Ich schoß durch die Tunnelröhre wie ein geschmeidiger Fisch, geradewegs auf das Schott der Brücke zu. Den Schraubenzieher hatte ich in der rechten Hand, und mit der linken Hand steuerte ich meinen lautlosen Gleitflug, stieß mal hier mit drei steifen Fingern kurz gegen die Wand, tippte dort gegen einen vorbeihuschenden Haltegriff. Jetzt würde alles sehr schnell gehen. In wenigen Augenblicken würde es entweder mit den Piraten oder mit mir endgültig vorbei sein.
Mein Ziel war die Wartungsluke unterhalb des Schotts. Diesmal achtete ich sorgfältig darauf, nicht in den Erfassungsbereich der Öffnungsautomatik irgendeines der umliegenden Schotts zu geraten. Ich verkeilte mich mit den Zehen unter einen Haltegriff in der Nähe und machte mich dann ohne zu zögern über die erste Schraube der Luke her.
Ich gedachte denselben Trick anzuwenden, mit dem die Piraten uns in den Wohnmodulen eingesperrt hatten. Hinter der Wartungsöffnung lagen alle Anschlußleitungen für das hinter dem Schott angeflanschte Modul mit Ausnahme der Luftzufuhr und der Wasserleitungen. Ich brauchte nur den Deckel abzuschrauben, dann konnte ich nicht nur das Schott blockieren, sondern ihnen auch die Elektrizität abstellen und alle Kommunikationsverbindungen kappen.
Die erste Schraube war draußen. Ich schnippte sie achtlos davon und setzte den Schraubenzieher sofort an die nächste. Nur diese drei Schrauben noch, dann ein Ventil verstellt und zwei Stecker gezogen, und sie würden im Dunkeln sitzen, eingesperrt und isoliert. Nur noch diese paar Sekunden. Eine Handvoll Atemzüge. Die zweite Schraube weg. Die nächste. Ich war dabei, den Weltrekord im Schraubenaufdrehen zu brechen.
In diesem Augenblick schoben sich schräg über mir die beiden Hälften des stählernen, rostfreien, druck- und strahlendichten Brückenschotts auseinander, und Khalid kam heraus. Er sah mich sofort, und er war nicht der Mann, dem man erst lange hätte erklären müssen, was gespielt wurde. Ich blickte in den Lauf seines Revolvers, ehe ich den Kopf ganz gehoben hatte, und die Frage, woher er ihn so schnell gezogen hatte, hätte ich nicht ehrlich beantworten können.
»Carr«, sagte er dann mit unechter Ruhe. »Was tun Sie hier?«
Ich hielt noch den Schraubenzieher in der Hand, in der Bewegung erstarrt wie Lots Weib. Was tun Sie hier? Nicht: Wie kommen Sie hierher? Ich war da; das sah er ja, und das genügte ihm. Auch das Schicksal seines Revolvermannes schien ihn nicht zu interessieren. Ich hätte ihm auf eine Frage nach Ralf liebend gerne erwidert: Ich habe ihm den Kopf abgeschlagen – aber das hätte ihn wahrscheinlich nicht sonderlich beeindruckt.
»Was denken Sie denn, was ich hier tue?« versetzte ich also bissig. »Ich jage Ungeziefer.«
Er ließ sich nicht provozieren. »Wieso funktioniert die Steuerung des Energiesenders nicht mehr?«
»Woher soll ich das wissen?« Ich hatte ja nur den Schaltschrank kurz und klein geschlagen, in dem der Steuerungscomputer untergebracht gewesen war. Offenbar war ihm das nicht gut bekommen.
Khalid nickte versonnen, während sich seine stahlharten Augen in meinen Blick bohrten. »Ich hätte Sie töten sollen. Ich wußte es. Ich wußte, daß Sie gefährlich sind, daß Sie ein Feind sind, Carr, und daß Gott Sie nicht liebt…«
Diesen Eindruck hatte ich in den letzten Jahren in der Tat auch des öfteren gehabt.
Khalids Miene verdüsterte sich, und seine Stimme troff förmlich von Bedauern, als er fortfuhr: »Sie werden mich nicht aufhalten, Carr, denn der Segen des Propheten ist mit mir. Nur wenn ich einst vor Allah trete, wird er mich fragen, warum ich nicht auf die Stimme gehört habe, die mir das Wissen um die Gefahr einflüsterte. Und um meiner Seele Heil werde ich antworten müssen, daß ich Sie in den schadrach geschickt habe, in die Hölle der Ungläubigen…«
Während er sich an seiner eigenen Ansprache berauschte, zog ich unendlich behutsam die Zehen aus ihrer Verankerung hinter dem Haltegriff. So, wie Khalid da schräg über mir schwebte, hatte er die Waffe in meinem Gürtel wahrscheinlich noch nicht gesehen. Ich beobachtete unverwandt sein Gesicht, den Ausdruck seiner Augen, während ich langsam ein Knie hob und gegen die Tunnelwand brachte.
