KAPITEL 36

Ich erwachte in hellem Licht, und ein engelsgleiches Gesicht lächelte sanft auf mich herab. Wärme umhüllte mich, Ruhe und Frieden. Hatte ich es also tatsächlich geschafft, in den Himmel zu kommen.

Die Gestalt mit dem engelsgleichen Lächeln beugte sich über mich und berührte meine Schulter mit einem schneeweißen Tuch. Der absolut unhimmlische Schmerz, der mich daraufhin durchfuhr, überzeugte mich nachhaltig davon, daß ich noch am Leben sein mußte. Als sich die Tränenschleier um meine Augen wieder geklärt hatten, erkannte ich Yoshiko, die im Begriff stand, meine Wunde zu desinfizieren. Sie lächelte so fernöstlich-unergründlich wie immer. Es war schließlich nicht ihre Wunde.

Ich öffnete den Mund, aber meine Zunge schien zu enormer Größe angeschwollen und darüber hinaus völlig eingetrocknet zu sein, denn ich brachte keinen Laut heraus, den ein Fisch, der auf dem Trockenen nach Luft schnappt, nicht genausogut oder besser zustande gebracht hätte.

»Ruhig, Leonard-san«, sagte Yoshiko sanft. »Es ist alles in Ordnung«

»Die Brücke?« krächzte ich mühsam. »Was ist mit der…?«

»Es ist alles vorbei.«

»Haben wir sie zurückerobert?«

»Ja, Leonard-san.«

»Haben wir Funkverbindung?«

»Ja. In zwei Tagen kommt der Shuttle, mit einem Arzt und mit Polizisten…«

Ich schloß für einen Moment erleichtert die Augen.

Yoshiko sorgte jedoch mit ihrem medizinischen Eifer dafür, daß ich nicht in die Versuchung kam wegzudösen. Das Desinfektionsmittel brannte wie Feuer, verdammt aber auch!

Allmählich war ich wieder imstande, meine Umgebung wahrzunehmen. Wir schwebten am unteren Ende des Knotentunnels, und Yoshiko trug einen Raumanzug, dessen Vorderseite mit Blut verschmiert war. Meinem Blut vermutlich. Ich sah an mir herunter, soweit es mein schmerzender Nacken zuließ, und sah einen durch und durch mit Blut getränkten Bordoverall. Scheußlich. Ich hätte es sogar scheußlich gefunden, wenn es jemand anders gewesen wäre.

Dann entdeckte ich meine rechte Hand, und ich mußte eine ganze Weile daraufstarren, bevor ich begriff, daß es sich bei diesem häßlichen, blauschwarzen Etwas um meinen Zeigefinger handelte. Falls ich je hätte Klavierspielen lernen wollen, dann war der Zeitpunkt jedenfalls verpaßt.

Yoshiko hatte meinen Blick verfolgt, und jetzt schaute sie richtig bekümmert drein. Sie sah hinreißend aus, wenn sie so dreinblickte.

»Oh, Leonard…«

Ich sah sie nur an und dachte an die Stunden, die wir zu zweit in der Wäschekammer verbracht hatten. Warum verliebte ich mich eigentlich immer in fremdländische Frauen? Wie brachte ich es fertig, mich wie Hackfleisch zu fühlen und trotzdem an Sex zu denken?

»Wie sieht der Rest von mir aus?«

»Deine rechte Schulter sieht ziemlich schlimm aus, und auch dein rechter Arm, und sonst…« Ihr Blick glitt prüfend über meinen Körper, und als sie mir in die Augen sah, begriff sie erst die Anzüglichkeit in meiner Frage. Ein kokettes Lächeln huschte über ihr Gesicht wie ein rascher Lichtreflex, und dann schlug sie scheu die Augen nieder, als fürchte sie um ihren Ruf als wohlerzogenes und anständiges japanisches Mädchen. »Ich muß dir jetzt einen Verband anlegen.«

Ich biß während dieser Prozedur tapfer die Zähne zusammen. Wahrscheinlich war ich nach den Puppen, an denen wir alle derlei Dinge während des obligatorischen Erste-Hilfe-Kurses geübt hatten, das erste lebende Wesen, an dem sie ihre Kunst erprobte. Ich konnte zwar nicht beurteilen, wie gut sie als Astronomin war, aber falls sie ihren Beruf verfehlt haben sollte, dann bestimmt nicht den der Krankenschwester.

