Kapitel 4
Goddfrey Gaufridus
In einer Stadt, in der schon die Geburt als erster Schritt zum Sterben galt, darf man zu Recht behaupten, dass Goddfrey Gaufridus, Sargmacher und Bestattungsunternehmer, eine ganz besonders enge Beziehung zum Tod hatte.
Es war nicht immer sein Wunsch gewesen, sich so eingehend mit den Toten zu befassen, obwohl das Bestattungswesen im Allgemeinen als einträgliches Gewerbe betrachtet wurde. Im Alter von fünfzehn Jahren war Goddfrey von einer rätselhaften Krankheit heimgesucht worden, die ihm für fast drei Monate seine Sprech- und Bewegungsfähigkeit raubte. Er verbrachte diese drei Monate auf dem Rücken liegend im Bett. Seine Mutter und sein Vater, die begriffen, dass sein Zustand dauerhaft sein könnte, hielten es nach einer Woche für angebracht, das gewohnte Alltagsleben wiederaufzunehmen.
Goddfrey blieb kaum etwas anderes zu tun als zu grübeln (was waren das für Gedanken in diesen trübseligen Monaten!), und eines Nachts schlief er erschöpft ein und wachte nicht wieder auf. Am dritten Tag war seine Mutter fest davon überzeugt, dass er tot sei.
Sie rief Goddfreys Vater ins Zimmer und sie blieben länger als zehn Minuten bei ihm stehen. »Ich glaube, er ist hinüber«, sagte Mr Gaufridus, und weil der Doktor zu teuer war, wurde der Nachbar gerufen, um den Tod zu bestätigen. Danach bestellten sie das Begräbnis.
Wie es in jener Zeit häufig geschah – und zu Goddfreys Glück –, war der Bestattungsunternehmer alles andere als ehrlich; insgeheim verkaufte er den noch immer reglosen Körper des Jungen an die Schule für Anatomie und Operationsverfahren von Urbs Umida und begrub stattdessen einen mit Sand gefüllten Sarg. Am fünften Tag seines Schlafes erwachte Goddfrey, inzwischen vollständig ausgeruht, auf dem Operationstisch in einem Hörsaal. Ein funkelndes Skalpell schwebte über seinem Kopf, und der Chirurg wollte gerade die Klinge in Goddfreys Brustkorb senken. (Seltsamerweise beeindruckte Goddfrey dabei am meisten das sich in der Klinge spiegelnde Licht, sodass ihm in späteren Jahren bei ähnlichen Lichtreflexen jedes Mal unangenehme Erinnerungen kamen.) Auf diese Weise neu belebt, gelang es ihm, sein ganzes bisschen Kraft zusammenzuraffen und einen leisen Pfiff auszustoßen.
»Ich denke, Eure Leiche ist lebendig!«, rief einer der Zuhörer, ein Medizinstudent, der damit seinen Ruf festigte, das Offensichtliche offensichtlich zu machen. Goddfrey wurde nach Hause zu seinen trauernden Eltern gebracht, die ihn mit offenen Armen begrüßten, obwohl sie nicht recht verstanden, wie er aus dem Grab auf den Operationstisch gekommen war. Das war beileibe nicht die Reise, auf der sie ihn vermutet hatten, doch allzu lange dachten sie nicht darüber nach, und in ein paar Tagen war Goddfrey wieder der Alte.
Nun, nicht ganz. Die merkwürdige Krankheit hatte etwas hinterlassen: Gesichtslähmung. Der arme Goddfrey konnte seine Gesichtsmuskeln nur noch eingeschränkt bewegen, mit dem Resultat, dass sein Ausdruck (schläfrig) immer blieb, wie er war. Er konnte weder lächeln noch die Stirn runzeln, weder lachen noch weinen – zumindest nicht so, dass es auf Anhieb zu erkennen war –, und sprechen konnte er nur durch die Zähne.
