskatapultiert worden wie ein Geschoß aus einem Luftgewehr.
»Worauf warten Sie, Leonard?« ließ sich Jayakar vernehmen. »Darauf, daß ein Engel vorbeischwebt und das Außenluk mit der Flügelspitze zudrückt?«
Selbst das hätte nichts genützt. Der Engel hätte außerdem das Handrad des Verschlußmechanismus herumdrehen müssen.
Ich studierte jedes Detail, fieberhaft nach einem Anhaltspunkt suchend. Das Kabel, mit dem die Kapsel an der Solarstation angebunden war, glänzte im Sonnenlicht. Ich fragte mich, woran sie es wohl festgemacht hatten – offenbar an einer der drei Verschlußklammern am äußeren Ring, für die es in der Schleuse der NIPPON keine Gegenstücke gab, weil sie über ein neuartiges, von außen her greifendes Dichtsystem verfügte.
Die riesige Solarfläche glänzte wie flüssiges Silber. Ob die Flügel eines Engels wohl genauso hell strahlten? Ich wurde allmählich irre, konstatierte ein vernünftig gebliebener Teil meiner Gedanken mißmutig.
Da war etwas, die schattenhaften Umrisse einer Idee. Sie hatte mit Engeln zu tun. Ich ließ das Guckloch los und sah mich in der engen, immer stickiger werdenden Kapsel um. Apathische, erschöpfte Gesichter blickten mich an.
»Ziehen Sie den Raumanzug wieder aus, Leonard«, meinte Moriyama müde. »Es hat keinen Zweck.«
Ich ignorierte ihn. Die Idee nahm Gestalt an. »Kim«, fragte ich, »Sie waren doch beim Bau der Solarstation dabei?«
Der Koreaner nickte überrascht. »Einige Male, jawohl.«
»Ich habe irgendwo gelesen, daß die Spinnenroboter, die beim Bau mitgearbeitet haben, durch Sprache gesteuert wurden – stimmt das?«
»Ja.«
»Dann müßte«, schlußfolgerte ich, »sich Spiderman fernsteuern lassen, wenn ich mit dem Funkgerät des Raumanzugs auf seine Frequenz gehe, oder?«
Ich hörte, wie Jayakar neben mir nach Luft schnappte.
Er hatte erraten, worauf ich hinauswollte.
Kim blickte skeptisch drein. »Wenn sein Funkgerät noch funktioniert, ja. Er ist sehr lange Zeit nicht technisch geprüft worden, weil man nur noch darauf wartet, wann er endlich ausfällt.«
»Welche Frequenz hat er?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Sie müßten nach einer Frequenz suchen, auf der regelmäßig alle fünf Sekunden ein hoher Ton ertönt, etwa wie ›Ping‹. Das ist das Bereitschaftsignal.«
Die Kontrollen des Funkgeräts waren am rechten Handgelenk des Raumanzugs befestigt, große, klobige Rändelschrauben für Lautstärke und Frequenz und breite Schalter für die Stromzufuhr. Ich drehte das Frequenzrad bis an den Anschlag zurück, dann schaltete ich das Funkgerät ein, das in meinem Nacken befestigt war, oben auf dem Versorgungstornister, den ich auf dem Rücken trug. Während ich das Mikrophon, das an einem Bügel vor meinem Mund hing, zuhielt, aus Angst, mich versehentlich auf der Frequenz der Piraten bemerkbar zu machen, durchwanderte ich langsam das ganze Frequenzband und lauschte aufmerksam.
»Nichts«, sagte ich enttäuscht, als das Frequenzrad den anderen Anschlag erreicht hatte.
»Darf ich erfahren, was Sie vorhaben, Leonard?« wollte Moriyama wissen.
»Ich will Spiderman anweisen, zu uns zu kommen und das äußere Luk zu schließen, damit ich die Schleuse benutzen kann«, erklärte ich. »Aber wie es scheint, hat sein Funkgerät inzwischen den Geist aufgegeben.«
»Ich glaube, Sie haben zu schnell gesucht«, meinte Jayakar. »Sie müssen auf jeder Frequenz mindestens fünf Sekunden lang bleiben, um zu hören, ob ein Ton gesendet wird. Und fünf Sekunden sind lang, wenn man nervös ist.«
Ohne viel Hoffnung drehte ich das wulstige Rad wieder rückwärts, wesentlich langsamer diesmal. Und ich wurde fündig.
