EPILOG

Die großen Flügeltüren zu dem Saal, in dem seit Monaten der Untersuchungsausschuß tagte, schlossen sich hinter mir, zum letzten Mal, und eine Last fiel von mir ab. Es genügte nicht, etwas zu vollbringen, man mußte nachher auch noch beweisen, daß man nur so und nicht anders hatte handeln können. Und das hatte ich nun. In Sitzungen, die ich zum Schluß nicht mehr gezählt hatte, hatte man mich befragt, mir widersprochen, mich Ereignisse an einem Modell der Solarstation erklären lassen und wieder und wieder den minutiösen Ablauf der Besetzung und der Rückeroberung der Station durchgekaut. Aber nun war endgültig alles protokolliert, waren alle Fragen beantwortet und alle Unklarheiten geklärt. Es stand fest, daß ich nichts getan hatte, was ich hätte lassen müssen, und nichts gelassen, was ich hätte tun müssen. Ich tastete unwillkürlich nach dem Papier mit all den Stempeln und Unterschriften, das mich endgültig entlastete, ehe ich mich der Ruhe und dem Frieden in den leeren Gängen der Raumfahrt-Hauptverwaltung überließ und dem Gefühl, wieder ein freier, unbescholtener Mann zu sein.

Mit diesem Gefühl ging ich die breite Marmortreppe hinunter ins Foyer, ohne die leiseste Ahnung, was ich aus dem Rest des Tages machen sollte, den ich eigentlich für die Ausschußsitzung verplant hatte und der mir nun überraschend zurückgeschenkt worden war.

Im Foyer traf ich zu meiner Überraschung auf Tanaka, der ehrlich erfreut schien, mich zu sehen, und mich herzlich begrüßte.

Wir tauschten ein paar Höflichkeiten aus, und ich gratulierte ihm zu seiner Beförderung in den Kommandantenrang. Ob es stimme, daß er demnächst auf die Solarstation zurückkehre, fragte ich.

»Hai«, nickte er stolz. »Ich übernehme das Kommando für das nächste Quartal.«

Ich lächelte. Eigentlich war er mir doch ganz sympathisch. »Herzlichen Glückwunsch.«

Er neigte in einer typisch japanischen Geste falscher Bescheidenheit den Kopf und fragte dann: »Was haben Sie vor, Leonard? Ich habe Ihren Namen noch auf keiner Liste gefunden…«

»Ich mache erst einmal Urlaub«, erklärte ich, »und dann… Ich habe ein Angebot aus Seattle, über das ich gründlich nachdenken will.«

»Ano ne«, machte Tanaka betroffen, »Sie wollen uns also verlassen. Die Raumfahrt ganz aufgeben.«

»Nicht unbedingt. Es gibt gerade Tendenzen in den USA – zumindest in einigen Bereichen –, wieder in den Weltraum zurückkehren zu wollen. Deshalb sammelt man gerade alle Leute ein, die noch etwas von Raumfahrt verstehen.«

Tanaka nickte nachdenklich. »Ich wünsche Ihnen, daß Sie die richtige Entscheidung treffen.«

»Das wünsche ich mir auch, danke.«

Wir waren schon dabei, uns zu verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. »Übrigens, Kim hat vergeblich versucht, Sie zu erreichen. Er wollte Sie wohl zu seiner Abschiedsfeier einladen; er hat ja jetzt den Ruf nach Seoul tatsächlich erhalten. Vielleicht rufen Sie ihn einfach mal an.«

»Ja«, versprach ich, »das werde ich machen.«

Als ich durch die Drehtüren ins Freie trat, umfing mich die kalte Luft und das unerwartet intensive Licht eines frühherbstlichen Sonnentages in Tokio. Und die Geräuschkulisse, die sich aus dem Gemurmel all der unzähligen Passanten, dem Surren der Elektroautos und dem unrunden Brummen der methanolgetriebenen Autos zusammenfügte. Die Luft roch frisch und prickelte in der Nase.