Nachdem er im letzten Moment dem Messer des Chirurgen in der Anatomieschule entkommen war, beschloss Goddfrey, dass niemandem passieren sollte, was ihm beinahe passiert wäre. Er ging bei dem örtlichen Bestattungsunternehmer in die Lehre, und als sein Meister starb, übernahm er dessen Betrieb. Im Lauf der nächsten Jahre erlangte Goddfrey Gaufridus den Ruf eines zuverlässigen Mannes, der niemals einen Lebenden beerdigen würde. Das lag hauptsächlich daran, dass er viel Zeit und Mühe darauf verwandte, sich davon zu überzeugen, dass die ihm Überantworteten eindeutig tot waren.
Es klingt vielleicht merkwürdig, aber man darf nicht vergessen, dass es zu Goddfreys Zeit nicht so einfach war festzustellen, ob ein Mensch tatsächlich für immer aus dem Leben geschieden war. Ein Arzt hatte dafür kaum andere Möglichkeiten, als mithilfe eines Spiegels zu prüfen, ob der Betreffende noch atmete, oder auf einen oft unbestimmbaren Herzschlag zu horchen. Während Goddfrey in seiner scheinbaren Bewusstlosigkeit lag, hatte er sich immer wieder mit dem einen Gedanken beschäftigt: Wenn doch nur jemand eine Methode entwickelt hätte, eine Art Gerät, mit dem sich eindeutig bestimmen ließe, ob er lebendig war oder nicht. Viel Leid wäre ihm erspart geblieben. Damals hatte er sich geschworen, dass er, sollte er je wieder ins Leben zurückkehren, dieser Jemand sein würde.
So hatte er seine Bestimmung entdeckt. Doch Beerdigungen zu organisieren und nebenbei Erfindungen zu machen erwies sich als äußerst belastend und Goddfrey fand, dass er einen Gehilfen brauchte, und stellte ein kleines Schild ins Fenster. Da Pin lesen konnte – eine Fähigkeit, die ihm seine Mutter beigebracht hatte –, war er der einzige Bewerber auf die Stelle.
Am vereinbarten Tag führte Mr Gaufridus Pin im Haus herum. Im Laden, der zur Straße hin lag, waren sowohl die teuersten als auch die preiswertesten von Mr Gaufridus’ Sargmodellen ausgestellt. Sie ließen sich durch den mehr oder weniger vorhandenen Glanz des Holzes und der Beschläge ohne Weiteres voneinander unterscheiden. In einem großen doppeltürigen Schrank hielt er eine Auswahl an Sachen vorrätig, die man für die Beerdigung mieten konnte, wie Sargtücher, dunkle Anzüge, Schleier und schwarze Handschuhe, Federbüsche für die Pferde, Einladungskarten zur Trauerfeier und passende Ringe – natürlich in Form von Totenschädeln.
Zuletzt führte Mr Gaufridus Pin in einen Kellerraum, an dessen Wänden weitere Särge in allen möglichen Formen, Größen und Farben sowie in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung lehnten. In der Mitte des Raums stand eine stattliche Werkbank, auf der Hämmer, Nägel, Latten und verschiedene Zimmermannswerkzeuge verstreut lagen. Der Boden war voller Hobelspäne, Holzabfälle und Sägemehl. Die Wände waren bestückt mit einer umfangreichen Auswahl an Messing- und anderen Metallbeschlägen, Scharnieren, Fassungen, Namensschildern, Griffen und allem möglichen, nur vorstellbaren Sargzubehör.
Das alles erschien Pin völlig normal, und als Mr Gaufridus ihn nun in einen anderen Raum führte, erwartete er weitere Dinge dieser Art.