»Ping!«
»Da ist es! Kim, was nun?«
»Jetzt geben Sie Befehle.«
»In welcher Sprache?«
»Englisch. Er versteht etwa zweihundert elementare englische Wörter.«
»Englisch?« wiederholte ich verwundert. Warum nicht gleich Lateinisch? In meiner Jugend war Englisch Weltsprache gewesen, aber heutzutage erwartete man unwillkürlich, daß man sich mit Robotern auf Japanisch verständigen mußte.
»Das Steuerungsmodul wurde damals von einer amerikanischen Firma entwickelt«, erklärte Kim. »Man sagte uns, die englische Sprache sei für einen Computer leichter zu analysieren als asiatische Sprachen. Ich glaube allerdings nicht, daß das wirklich der Grund war, wenn es überhaupt stimmt.«
Ich nickte geistesabwesend. Im Augenblick interessierte mich diese Geschichte nicht wirklich. Neben den Funkkontrollen war an meinem rechten Handgelenk eine Uhr befestigt, deren Sekundenzeiger unbarmherzig vorrückte und mich mahnend daran erinnerte, daß ich keine Zeit zu verlieren hatte.
»Wie rede ich ihn an?« wollte ich wissen.
»Sie nennen einfach seine Nummer. Er ist Nummer vier.«
Ich räusperte mich, ließ das Mikrophon los und sagte: »NUMBER FOUR?«
Ein doppelter Ton antwortete mir, ein hoher, gefolgt von einem tieferen, beides glockenartige, hörbar synthetische Klänge. Es klang wie Ping-Pong.
»Das heißt, daß er Sie verstanden hat«, erläuterte Kim, als ich ihn danach fragte.
»Gut«, nickte ich. Jetzt würde sich zeigen, ob meine Idee etwas taugte. »Wie sage ich ihm, daß er zur Hauptschleuse kommen soll?«
»Sie befehlen es ihm einfach. In einfachen Worten.«
Nun gut. In einfachen Worten. »MOVE TO MAIN LOCK«, sprach ich ins Mikrophon.
Nichts geschah. Nach einer Weile kam ein gleichmütiges Ping.
»Er hat Sie nicht verstanden. Sie müssen vor jedem Befehl seine Nummer nennen.«
Das kam mir logisch vor. Ich versuchte es noch einmal: »NUMBER FOUR. MOVE TO MAIN LOCK.«
»Ping-Pong«, kam als Antwort in meinen Kopfhörern.
Ich sah Kim an. »Er hat verstanden, glaube ich. Heißt das, daß er kommt?«
»Jawohl«, nickte der Koreaner. »Unweigerlich. Er wird sich durch nichts aufhalten lassen, es sei denn, Sie geben ihm einen anderen Befehl.«
Ich hangelte mich zu einem der Sehschlitze und spähte hinaus. Von dem spinnenartigen Roboter war weit und breit nichts zu sehen.
»Er ist noch auf der dunklen Seite«, erklärte Kim. »Er muß die ganze Zeit vor der Materialschleuse des Systemdecks auf neue Folie gewartet haben. Ich hatte die Maschine abgeschaltet. Es wird eine Weile dauern.«
»Wie lange?«
Der Metallurg überlegte. »Spiderman muß die ganze Solarfläche umrunden, um zu uns zu kommen. Ich nehme an, er wird sich an einem der Hauptspanten entlanghangeln; dort entwickelt er eine Geschwindigkeit von etwa zehn Kilometern je Stunde. Bis zum Rand der Solarfläche sind es zwei Kilometer, dann wendet er auf die helle Seite, noch einmal zwei Kilometer… eine halbe Stunde, etwa.«
Normalerweise war die Geschwindigkeit des Spinnenroboters völlig unerheblich, schließlich war die Solarfläche so gut wie fertig, und von der gelegentlichen Reparatur von durch Meteoriten beschädigten Elementen einmal abgesehen gab es so gut wie nichts daran zu tun. Jetzt aber hätte ich mir gewünscht, er wäre schneller gewesen oder hätte über ein eigenes kleines Triebwerk verfügt.
