Kapitel 12

Abendliche Kurzweil

Mrs Betty Peggotty (Besitzerin) freut sich,

ein neuen Künstler ankündigen zu könn.

Im Flinken Finger tritt auf:

Der Knochenmagier

Tägliche Vorfürung von Totenerweckung

Keiner wird enttäuscht sein!

Eintritt sechs Pence

Außerdem kann besichtigt werden:

Das Gefrässige Biest

Ein absolut scheusliche Kreatur

mit unstillbarem Appetit

Eintritt sechs Pence

Erfrischungen jederzeit im Gasthaus erhältlich

Öffnungszeiten durchgehend von früh bis spät

Pin stand im Eingang des Flinken Fingers, von wo aus er den weggeworfenen Zettel zu seinen Füßen, der wie viele andere im Rinnstein lag, mühelos lesen konnte.

Das Gefräßige Biest. Erst kürzlich hatte Deodonatus Snoad darüber geschrieben. Und jetzt ein Knochenmagier … Das könnte interessant sein. Pin hatte das Mietgeld, das er Barton schuldete, in seinem Zimmer zurückgelassen, deshalb fanden sich in seiner Tasche nur noch ein paar Pennys – aber wollte er die ausgerechnet hier ausgeben? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als ein großer Schatten über ihn fiel. Es war Wachtmeister Coggley.

»Na, was hast du denn vor? Du weißt doch, Kinder haben hier absolut nichts verloren.« Er musterte Pin neugierig. »Dich kenne ich doch?«

»Ich glaube nicht«, sagte Pin ausweichend.

»Aber sicher«, sagte Coggley, fasste dem Jungen unter das Kinn und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. »Du bist doch dieser Pin Carpue. Deine seltsamen Augen kannst du nicht verleugnen. Und? Was führst du jetzt im Schilde, Junge? Etwa Ärger machen?«

»Nein!«, rief Pin empört und drehte sein Gesicht weg. Er drückte gegen die schwere Eingangstür und sie gab langsam nach.

»Hast du deinen Vater gesehen?«, rief Coggley ihm nach. »Wenn du ihn gesehen hast, dann sag mir’s lieber gleich. Er ist immer noch ein gesuchter Mann.«

»Weiß ich, weiß ich«, murmelte Pin und verschwand im Gasthaus.

Der Flinke Finger war eine von vielen Schänken, die sich schon seit Jahrhunderten an der gleichen Stelle der Brücke behaupteten. Es war ein guter Standort, genau in der Mitte, und das bedeutete, dass sich die Leute einreden konnten, sie befänden sich immerhin noch nicht auf der anderen Seite. Denn so, wie sich die Nordstädter nur ungern nach Süden wagten, so verspürten auch die aus der Südstadt kein großes Verlangen danach, den nördlichen Teil zu betreten. Namen und Besitzer der Schänke hatten im Lauf der Jahre oft gewechselt, etwas aber hatte sich nie geändert: die Art der Kundschaft. Oft hieß es, als Besucher von Urbs Umida brauche man nur in den Flinken Finger zu gehen, um von dem, was die Stadt zu bieten hatte, einen Eindruck zu bekommen. Alles war dort vertreten: der Schmutz, der Gestank und auch die guten Bürger selbst; die Räuber, Schwindler und Betrüger, die Lügner, die Hochstapler und die Fälscher. Einwohner aus dem Norden genauso wie solche aus dem Süden, und alle wurden von Betty Peggotty gleich behandelt. So gleich jedenfalls, wie es ihre Geldbeutel zuließen.

Der Boden war bedeckt von einer Schicht aus Sägemehl, Stroh und Schmutz, in der sich hier und da Spuren von Blut fanden. Der Lärm war ohrenbetäubend – Singen, Schreien, Kreischen, Lachen. Und erst die Gerüche. Oh, diese Gerüche! Für Pin verschmolzen sie zu einer wilden Kakofonie und er sog die Luft tief ein. Die ganze Erregung, die in der Schenke herrschte, teilte sich ihm über die Luft mit und er kostete sie voll aus. Da wurde gespielt, er konnte die Spannung riechen; da waren Verschwörungen im Gange, er konnte die Angst riechen; und da waren auch Fröhlichkeit und Begeisterung. Er roch alles: Blut und Schweiß und salzige Tränen, er roch die Getränke, den Fischgeruch der Hafenarbeiter und auch den exotischen Duft nach fernen Ländern, den die Seeleute mitbrachten. Sogar einen Hauch von Liebe roch er – einen Hauch nur, denn der Flinke Finger war nicht gerade der Ort, um einem Mädchen den Hof zu machen. Nachdem Pin sich satt gerochen hatte, wandte er sich an den neben ihm stehenden Mann.