Als sie endlich fertig war, atmete ich auf und fragte: »Findest du nicht, daß ich ein Held bin?«

Sie nickte mit ihren großen dunklen Augen. »Oh, ja. Ganz bestimmt.« Spätestens nach dieser Verbindeaktion.

»Und hat sich ein Held nicht einen Kuß verdient?«

Sie lächelte, verheißungsvoll diesmal, und beugte sich dann über mich, um mich mit einem langen, einem geradezu unglaublichen Kuß zu beglücken. Warum hatte ich mir eigentlich jemals Sorgen gemacht? Mit diesem Kuß hätte sie mich zweifelsohne auch von den Toten auferwecken können.

Jemand räusperte sich vernehmlich. Wir ließen uns nicht stören. Er räusperte sich ein zweites Mal, noch vernehmlicher diesmal, und wir sahen einigermaßen unwillig auf.

Es war Jayakar.

»Es tut mir ausgesprochen leid, die Behandlung zu stören«, sagte er mit verlegenem Grinsen. »Kapitän Moriyama läßt fragen, wie es Ihnen geht.«

Ich mußte unwillkürlich lachen, und das geriet zu einer Art Husten, der meinen ganzen Körper erschütterte. »Was glauben Sie denn, wie es mir geht?«

»Nun«, meinte er mit verhaltenem Spott, »ich würde sagen, Sie befinden sich auf dem Weg der Besserung.«

»Ja«, nickte ich mit schmerzlichem Lächeln. »Notgedrungen, weil mir ein anderer Weg nicht bleibt.«

» Come on, Carr«, erwiderte Jay augenzwinkernd, »übertreiben Sie doch nicht so schamlos, nur um vor Ihrer Herzensdame gut dazustehen – die paar Kratzer und Schrammen, das haut doch einen Burschen wie Sie nicht um…«

Ich weiß noch, daß mir auf diese Frechheiten eine sehr gute und sehr passende Bemerkung einfiel, aber ich weiß nicht mehr, welche. Gerade in dem Augenblick, als ich antworten wollte, hallten plötzlich unüberhörbare Schläge durch den Knotentunnel – laute, metallische Schläge, die in mir sofort das entsetzliche Vorstellungsbild entstehen ließen, Khalid säße außen an der Station und hämmere mit irgendeinem harten Gegenstand auf die Außenhülle ein. Wilde, kampfbereite Angst wallte in mir hoch und spülte die geistreiche Eingebung hinweg.

Jayakar hatte meinen panischen Blick gesehen und richtig gedeutet, denn er beruhigte mich sofort: »Das ist Spiderman. Wenn man ihm nicht ausdrücklich sagt, daß er still sein soll, dann macht er einen ziemlichen Lärm, was? Kim hat ihn losgeschickt, um das Loch in der Solarfläche zu reparieren.«

Jetzt fiel mir alles wieder ein. Der Kampf. Das überlaute Geräusch meines eigenen Atems in dem von innen beschlagenen Raumhelm. Die waghalsigen Balanceakte am Rand der Unendlichkeit. Khalid, wie er durch den grellen, sonnendurchglühten Riß in der Solarfläche schwebte wie in eine bessere Welt.

»Er hat tatsächlich nicht gewußt, wie dünn die Folie ist«, meinte ich leise. Ich hätte gern ungläubig den Kopf dazu geschüttelt, aber die Schmerzen in meiner Schulter erstickten derlei Bewegungsversuche bereits im Ansatz. »Er hat geglaubt, er könne auf der Solarfläche landen und zurückklettern, um mich endgültig umzubringen.« Ein Zeitungsartikel fiel mir ein, in dem jemand die Folie mit Blattgold verglichen hatte – genauso dünn, genauso teuer. Das stimmte nicht ganz: die Folie war, alles in allem gerechnet, weitaus teurer als Gold.