Nach endlosen zwanzig Minuten – wir überquerten gerade die Antarktis – tauchte ein winziger dunkler Punkt auf, der über die endlose, perlmuttglänzende Ebene der Solarfläche wanderte und quälend langsam näher kam. Gebannt verfolgten wir, wie er schließlich, graziös einherstolzierend, den Rumpf der Raumstation erreichte und sich anschickte, die Tunnelröhre zu erklimmen.
Mir fiel etwas ein. »NUMBER FOUR, MOVE SILENT.«
Tatsächlich schienen selbst aus dieser Entfernung die Bewegungen des Roboters langsamer und behutsamer zu werden. Ich hatte einmal gelesen, daß man die Roboter darauf eingerichtet hatte, sich so über die Hülle bewegen zu können, daß keinerlei Schwingungen dabei erzeugt wurden – also auch keine Laufgeräusche hörbar wurden. Man hatte sich dabei allerdings weniger Sorgen um den ungestörten Nachtschlaf der Stationsbesatzung gemacht als vielmehr um den ungestörten Verlauf von Mikrogravitationsexperimenten. Uns kam das nun insofern zugute, als es nicht nötig war, daß Khalid auf die Bewegungen des Spinnenroboters aufmerksam wurde.
»Ping«, erklang es, als Spiderman die Hauptschleuse erreicht hatte.
»Und jetzt?« wandte ich mich hilfesuchend an Kim, der dicht hinter mir stand.
Er bedeutete mir, ihm das Mikrophon zu geben. Ich drehte den Haltebügel nach außen und beugte mich zu ihm hinüber, so daß er bequem hineinsprechen konnte.
»NUMBER FOUR, IDENTIFY ROPE«, befahl Kim.
Ping-Pong.
»NUMBER FOUR, MOVE ALONG ROPE.«
Ping-Pong.
Fasziniert beobachtete ich durch das Guckloch in der inneren Schleusenluke, wie der Roboter einen seiner vorderen Handlungsarme ausstreckte und prüfend das Drahtseil zwischen seine Greiffinger nahm, gerade so, als müsse er überlegen, auf welche Weise er die gestellte Aufgabe am besten bewältigen konnte.
Schließlich ging ein Ruck durch den dünnen, stabförmigen Körper, und Spiderman krabbelte von seinem Platz an der Kopfschleuse auf das Seil, um sich daran entlang auf unsere Kapsel zuzuhangeln, halsbrecherisch schwankend und schaukelnd.
»Für einen Roboter ist er ziemlich intelligent«, sagte Jayakar. »Er kann in ungewöhnlichen Situationen eigenständig die geeignete Fortbewegungsmethode auswählen.«
Spiderman kam immer näher. Ich fragte mich, wann er wohl haltmachen würde.
»NUMBER FOUR, STOP!« sagte Kim, als der Roboter kurz vor der äußeren Schleuse war. Spiderman hielt mitten in der Bewegung inne und schickte wieder sein Ping-Pong.
»NUMBER FOUR, IDENTIFY DOOR.«
Ping. Pong.
»NUMBER FOUR, CLOSE DOOR.«
Ich hielt den Atem an. Die Antwort Spidermans schien endlos auf sich warten zu lassen.
Ping. Pong.
Bedächtig, als müsse er darauf achten, das Gleichgewicht nicht zu verlieren – in der Schwerelosigkeit des Alls eine absurde Vorstellung –, streckte der Spinnenroboter seinen rechten vorderen Handlungsarm aus, langsam, tastend, ruckartig. Ein ferner, kratzender Laut war in der Wandung der Kapsel zu hören, als die Greifhand das Außenluk berührte und langsam in Bewegung setzte. Dann fiel das Luk mit einem donnernden Schlag zu – ein Schlag, der so laut war, daß einen unwillkürlich die Angst durchzuckte, jemand droben in der Station hätte ihn hören können. Aber rings um uns war Vakuum, nahezu völlige Luftleere. Hier hätte eine ganze Shuttleladung Schiffsminen explodieren können, ohne daß man irgendwo irgendeinen Laut gehört hätte.
Ping.
»Der Verschluß«, drängte ich. »Er muß den Verschluß des Luks verriegeln.«
Kim sah mich nervös an. »Ich habe nicht darauf geachtet. Wie sieht der Verschluß aus?«
»Ein Handrad«, erklärte ich, »in der Mitte des Luks.«
Kim überlegte kurz und beugte sich wieder über das Mikrophon. »NUMBER FOUR, IDENTIFY WHEEL.«
Das brauchte eine Weile. Ping-Pong.