Ich sah Khalids Augen sich um eine Winzigkeit verengen. Er flüsterte plötzlich. »Allah akh’bar…«
Aber das wartete ich schon nicht mehr ab. Wie eine davonschnellende Uhrfeder katapultierte ich mich von der Wand weg, schräg nach hinten, und riß im Sprung den riesigen, unhandlichen Revolver aus dem Hosenbund. Der dicke, glänzende Prügel von einem Schalldämpfer schwenkte herum, und es kam mir so zäh und langsam vor, als müsse ich das Kanonenrohr eines Panzers von Hand herumkurbeln.
Aber ich mußte Khalid genau im Visier haben, ehe ich abdrückte, sonst gab es eine Katastrophe.
Khalid hatte diese Skrupel nicht, er kannte sie wahrscheinlich nicht einmal, und er war schneller. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er schoß, und warf mich in einer sinnlosen Reaktion zur Seite. Der Schuß war nicht lauter als das Öffnen einer Dose Bier, und als die Kugel mich traf, überflutete mich ein Schmerz wie eine grelle, lautlos explodierende Sonne in meinem Kopf. Und dann passierte alles auf einmal.
Mein rechter Oberarm wurde mit der Gewalt eines Dampfhammers nach hinten gerissen, und dabei verlor ich den Revolver und den Überblick. Sekundenbruchteile später erreichte die Kugel, die meinen Arm nur durchschlagen hatte, die Wandung des Knotentunnels und tobte den beträchtlichen Rest ihrer kinetischen Energie darin aus.
Plötzlich gellte das infernalische Heulen des Leckalarms durch die Station, übertönt nur noch von dem ohrenbetäubenden Fauchen der entweichenden Luft, die durch das Einschußloch ins All schoß. Irgendwie bekam ich durch all die Nebel und Sterne vor meinen Augen mit, wie Khalid unsanft nach vorn geschleudert wurde, als das Brückenschott donnernd zufiel. Automatische Alarmverriegelung. Ich angelte stöhnend mit der linken Hand nach irgendeinem Halt. Es gab kein Entkommen mehr. Eine unerbittliche Automatik schloß alle Schotten, die an den leckgeschlagenen Raum grenzten, und da das Leck im Knotentunnel selber war, handelte es sich um schlichtweg alle Druckschotten der gesamten Raumstation.
Das Toben und Fauchen der ausströmenden Luft hielt immer noch an, aber mir wurde allmählich schwarz vor Augen. Die Finger meiner linken Hand kratzten hilflos über glattes Metall, auf der Suche nach einem Griff. Blutstropfen tauchten vor meinem Gesicht auf, und diesmal war es mein eigenes Blut.
Das brausende Geräusch schien mir auf einmal das Geräusch meines auslaufenden Blutes zu sein.
Ein dunkler Schatten, der an mir vorbeischoß, in die Tiefe. Khalid. Der dunkle Handlanger des falschen Propheten. Er schrie etwas, das ich erst nach einer trägen, sterbenden Weile verstand: »Sie werden mich nicht aufhalten, Sohn des Teufels!«
Meinte er mich? Konnte es sein, daß er mich meinte? Meine Linke faßte plötzlich Metall, rundes Metall, aber es war kein Griff, nur der Schalldämpfer des Revolvers. Jahre schien das herzusein, daß er mir aus der Hand gerissen wurde.
Und die Luft heulte und toste noch immer; woher kam bloß die ganze Luft?
»Sie werden mich nicht aufhalten.«
Ich werde dich aufhalten. Ich habe dich schon aufgehalten, Baby. Ich torkelte noch immer durch die Gegend wie ein betrunkener Satellit, aber irgendwie schaffte ich es, meine rechte Hand an den Griff des Revolvers zu bringen. Stechende, lähmende Schmerzen zuckten mir durch Schulter, Nacken und Kopf, aber ich brachte es fertig, den Lauf auf die Gestalt in dem blauen Raumanzug zu richten, die gerade durch die Tunnelröhre hangelte. Ich spürte die Schwärze heranrollen, die mein Feind war, und ich wußte, daß ich mich damit beeilen mußte, den Finger durch den Abzugsbügel zu stecken. Es pochte in meinen Ohren, ich sah nur noch bunte Flecken, und mein Kopf wollte platzen, aber ich brachte den Finger auf den Abzug.
»Sie werden mich nicht aufhalten…«
Ich werde, du Hurensohn.
Ich schoß, und es war wie ein Hammerschlag auf meinen Arm. Ich schrie auf, und mein eigener Schrei übertönte den Schuß, aber ich sah einen blauen Fleck in der Ferne zusammenzucken. Dann kam die Schwärze wie eine Sturmflut und riß mich mit sich in die Dunkelheit.