»Er hätte eines der Spannseile erwischen können, auf denen der Roboter sich fortbewegt«, gab Jayakar zu bedenken. »Dann hätte es anders ausgesehen.«

»Er hat aber keines erwischt.« Ich sah den Kybernetiker an. »Was ist mit den anderen Halunken?«

Jayakar zuckte die Schultern. »Der, den sie Sven nannten, ist tot. Sakai ist in der Steuerzentrale, verschnürt wie ein Weihnachtspaket, und es ist kein Wort aus ihm herauszubringen.«

»Tot? Wieso tot?«

»Während Sie draußen waren, haben wir die Brücke mit Stickstoff geflutet. Da wir keine Waffen hatten, warteten wir vorsichtshalber ziemlich lange, ehe wir die Brücke schließlich stürmten. Und der Skandinavier war wohl etwas kurzatmig…«

Ich nickte sinnierend und ganz, ganz behutsam. Ich dachte an Iwabuchi und Oba, und es tat mir kein bißchen leid um irgendeinen der Piraten. Auch nicht um diesen schweigsamen Mann, von dem wir nicht viel mehr erfahren hatten als seinen Rufnamen und der ansonsten die ganze Zeit nur unauffällig im Hintergrund gearbeitet hatte. Er war dabeigewesen, und das sicher nicht deshalb, weil Khalid niemand anderen hätte auftreiben können.

»Ihr beiden könnt mir ein bißchen helfen«, nickte ich Jayakar und Yoshiko aufmunternd zu. »Ich will in die Steuerzentrale.«

»Warum denn?« begehrte Yoshiko auf. »Du wirst dort nicht gebraucht. Du kannst dich ausruhen…«

»Eine Rechnung ist noch offen«, beharrte ich. »Und die will ich begleichen.«

Sie widersprachen nicht mehr. Vielleicht waren sie auch nur neugierig.

Jedenfalls stützten sie mich auf dem Weg den Knotentunnel hinauf, so daß ich meinen rechten Arm nicht benutzen mußte. Alles andere war kein Problem; schließlich ist Schwerelosigkeit wie geschaffen für Kranke und Verletzte.

Moriyama kam mir entgegen, als ich durch das Brückenschott schwebte, und er sah mich lange an, während in seinem Gesicht die starre asiatische Förmlichkeit einen hoffnungslosen Kampf gegen die Gefühle focht, die ihn bewegten. Am liebsten hätte er mich wohl umarmt und an sich gedrückt, und nur der Anblick meiner Wunden und Verbände hielt ihn davon ab. Und, ehrlich gesagt, mein Schulterverband sah tatsächlich noch zerbrechlicher aus, als ich mich fühlte. So beschränkte sich der Kommandant auf einige anerkennende Worte, die er in einem hastigen Japanisch sprach, von dem ich nicht einmal die Hälfte verstand, und einen heftigen Händedruck unserer beiden linken Hände.

Ich warf einen flüchtigen Blick auf die erbärmliche Gestalt Sakais, der an Händen und Füßen gefesselt und an einer Sitzstange im Hintergrund festgebunden war. Der ehemalige Funker der NIPPON starrte blicklos vor sich hin und wirkte mehr tot als lebendig.

Seinen Platz an den Kontrollen von Funk und Radar nahm jetzt Kim ein. Ich fragte mich, ob er schon wußte, welche Schweinerei ich in seinem Labor angerichtet hatte. Offenbar nicht; jedenfalls sah er mich ganz arglos und zuvorkommend an.

»Wir haben Khalid auf dem Radarschirm«, erklärte er. »Aber auf Funkanrufe reagiert er nicht. Wissen Sie, was mit ihm ist?«

»Er ist tot.«

»Ah so«, nickte der Metallurg, und er bemühte sich vergebens, sich seine Beklommenheit nicht anmerken zu lassen. »Das erklärt vieles.«

Ich deutete auf die Kopfhörer-Mikrophon-Kombination, die er trug. »Geben Sie ihn mir«, forderte ich ihn auf.