»Da sind wir«, erklärte Goddfrey stolz, während er die Tür öffnete. »Die Cella Moribundi. Warteraum der Toten.«
Pin blieb an der Tür stehen und blickte hinein. Der Begriff einer Cella Moribundi, eines Raums, in dem die Toten vor der Beerdigung aufgebahrt wurden, war ihm und auch allen anderen Bewohnern von Urbs Umida keineswegs fremd. Dass ein Toter vor dem Begräbnis drei Tage und drei Nächte aufgebahrt sein musste, ging auf eine lange Tradition unbekannten Ursprungs zurück. Es gab eine Redensart in Urbs Umida: »Wer zweifelt, soll drei Tage warten.« Pin dachte an den Tod seiner Mutter und an die langen Stunden, die er und sein Vater in der Pension neben ihrer Leiche zugebracht hatten. Sie hatten sich Mr Gaufridus’ Dienste nicht leisten können.
Der Raum war kleiner als die Werkstatt und sehr viel kühler. In der Mitte stand ein hoher Tisch (zurzeit leer), über dem ein merkwürdiger Mechanismus aus Schnüren und Zahnrädern, Hebeln und einer frisch geölten Kette angebracht war. Es gab hier zahlreiche Regale und eine Kommode mit schmalen Schubladen. Auf dieser Kommode lag eine Sammlung von Gerätschaften, die sich nur als Folterinstrumente bezeichnen ließen.
»Was sind denn das für komische Sachen?«, fragte Pin und sah sich staunend um. Diese Cella Moribundi war so ganz anders als alle, von denen er je gehört hatte.
Goddfrey runzelte die Stirn, das heißt, seine linke und seine rechte Augenbraue bewegten sich kaum sichtbar aufeinander zu.
»Diese ›komischen Sachen‹, wie du sie nennst, sind das Ergebnis meiner jahrelangen Arbeit für das Wohl der Lebenden und der Toten.«
Damit war Pin kaum klüger.
»Äh, wie soll …«
»Mein lieber Junge«, sagte Goddfrey durch zusammengebissene Zähne, »stell dir das Schlimmste vor, was du dir ausmalen kannst, und dann stell es dir zehn Mal schlimmer vor.«
Pin überlegte einen Augenblick. »In den Foedus fallen und Wasser schlucken«, sagte er mit einer gewissen Voraussicht.
»Hmm«, murmelte Mr Gaufridus, »das wäre allerdings schlimm, aber kannst du dir nichts Schlimmeres vorstellen?«
Pin konnte – es hing mit Barton Gumbroot zusammen. Er sagte es Mr Gaufridus, aber der fand es immer noch nicht schlimm genug. Schließlich beugte sich der Meister vor und gab in Form einer Frage selbst die Antwort.
»Kannst du dir etwas Schlimmeres vorstellen, Junge, als lebendig begraben zu werden?«
Pin lief ein Schauder über den Rücken und er schüttelte den Kopf. Mr Gaufridus hatte es anscheinend nicht bemerkt, denn er sprach unbeirrt weiter, umkreiste den Tisch, ruderte mit den Armen durch die Luft und zeigte ein Verhalten, das in keiner Weise mit seinem schläfrigen Gesichtsausdruck übereinstimmte.
»Stell dir vor, du erwachst aus harmlosem Schlaf und findest dich in vollständiger Dunkelheit wieder. Du willst nach der Kerze greifen, die du auf dem Tisch neben deinem Bett weißt, doch deine Hand stößt mitten in der Bewegung links und rechts gegen etwas Hartes. Du willst dich bewegen, aber du kannst dich nicht einmal umdrehen. Fassungslosigkeit überkommt dich, wenn du merkst, das dies alles kein Traum ist und dass du nicht in deinem Bett liegst, sondern in deinem Sarg.«
Pins Zähne klapperten. Die Temperatur in diesem Raum musste tatsächlich sehr viel niedriger sein. Mr Gaufridus machte jedoch noch keine Anstalten, zum Ende zu kommen. Keine Spur von Erregung war auf seinem Gesicht zu lesen, doch seine Augen schienen jetzt zu funkeln. Zweifellos bereitete es ihm ein eigenartiges Vergnügen, den Albtraum seiner Jugend noch einmal zu erleben.