»NUMBER FOUR, CLOSE WHEEL.«
Diesmal dauerte es noch länger. Doch dann kam nur ein klägliches Ping.
»Er versteht es nicht.« Ich ballte die Fäuste in den Handschuhen des Raumanzugs. »Verdammt. Er muß das Luk verriegeln, sonst war alles umsonst.«
»NUMBER FOUR, CLOSE WHEEL!« rief Kim noch einmal.
Wieder nur: Ping.
»Das darf nicht wahr sein…« Ich spähte aus einer handtellergroßen Sichtluke neben der Schleuse. Da draußen hockte der riesige, heuschreckenartige Roboter mit seinen eigentümlich melancholisch dreinblickenden Kameraaugen, studierte mit sanftem Interesse seine Umgebung und begriff nicht, was wir von ihm wollten.
»Wie schließt man eigentlich das Luk?« wollte Jayakar wissen.
Ich starrte den Roboter unverwandt an, als bestünde Hoffnung, ihn auf diese Weise hypnotisieren zu können.
»Die einfachste Sache der Welt. Man dreht das Handrad einmal herum und…«
»Aha«, machte Jayakar bedeutungsvoll. »Man dreht das Handrad.«
Ich sah ihn an. Dieser verdammte, arrogante Standesdünkel des britischen Intellektuellen. Dieser verdammt schlaue Kopf. Ich nahm Kim das Mikrophon aus der Hand. »NUMBER FPUR, TURN WHEEL CLOCKWISE.«
Ping-Pong. Ein schabendes Geräusch, dann ein schrilles Quietschen, das durch Mark und Bein fuhr, dann wieder Stille.
»Ist das Luk jetzt geschlossen?« fragte Kim.
»Ich hoffe es«, erwiderte ich und machte mich über das Belüftungsventil her, das im Innenluk eingeschweißt war. Ich zögerte nur einen Moment, dann drehte ich den Verschluß auf, eine schlichte Kappenmutter mit eingelassenem Dichtring, und Luft schoß pfeifend aus dem Kapselinneren in die Schleusenkammer. Ich spähte durch das Guckloch in der Schleusentür ins Dunkle. Falls mich meine Erinnerung und meine Beobachtungsgabe getrogen hatten, dann würde der Druck der einströmenden Luft das Außenluk sofort wieder aufdrücken.
Nichts geschah. Das Außenluk blieb verschlossen.
Der Druckausgleich schien ewig zu dauern, aber irgendwann ließ das durchdringende Pfeifen nach, wurde zu einem matten Fauchen und hörte schließlich ganz auf. Ich drehte die Dichtungsmutter wieder auf. Das Ventil war jetzt eiskalt.
»Leonard«, sagte Moriyama mahnend. »Wissen Sie, was Sie da tun?«
Ich angelte nach meinem Raumhelm. »Wer weiß schon immer, was er tut?« meinte ich leichthin. »Das ist doch langweilig.«
»Das sind gefährliche Leute, Leonard. Killer.«
»Ich werde daran denken.«
Moriyama suchte nach Worten. »Sie brauchen das nicht zu tun, Leonard. Sie sind nicht als Held eingestellt worden.«
Ich sah ihn an und fühlte mich zurückversetzt in die Zeit, als ich siebzehn war und anfing, die gutgemeinten Ratschläge meines Vaters in den Wind zu schlagen. »Kommandant«, sagte ich, »es gibt keine angestellten Helden. Und Sie wissen, daß ich es tun muß. « Ich muß es tun, weil diese Leute vorhaben, meinen Sohn zu ermorden. Ich muß es tun, weil ich eher sterben will, als dabei zuzusehen. Aber das sagte ich alles nicht, sondern setzte den Raumhelm auf, drückte seinen Verschluß in die dafür vorgesehenen Aussparungen des Halsstücks und verriegelte ihn. Ich spürte ein kleines Aggregat im Rückentornister anspringen, und gleich darauf atmete ich frische, kühle Luft. Jetzt erst merkte ich, wie verbraucht und stickig die Luft in der Kapsel bereits war.
Ich gab Kim ein Zeichen, und er und Tanaka öffneten die innere Luke.
Es ging los.