Kim blinzelte verwirrt. »Ich denke, er ist tot?«

»Das ist er auch«, nickte ich düster. »Er weiß es nur noch nicht.«

Kim starrte mich nur an und verstand kein Wort. Wahrscheinlich zweifelte er jetzt wieder an seinen Fremdsprachenkenntnissen. Ich nahm die Kopfhörer, die er mir zögerlich reichte, setzte sie auf, zog das Mikrophon vor meine Lippen und schaltete die Mithörlautsprecher ein. Dann ging ich auf die Sprechfunkfrequenz der Raumanzüge.

»Khalid?«

Ein deutliches Knacken war zu hören, als er seinen Sender einschaltete. »Carr«, sagte er nur. Er wirkte völlig ruhig. Sein Atem ging vernehmlich, aber gleichmäßig. »Ich entferne mich immer weiter von der Station.«

Ich nickte. »Das ist richtig.«

Er zögerte einige Sekunden, in denen er mit sich zu ringen schien. Dann gab er einen verärgerten Seufzer von sich und sagte: »Okay, Carr, Sie haben gewonnen. Sie haben Ihren Triumph gehabt, Sie haben mich schmoren lassen – okay. Bitte, holen Sie mich wieder an Bord.«

Ich starrte auf den runden, dunklen Radarschirm, auf den winzigen grünen Punkt darauf. Immer noch der alte Khalid. Immer noch stolz, aber sich widerwillig beugend. Wahrscheinlich dachte er, daß er mir damit schmeicheln konnte. »Ich habe nicht gewonnen, Khalid«, erwiderte ich dann grimmig. »Ich wüßte nicht, was ich gewonnen haben sollte. Aber ich weiß, daß Sie verloren haben.«

»Ja, das weiß ich auch.« In seiner Stimme schwang Wut mit; er schien zu glauben, daß ich noch mehr Selbsterniedrigungen von ihm forderte. »Und ich ergebe mich, Carr. Ich schwenke sozusagen die weiße Fahne, ich falle auf die Knie – alles, was Sie wollen. Holen Sie mich wieder zurück, bitte. Ich verspreche, daß ich keinerlei Gegenwehr leisten werde.«

»Sie verstehen immer noch nicht, Khalid«, erklärte ich langsam, fast bedächtig. »Wir können Sie nicht zurückholen.«

Wir hörten ihn alle nach Luft schnappen, und man konnte sich auch einbilden, seine Gedanken rasen zu hören.

»Das ist nicht wahr!« rief er schließlich. Es klang mehr argwöhnisch als entsetzt. »Sie versuchen irgendeinen Trick, Carr.«

»Ich habe keine Tricks mehr nötig.«

»Sie dürfen mich nicht einfach umkommen lassen, Carr. Das wäre Selbstjustiz. Ich habe mich ergeben; Sie müssen mich Ihren Gerichten überantworten…«

Ich spürte Abscheu in mir aufsteigen. Er versuchte immer noch stolz zu klingen, Herr der Lage zu bleiben, aber im Grunde winselte er um sein Leben. Und es war übelkeiterregend, wie er sich jetzt auf das Gesetz berief, das er bedenkenlos in jeder Hinsicht zu übertreten bereit gewesen war, als er noch die stärkere Position innegehabt hatte.