»Was hast du für Todesqualen auszustehen, wenn du so daliegst und dich kaum rühren kannst! Du wirst versuchen, dich ruhig zu verhalten, um nicht unnötig Luft zu verbrauchen, schließlich hoffst du ja noch, dass dich jemand finden wird. Wenn aber dann Stunden vergehen und Tage, begreifst du, dass niemand dein Rufen, Schreien und Schluchzen hören kann. Du weißt, dass es nur zwei Möglichkeiten für dich gibt: den Tod durch Sauerstoffmangel oder den Tod durch Verhungern. Du fasst dich an die Kehle, keuchst bei jedem Atemzug. Dann, wenn das Ende näher rückt, packt dich ein Hunger, der nie gestillt, und ein schrecklicher Durst, der nie gelöscht werden kann.«
Er drehte sich nach Pin um. »Sag, kannst du dir Schlimmeres vorstellen?«
Pin, der inzwischen überzeugt war, dass Mr Gaufridus beabsichtigte, ihn lebendig zu begraben, wich zur Tür zurück.
»Ich … nein«, stammelte er.
»Gut«, sagte Mr Gaufridus, »dann wirst du verstehen, warum ich all die ›komischen Sachen‹ erfunden habe. Natürlich, es gibt auch Leute, die Särge mit Alarmsystemen bauen, mit Klingeln und Fahnen. Aber ich nicht. Zum Klingeln ist es zu spät, wenn man begraben ist. Der Schaden ist angerichtet, und zwar nicht am Körper, sondern im Kopf. Ich, Goddfrey Gaufridus, habe mich mit dem eigentlichen Kern des Problems befasst.«
»Und der wäre?«, fragte Pin zitternd. Noch immer betrachtete er diesen unheimlich kühlen Menschen mit tiefem Misstrauen.
»Dass eine Person tot sein muss, bevor sie begraben wird!«
»Oh«, sagte Pin. Er will mich also doch nicht lebendig begraben, dachte er, aber das war kein großer Trost.
Mr Gaufridus fuhr fort. »Du wirst für deine Arbeit bei mir wissen müssen, wie all diese Apparate anzuwenden sind.« Beim Sprechen fasste er Pin am Ellbogen und dirigierte ihn zum Tisch hin. »Wenn du bitte so gut sein möchtest?«, sagte er, half Pin hinauf und hieß ihn sich hinlegen.
»Das hier ist einer der ersten Apparate, die ich entwickelt habe, und ich muss sagen, dass ich sehr zufrieden damit bin.« Er zog Pin Stiefel und Socken vom Fuß, ließ eine Lederschlaufe um seinen großen Zeh gleiten und zurrte sie fest. Der arme Pin, dessen Misstrauen nun in größte Verwirrung umschlug, wollte sich halb aufrichten und auf die Ellbogen stützen, doch Mr Gaufridus drückte ihn wieder zurück, ohne das Unbehagen des Jungen zu bemerken.
»Meinst du, das hier würde dich aufwecken, wenn du nur schliefest?«
Mit diesen Worten langte Mr Gaufridus nach einem über dem Tisch angebrachten Griff und begann, rhythmisch daran zu ziehen. Langsam kamen die Zahnräder in Gang und Pins Fuß wurde mit einem kräftigen Ruck nach oben gezogen.
»Ja, ja, ganz bestimmt!«, rief Pin gellend, um das Knirschen der Scharniere und das Rasseln der Kette zu übertönen. »Aber ich müsste schon sehr, sehr tief schlafen, damit jemand überhaupt annehmen könnte, ich wäre tot.«
»Hmm.« Mr Gaufridus wurde nachdenklich. Es kam selten vor, dass er Gelegenheit fand, seine Erfindungen an einem lebenden Menschen zu testen, und er hatte vor, sie bestmöglich zu nutzen. »Dann wollen wir mal das hier ausprobieren«, erklärte er. Damit öffnete er eine schmale Schublade in der Kommode hinter sich und entnahm ihr eine lange Nadel, mit der er – ziemlich fest, um die Wahrheit zu sagen – in Pins nackte Fußsohle stach.