»Der Knochenmagier?«, fragte er. Ein Grunzlaut und ein knorriger Finger wiesen ihn zur anderen Seite des Raumes, wo Pin eine Treppe sah. Oben stand ein Mann vor einer offenen Tür. Plötzlich war Pins Neugier geweckt und er stieg hinauf.

»Macht sechs Pence«, sagte der Mann an der Tür. »Dafür darfst du eine Frage stellen.«

»Und an wen?«

»An Madame de Bona.«

»Oh«, sagte Pin. Er konnte in den Raum hineinsehen, in dem sich bereits die Menschen drängten.

»Also, was ist?«, sagte der Mann ungeduldig. »Um acht Uhr wird die Tür geschlossen.«

Und schon fand sich Pin am hinteren Rand einer Menschenmenge in einem verdunkelten Raum wieder. Füße scharrten, überall wurde gemurmelt und Wortfetzen drangen in seine gespitzten Ohren.

»Hab schon mal gehört, wie sie die Zukunft vorhersagt, diese Frau Bona.«

»Die kann bestimmt alles sehen, wo sie doch tot ist und so.«

»Hier, hört mal her, Gott strafe mich, wenn ich lüge, aber Molly, ihr kennt doch die Molly von gegenüber, also, die hat nach ihrem armen Fred gefragt, versteht ihr, Fred, der gestern in den Foedus gefallen ist.«

»Der ist doch gestoßen worden, oder? Sollen irgendwelche Spitzel gewesen sein.«

»Egal. Jedenfalls hat diese Skelettfrau, die Bona, zu Molly gesagt, dass er glücklich wär und auf sie warten tut. Und ob ihr’s glaubt oder nicht, am nächsten Tag ist sie gestorben und ihm nachgefolgt.«

»Nein! In den Foedus?«

»Was? Nein, nicht in den Fluss, ins Grab.«

»Vom Foedus werden ja in letzter Zeit viele verschlungen, jetzt, wo sich dieser Obstkiller hier rumtreibt.«

Pin drängte sich durch die Menge nach vorn, wo er ein Podium sah. Etwa einen halben Meter von der Kante entfernt stand auf einem niedrigen Tisch ein flacher Sarg. Er war grob geschnitzt und hatte einen schlecht schließenden Deckel. Lächelnd dachte Pin an Mr Gaufridus, dessen peinlich genauem Standard dieser Sarg ganz und gar nicht entsprach. Im Hintergrund des Podiums war ein vierteiliger Wandschirm aufgebaut, hinter dem sich jemand bewegte.

Plötzlich verstummten die Leute. Ein Mann, von Kopf bis Fuß in ein schwarzes Gewand gehüllt, trat hinter dem Wandschirm hervor. An seinem Hals hielt eine Silberbrosche einen dunklen Samtumhang zusammen, der in Falten von seinen Schultern fiel. Der schwere Stoff, prächtig bestickt mit gold- und bernsteinfarbenen Ranken und Früchten, wehte ihm beim Gehen um die Füße und enthüllte ein schimmerndes scharlachrotes Innenfutter. Seine unter dem Saum des Gewands sichtbaren Schuhe waren ebenfalls aus goldenem Stoff, hatten kleine Absätze und an den aufwärtsgebogenen Spitzen Quasten, die bei jedem Schritt leise raschelten.

Der größte Teil seines Gesichts war von einer großen Kapuze verhüllt, die ihm über die Stirn fiel und seine Augen halb verbarg. Seine Brauen waren dicht und grau, und seine blasse Haut glänzte unnatürlich. Über der Oberlippe trug er einen Schnurrbart, jedes Ende eingefettet und sorgfältig zu beiden Seiten des Mundes angeordnet, an der Kinnspitze wuchs ein schmaler weißer Bart. Seine Ärmel waren so lang, dass seine Finger kaum herausschauten, wenn er die Arme seitlich herabhängen ließ, und die schmalen Handgelenke sah man nur, wenn er die Arme ausstreckte.

Dann kam eine zweite Person hinter dem Wandschirm hervor. Sie trug ebenfalls Umhang und Kapuze, doch aus einem schlicht gewebten dunklen Stoff, dessen einziger Schmuck in zwei goldenen Knebelknöpfen bestand, die ihn zusammenhielten. Diese zweite Gestalt stieg leichten Schrittes vom Podium herunter und bewegte sich langsam durch die Menge der Zuschauer, wobei sie ein kleines tropfenförmiges Fläschchen an einer Silberkette rhythmisch hin und her schwenkte. Eine süßlich duftende Wolke kringelte sich in träger Spirale aus dem schmalen Flaschenhals. Pins Herz begann zu rasen und seine Knie zitterten. Diesen Geruch kannte er.

»Herzlich willkommen«, sagte der Mann schließlich. »Mein Name ist Benedict Pantagus, ich bin der Knochenmagier.«

Загрузка...