»Sie haben noch für fünf Stunden Sauerstoff«, erwiderte ich kalt, »und dann werden Sie sterben, Khalid. Und kein Gott und kein Prophet wird es verhindern.«

»Das können Sie nicht machen, Carr. Sie müssen mich reinholen…«

»Sagen Sie mir, wie.«

»Sie haben diese freifliegende Montageplattform. Die, mit der Sie versucht haben, unseren Anflug aufzuhalten. Ich weiß, daß Sie sie fernsteuern können und daß sie einen sehr großen Aktionsradius hat. Damit können Sie mich anfliegen und bergen.«

»Die Tanks dieser Plattform sind trockener, als es der Wüstensand um Mekka nach Ihrem Energieangriff gewesen wäre«, versetzte ich mit grimmiger Genugtuung. »Wir haben den gesamten Treibstoff aufgebraucht, als wir versuchten, Ihre Raumkapsel aus dem Kurs zu drängen.«

Er suchte fieberhaft nach einem Ausweg. »Unsere Raumkapsel!« fiel ihm ein. »Unsere Raumkapsel hat noch mehr als genug Treibstoff. Damit könnten Sie mich ohne weiteres erreichen.«

»Wenn Sie nicht alle Steuerungseinheiten demontiert hätten«, erinnerte ich ihn. Was ich von der Zumutung hielt, mit so einem abenteuerlichen Raumgefährt irgendwelche Rettungsaktionen zu unternehmen, ersparte ich ihm.

»Aber der Treibstoff! Sie könnten ihn in die Plattform umpumpen…«

»Die Plattform treibt in etwa fünf Kilometern Entfernung und ist im Augenblick nicht beweglicher als ein beliebiges Stück Weltraumschrott.«

Pause. Er gab nicht so leicht auf. »Es gibt doch eine Art Raketenantriebe für Raumanzüge…«

»Die gibt es«, nickte ich. »Der nächste Shuttle bringt welche mit.«

»Der Shuttle!« Er schrie es fast. »Der Shuttle ist manövrierfähig. Wann kommt er?«

»Frühestens fünfzig Stunden nach Ihrem Tod.«

»Er soll eher starten!«

»Zur Zeit ist kein Shuttle startbereit. Ihre Sabotageteams haben ganze Arbeit geleistet, Khalid.«

Er war am Ende, und allmählich begriff er es. Seine ganze Überlegenheit war verschwunden, nackte Panik schüttelte ihn. »Die Station selber! Die Station ist manövrierfähig – sie muß nach der Sonne ausgerichtet werden – sie muß Reibungsverluste ausgleichen können… Sie können sie schwenken, Carr, und dann…«

Ich dachte an Oba, die sich auf die große Liebe ihres Lebens gefreut hatte, und wie er sie seinem wahnsinnigen Killer übergeben hatte, damit der sie grausam töten und schänden konnte.

Ich dachte an Iwabuchi, der hatte sterben müssen, weil er einer der genialsten Ingenieure der Welt gewesen war. Ich dachte an Professor Yamamoto, der sein ganzes Leben daran gegeben hatte, der Menschheit den Weg ins All zu ebnen. Und ich dachte an Neil, meinen Sohn, den er mit Millionen anderer hatte umbringen wollen. Unwillkürlich legte ich die linke Hand auf die Tasche, in der immer noch das Fax knisterte, und finstere Unversöhnlichkeit erfüllte mein Herz, als ich ihn unterbrach: »Hören Sie, Khalid, es reicht jetzt. Es gibt keinen Ausweg. Sie werden in ein paar Stunden Ihrem Schöpfer gegenübertreten, und darauf bereiten Sie sich jetzt besser vor.«

Damit schaltete ich ab und überließ ihn der Hölle seines eigenen Gewissens.

In der Steuerzentrale war es sehr still geworden. Ich sah mich um, versuchte in den Gesichtern der anderen zu lesen, was sie empfanden. Das Mienenspiel Jayakars war von grausigem Entsetzen gezeichnet; offenbar versuchte er sich auszumalen, wie es jemandem ergehen mochte, der, eingesperrt in einen Raumanzug, hoch über dem Erdball dahintrieb, allein und von allen Menschen abgeschnitten, den unausweichlichen und nahen Tod vor Augen. Wenn man, was auf den Kybernetiker zweifellos zutraf, mit einer regen Phantasie gesegnet war, dann konnte einen diese Vorstellung auf Wochen hinaus mit Alpträumen versorgen.