»Auaaaa!«, schrie Pin und sprang mit einem Satz vom Tisch, wobei er vergaß, dass er noch an der Zehen-Zugmaschine befestigt war. Hätte Mr Gaufridus ihn nicht aufgefangen, hätte er die ganze Apparatur von der Decke gerissen und die Folgen wären womöglich katastrophal gewesen. Wortlos, wenn auch immer wieder kopfschüttelnd, befreite Mr Gaufridus ihn aus dem Gewirr von Lederriemen, Schnüren und Ketten. Danach lehnte Pin es ab, an weiteren Demonstrationen teilzunehmen, wehrte sich mit zusammengepressten Lippen gegen den Zungen-Zugapparat und beschwor Mr Gaufridus, er möge ihm seine Gerätschaften lediglich erklären. Ob Mr Gaufridus enttäuscht war oder ärgerlich, oder ob ihm gar Zweifel kamen, ließ sich aus seiner Miene nicht entnehmen; er ging jedoch auf Pins Bitte ein. Die nächste Stunde verbrachten die beiden also damit, alle Instrumente und Vorrichtungen zu untersuchen, die Mr Gaufridus entwickelt hatte, um sich vergewissern zu können, dass die Verstorbenen tatsächlich tot waren und nicht etwa schliefen, betrunken waren oder in einem Koma lagen.
Seine Erfindungen waren zahlreich und unterschiedlich. Mr Gaufridus schien die ganze Skala von Schmerz auslösenden Methoden zu kennen, mit deren Hilfe sich Scheintote zum Leben erwecken ließen. Diese Methoden reichten von den nur unangenehmen – an Zehen und Ohren ziehen – über die etwas schmerzhafteren – auf die Knöchel schlagen und ins Ohr schreien – bis zu den unvorstellbar schmerzhaften. Einzelheiten aus letzterer Kategorie sind in Mr Gaufridus’ Buch Tot oder lebendig? nachzulesen (es existieren noch einige wenige Exemplare in lesbarem Zustand). Auch das Wasser des Foedus wurde zweckdienlich eingesetzt. In Flaschen gefüllt und verkorkt verstärkte sich der Gestank so sehr, dass Mr Gaufridus überzeugt war, ein Hauch würde ausreichen, um einen Scheintoten zu erwecken. Während er so von einer zur anderen Erfindung kam, erläuterte er auch seine Theorie, dass ein toter Körper leichter sein müsse als ein lebender, da die Seele ihn verlassen habe.
»Was mag eine Seele wiegen?«, fragte Pin.
»Eine sehr gute Frage, junger Mann«, sagte Mr Gaufridus. »Es ist natürlich nicht schwer, eine entsprechende Waage zu konstruieren. Aber einen Menschen exakt in dem Moment zu wiegen, in dem das Leben aus seinem Körper weicht – das ist das Problem.«
Inzwischen war Pin überzeugt, dass Mr Gaufridus genau der Richtige war, um ein solches Problem zu lösen. Am Ende des Vormittags musste er trotz seiner anfänglichen Zweifel Mr Gaufridus bewundern, weil er sich so entschlossen dafür einsetzte, dass niemand lebendig begraben werde. Das war wirklich ein hohes Ideal. Mr Gaufridus bot Pin, bestärkt durch dessen Wissbegier und kluge Fragen, die Stelle nur zu gern an.
»Was muss ich sonst noch tun, außer Leichen zu bewachen?«, fragte Pin.