Wann immer und wo immer man in Tokio-Stadt unterwegs ist, man bewegt sich immer inmitten so vieler Menschen, daß einem ein New Yorker Bus zur Hauptverkehrszeit leer und einsam dagegen vorkäme. Ich ließ mich mit dem Strom treiben, bis zur nächsten U-Bahn-Station, wo ich eine englischsprachige Zeitung kaufte und wunderbarerweise einen Sitzplatz fand in der U-Bahn, die mich nach Hause brachte. Auf der Titelseite fand sich – neben den üblichen Meldungen über Regierungskrisen, politische Skandale und den seit fünfzehn Jahren andauernden Balkankrieg – die Nachricht, daß in Frankreich die ersten Prozesse gegen die Bodenmannschaften Khalids eröffnet worden waren. Nach unseren ersten Funksprüchen, noch bevor die Öffentlichkeit von dem Vorfall auf der NIPPON in Kenntnis gesetzt wurde, hatten seinerzeit mehrere Einheiten der Fremdenlegion sowie eine französisch-deutsche Eingreiftruppe die Raketenbasis Kourou angegriffen und alle Besatzer, die diese Attacke überlebten, verhaftet.

Ich mußte an Jayakar denken, der demnächst auch vor Gericht stehen würde, wegen Sabotage und einer Reihe anderer Vorwürfe. Auch ich würde gegen ihn aussagen müssen. Die Ladung als Zeuge hing bereits zu Hause an meiner Küchenpinnwand.

Ein Bericht über den Krieg auf der Arabischen Halbinsel. Die Dschijhadi-Truppen befanden sich weiter auf dem Rückzug, seit die Belagerung Mekkas vor einigen Wochen plötzlich abgebrochen worden war. Offenbar verbreiteten sich unter den Dschijhadis die Zweifel am Propheten Abu Mohammed wie eine ansteckende Krankheit.

An meiner Küchenwand hingen auch die drei Briefe, die mir Neil seither gefaxt hatte. Offenbar wollte seine Mutter wieder heiraten; einen Kommandeur der Verteidigungstruppen. Aber ich bleibe immer Dein Sohn, nicht wahr, Dad? hatte Neil geschrieben. Ich hatte immer damit gerechnet, daß mir das eines Tages zu schaffen machen würde, aber zu meiner eigenen Überraschung tat es das nicht. Im Gegenteil, ich fühlte sogar so etwas wie Erleichterung.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich im Feuilleton der Zeitung ein Interview mit Moriyama. Moriyama, dessen Karriere in den letzten Wochen rasante Sprünge vollführt hatte, war mittlerweile Direktor des Bereichs Stellare Energiegewinnung, und in dem Interview kündigte er an, daß definitiv eine weitere, sehr viel größere Solarstation gebaut werden würde, unter Beteiligung etlicher großer japanischer und koreanischer Konzerne, und er hob die Bedeutung der Gewinnung von Sonnenenergie im Weltall hervor mit Argumenten, an die ich mich noch gut erinnern konnte.

Der Zug schoß endlos durch den Tunnel, von Station zu Station. Ichikawa, Funabashi, Chiba, Ichihara – der lange Weg um die Bucht von Tokio herum. Ich hätte auch die Fähre nehmen können; das wäre schneller gewesen, aber ich bekam auf der Fähre immer Platzangst. Überhaupt wäre ich jetzt gerne allein gewesen, am liebsten hoch oben im Weltraum. Der Gedanke an meine kleine, enge, aber nichtsdestotrotz exorbitant kostspielige Wohnung in dem riesigen Wohnkomplex deprimierte mich regelrecht, und als die Station kam, an der ich hätte aussteigen müssen, blieb ich einfach sitzen.

Einige Kilometer weiter verließ der Zug den U-Bahn-Tunnel und fuhr oberirdisch weiter. Ich kannte den Weg. So wie heute war ich schon oft gefahren, einfach immer weiter und weiter, bis das Meer in Sicht kam. Hierher zog es mich, wenn ich die Notwendigkeit verspürte, mit mir ins reine zu kommen.