Moriyama sah mich nur an und nickte dann langsam und würdevoll sein Einverständnis, wieder jeder Zoll der Kommandant der Solarstation und damit Herr über Leben und Tod. Er war es, der den Tod Svens würde verantworten müssen – was ihm sicher keine Probleme bereiten würde. Aber ich hatte Khalid tatsächlich nicht angelogen: es gab wirklich keine Möglichkeit mehr, ihn rechtzeitig zurückzuholen, mit Sauerstoff zu versorgen oder sonstwie zu retten. Und, ja, es erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung, daß es so aussah, als habe ein höherer Richter beschlossen, Khalids Leben den Gesetzen der Himmelsmechanik zu überantworten.

Der Blick des Kommandanten wanderte ruhig und bedächtig hinüber zu Tanaka, der an den Maschinenkontrollen saß, direkt neben Sakai. »Tanaka«, sagte Moriyama mit einem Kopfnicken in Richtung auf den gefesselten Komplizen der Piraten, »binden Sie ihn los.«

Tanaka sah überrascht hoch, sah Moriyama an, und für einen Moment kam es mir vor, als tauschten die beiden Japaner auf unsichtbare Weise Argumente aus. Dann nickte er leicht, beugte sich zu Sakai hinüber und knotete dessen Fesseln auf.

Sakai zuckte zusammen, als die Stricke von ihm abfielen, und schaute umher wie einer, der gerade aus dem Schlaf erwacht ist. Aber der Kommandant würdigte ihn keines Blickes; er hatte sich inzwischen vor seine Tastatur begeben, um sich beim Computersystem anzumelden.

»Wir müssen uns überlegen, was wir als nächstes tun«, meinte er wie beiläufig. »Wir haben eine Station voller Leichen…«

Jayakar und ich sahen uns verblüfft und entsetzt zugleich an, während Sakai geistesabwesend seine Handgelenke massierte. Er wirkte seltsam apathisch, wie betäubt. Auch Tanaka beachtete ihn nicht, sondern konzentrierte sich ganz darauf, die Stricke zu ordentlichen Bündeln zusammenzurollen. Ich sah zu Yoshiko hinüber, die sich überhaupt nicht um das zu kümmern schien, was hier vorging.

»Hai«, sagte Tanaka nach einer Weile.

Sakai sah von einem zum anderen, suchte den Blick Moriyamas, dann den Tanakas, und bekam keinen von beiden. Sein rechtes Augenlid zuckte. Dann nickte er, stieß einen leisen, zitternden Brummlaut aus und setzte sich langsam in Richtung Schott in Bewegung.

Jayakar wollte ihm den Weg versperren, doch Moriyama bedeutete ihm mit einer Handbewegung, den Funker nicht aufzuhalten. So sahen wir zu, Jayakar und ich in höchstem Grade alarmiert, die Japaner – und Kim – dagegen mit rätselhaftem Gleichmut, wie sich die Schotthälften vor Sakai öffneten, wie sie es immer getan hatten, und sich ebenso hinter ihm wieder schlossen.

Jetzt erst sah ich, welche Anzeigen Moriyama aufgerufen hatte. Es waren zwei Protokolle, die das Computersystem der Solarstation automatisch führte: erstens das Logbuch des Raumanzugdepots – welcher Raumanzug wurde wann entnommen, wann zurückgestellt, wann aufgetankt und wann generalüberholt – und zweitens das Log aller Schleusendurchgänge.

Mein Kopf fühlte sich noch immer dumpf und wattig an, aber in irgendwelchen dunklen Ecken stieg eine Ahnung dessen hoch, was hier vorging. Wir starrten alle wie gebannt auf den Bildschirm vor dem Kommandanten, und die Zeit verstrich. Das Raumanzugs-Log blieb unverändert. Kein Raumanzug wurde entnommen, keiner zurückgegeben.

Aber fünf Minuten, nachdem Sakai die Brücke verlassen hatte, verzeichnete das andere Log einen Durchgang durch die Mannschleuse.

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