Mr Gaufridus überlegte einen Augenblick. »Alles Mögliche, mein Freund, alles Mögliche.«
Und »alles Mögliche« war eine recht passende Beschreibung für Pins Pflichten. Er musste an Zehen ziehen, an Zungen reißen und in Fußsohlen stechen, nicht zu reden von der aufrichtigen Anteilnahme, die er den trauernden Angehörigen entgegenbringen musste, und dem Umlernen auf Sargtischlerei – die Präzision seiner Schwalbenschwanzverbindungen wurde von Mr Gaufridus schon bald geschätzt. Nachts, wenn eine Leiche zu bewachen war, lag Pin dösend auf der Bank in der Cella Moribundi und dachte über die Wendung seines Schicksals nach. Er konnte sicher sein, dass ihn hier niemand stören würde.
Im Lauf der Wochen verließ sich Mr Gaufridus mehr und mehr auf Pin, der sich bald um all die täglichen Geschäfte des Bestattungsunternehmens kümmerte, während Mr Gaufridus selbst seine komplizierten Apparate wartete oder neue konstruierte. Pin wiederum spürte Mr Gaufridus’ unterschiedliche Stimmungen allmählich schon an den kleinsten Veränderungen in dessen Mimik.
Als Pin jedoch an diesem Abend eintraf, räumte Mr Gaufridus bereits auf und machte sich dann gleich fertig, um zu gehen.
»Deine letzte Nacht mit der armen Sybil«, sagte er mit einem Nicken zur Tür der Cella Moribundi. »Morgen wird sie beerdigt.«
Pin wünschte ihm eine gute Nacht. Er lauschte, bis er die Tür zur Straße zuschlagen hörte, dann ging er durch den Raum in die Cella Moribundi. Die Anwesenheit einer Leiche störte ihn nicht weiter, für solche Empfindlichkeiten gab es in dieser Stadt keinen Platz und die Vorteile einer festen Stelle übertrafen die Nachteile dieser Arbeit bei Weitem. War auch Mr Gaufridus’ Kellerraum nicht gerade der wärmste Ort – schließlich wurden Tote besser leicht gekühlt aufbewahrt –, so war es hier doch wärmer als draußen auf der Straße.
Den Leuten aus der Südstadt machte es nichts aus, die erforderlichen zweiundsiebzig Stunden bei ihren Toten zu sitzen. Sie machten aus diesen drei Tagen sogar eine Art Fest zu Ehren des Verstorbenen. Nordstädter dagegen sahen in diesem Brauch etwas Geschmackloses (ganz zu schweigen von der Unannehmlichkeit). Deshalb beschäftigten Bestattungsunternehmer normalerweise einen Gehilfen, in diesem Fall Pin, der anstelle der Angehörigen die Totenwache hielt. Natürlich war es in gewisser Weise auch ein Zeichen von Reichtum, dass eine Familie es sich leisten konnte, für diesen Dienst zusätzlich zu bezahlen. Gern berichteten sie ihren Nachbarn von den Extrakosten, die allein durch das An-der-Zunge-Reißen entstanden.
Zeigte der Tote auch am dritten Tag kein Lebenszeichen, durfte er ruhigen Gewissens beerdigt werden. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings auch in anderer Beziehung klar, dass die Seele den Körper ganz bestimmt verlassen hatte. Mit seiner empfindlichen Nase roch Pin meistens sofort, wenn der Verwesungsprozess einsetzte, und so passte es eigentlich, dass am Ende gerade er bei Mr Gaufridus gelandet war. Solch eine Gabe hatte also ihre Vorteile: Eine feine Nase bereicherte ein sonst stumpfsinniges Dasein. Trotzdem musste Pin, während er zu seinem leblosen Schützling ging, unwillkürlich daran denken, dass das Leben in einer Stadt wie Urbs Umida sehr viel weniger unangenehm wäre, wenn er das Geruchsvermögen eines gewöhnlichen Sterblichen hätte und nicht das eines Hundes.