An der vorletzten Station stieg ich aus, atmete tief den frischen, salzigen Geruch ein, den ein strenger Wind vom Meer herüberwehte, und pilgerte dann hinunter zum Strand. Die steife Brise blähte meine Jacke, während ich ziellos durch den Sand stapfte, immer am Wasser entlang.

Das Meer blendete, so hell tanzte das Licht auf den Wellenkämmen wie gleißendes Geschmeide. Schreiende Möwen balgten sich hoch oben in der klaren Luft, und in der Ferne erhoben sich sanft die Berge des Hinterlandes.

Auch hier war es nicht menschenleer – nirgendwo in Japan war es das –, aber doch einsam. Ich konnte etliche Wanderer in der Ferne ausmachen, einzeln oder in kleinen Gruppen.

Sie störten mich nicht, und ich vergaß bald, daß sie da waren. Ich hob gedankenverloren Kiesel auf und schleuderte sie weit hinaus in den strahlenden Himmel, zog mit der Schuhspitze Furchen in den vom heranrollenden Meer glattgespülten Sand, roch den Geruch von Salz und Fisch und spürte den Wind in meinen Haaren wühlen.

Irgendwann fiel mir eine kleine, dunkle Gestalt auf, die näher kam. Ich blieb stehen und beobachtete sie eine Weile. Es sah ganz so aus, als hielte sie direkt auf mich zu. Und dann winkte sie sogar. Ich wartete skeptisch ab, während sie näher kam. Es war Yoshiko.

Sie trug eine dunkelgrüne, fast winterliche Jacke mit pelzbesetzter Kapuze, und der Wind vom Meer machte faszinierende Sachen mit ihrem langen, schwarzen Haar. Sie lächelte mich an, ganz außer Atem. »Ich wußte, daß ich dich hier treffen würde«, sagte sie anstelle einer Begrüßung.

»Du wußtest es?« fragte ich, einigermaßen verblüfft. Schließlich hatte ich es selber bis vor einer halben Stunde nicht gewußt. »Woher?«

»Du hast mir einmal erzählt, daß du immer hierherkommst, wenn du deine Mitte suchst.«

»Tatsächlich?« Daran erinnerte ich mich nicht mehr. »Und das hast du dir gemerkt?«

»Ja.«

Ich sah sie an, ihren weich geschwungenen Mund, ihre unglaublichen, dunklen Augen, und dieser Anblick beraubte mich schlagartig meiner sämtlichen Verstandeskräfte. Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte sagen können, und so sagte ich lahm: »Mußt du denn nicht arbeiten?«

Sie lächelte nachsichtig, und dabei beschlich mich das unangenehme Gefühl, daß sie mich vollkommen durchschaute. »Leonard, Astronomen arbeiten immer nachts.«

Ich nickte verkrampft. »Ach ja. Logisch.«

Wieder Pause. Yoshikos Blick glitt über den Strand und das Meer, dann sah sie mich wieder an.

»Ich habe gehört, du gehst fort?«

Ich machte eine unbestimmte Geste. »Vielleicht.«

»Du weißt es noch nicht?«

»Ich denke noch darüber nach.«

Sie nickte. »Ich gehe vielleicht auch fort. Ich habe mich um eine Stelle an der Universität von Tacoma beworben, und wie es aussieht, habe ich sehr gute Chancen. Was meinst du, soll ich dort hingehen, wenn ich die Zusage bekomme?«

»Tacoma?« Ich sah sie an, grenzenlos verblüfft. »Doch nicht das Tacoma, das südlich von Seattle liegt?«

»Doch, genau das.«

»Dort hast du dich beworben?«

»Ja.«

»Und warum?«

Sie antwortete nicht. Ein zartes Lächeln erschien in ihrem Gesicht, langsam wie ein Sonnenaufgang, und mir wurde plötzlich warm ums Herz. Als sie sprach, war ihre Stimme dunkel und sehnsüchtig.

»Wir haben es nie bei Schwerkraft getan, Leonard.«

Ich sah in ihre Augen, und diesmal las ich mehr darin als bloßes Verlangen. Es sind immer die gleichen Geschichten, die einem passieren, dachte ich.

»Das kann man ändern«, sagte ich rauh. »Man kann alles ändern.«


ENDE

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