Kapitel 13
Pins Tagebuch
Ich sitze im »Flinken Finger« in einer dunklen Ecke. Mein Geld reicht noch für ein kleines Bier, ich habe mir einen Tisch mit holpriger Platte gesichert und will versuchen, die Veranstaltung dieses Abends zu beschreiben. Was für eine Stadt der Betrügereien! Noch vor ein paar Tagen dachte ich, ich hätte das Merkwürdigste erlebt, was sie zu bieten hat. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass es eine Steigerung geben könnte. Und nun dieser Abend im »Flinken Finger«! Ich habe dieselben Leute wiedergesehen, die mich betäubt und bewusstlos in der »Cella Moribundi« zurückgelassen hatten. Kann man sich vorstellen, wie mir zumute war, als ich sie erkannte? Ich hätte doch platzen müssen vor Wut. Stattdessen wurde ich beim Einatmen des Wohlgeruchs friedlich und ruhig, um zum zweiten Mal Zeuge einer unglaublichen Vorstellung zu werden – hellwach dieses Mal und in aufrechter Stellung. Folgendes habe ich gesehen:
Nachdem sich Mr Pantagus vorgestellt hatte, kehrte er ans Kopfende des Sarges zurück.
»Ihr guten Leute«, sagte er, »Knochenmagier kann man nicht werden, als Knochenmagier wird man geboren. Ich habe die Fähigkeit, mit Toten in Kontakt zu treten, von einer langen Ahnenreihe von Magiern geerbt. Ich von meinem Vater, er von seinem und dieser wiederum von seinem. Und so durch die Jahrhunderte zurück bis in graue Vorzeit. Mag sein, dass die Welt durch den Aufstieg von Philosophie und Wissenschaft heute anders ist als früher, doch ich versichere Euch, es gibt auch in unserer Zeit noch Platz für jene, die Tote ins Leben zurückrufen können.«
An dieser Stelle gab es zustimmendes Raunen in der Menge. Mr Pantagus deutete auf den Sarg.
»Ich bin ein privilegierter Mann. Man hat mir die Betreuung dieses Sarges überantwortet, in dem das Skelett einer gewissen Madame Celestine de Bona ruht. Während ich die Zeremonie abhalten werde, die sie ins Leben zurückbringen soll, bitte ich nun um äußerste Ruhe.«
Juno, die, wie ich inzwischen wusste, die zweite Person war, löschte alle Kerzen an den Wänden. Damit bestand die einzige verbleibende Lichtquelle aus vier dicken Bienenwachskerzen, die auf hohen Eisenständern in den Ecken des Podiums brannten. Mr Pantagus entfernte den Sargdeckel und legte ihn zur Seite. Dann löste er etliche innere Verriegelungen und klappte die Seitenwände herunter, sodass sie flach auf dem Tisch lagen und der schauerliche Inhalt der Kiste zu sehen war.
Ein Raunen ging durch den Saal und wir beugten uns alle gleichzeitig vor. Stärker als unsere Furcht war die Neugier auf das, was auf dem Podium zu sehen war. Denn dort, vor den Augen der ehrfürchtigen Menge, lagen die ausgetrockneten braunen Knochen von Madame de Bona.
Überwältigt von unterschiedlichsten Gefühlen und mit vor Staunen offenem Mund sah ich zu, wie Benedict Pantagus nun etliche Gesten und Bewegungen machte, die ich sofort als haargenau die gleichen erkannte, die ich erst vor so kurzer Zeit in der »Cella Moribundi« gesehen hatte. Und wieder roch ich Zimt und Myrrhe, Anis und Wermut, während ich mit wachsender Spannung auf das Unvermeidliche wartete.
Das Skelett begann sich zu regen.
Vom Schädel bis zu den Zehen lief ein Zittern durch die fleischlose Gestalt, dass die Knochen nur so klapperten. Der Unterkiefer hing ein wenig herab, und aus dem grinsenden Mund kam ein Stöhnen, wie man es sich höchstens in Albträumen vorstellen kann, ein Laut wie aus einer anderen Welt. Die Leute schnappten nach Luft und wichen vor dem gespenstischen Wesen zurück. Aus dem Hintergrund des Raums kam ein schriller Schrei und eine junge Frau brach zusammen. Man ließ sie einfach auf dem Boden liegen, so sehr waren die Leute fasziniert.
Wenn das Skelett, wie Mr Pantagus behauptet hatte, eine Frau gewesen war, so deutete kaum mehr etwas darauf hin, höchstens vielleicht für das Auge eines Fachmanns. Langsam, wie ein Schiff auf einem Wellenkamm erscheint, hob sich ihr Oberkörper aus dem Sarg, bis sie endlich kerzengerade saß. Mit den Händen stützte sie sich auf den hinuntergeklappten Sargwänden ab, sodass ihre langen Knochenfinger gegen das Holz klickerten. Schließlich öffnete sie weit den Mund wie zu einem Gähnen, und ich sah, dass sie ein erstaunlich volles Gebiss hatte.
Mr Pantagus konnte unserer ungeteilten Aufmerksamkeit gewiss sein, als nun in der gespannten Atmosphäre seine tiefe klangvolle Stimme ertönte.
»Meine Damen und Herren, ich darf Euch die wiederbelebten Gebeine von Madame Celestine de Bona präsentieren!«
Wir nahmen diese Ankündigung als Stichwort zum Applaudieren, und das taten wir lautstark und mit unverhüllter Begeisterung. Mr Pantagus’ Bart zuckte, und ich glaube, er hat ein bisschen gelächelt.
»Vielen Dank«, sagte er freundlich und machte eine kleine Verbeugung. »Nun wollen wir rasch zu unserem eigentlichen Anliegen kommen. Madame de Bona, so lebendig und scheinbar bei guter Gesundheit, wird nicht lange bei uns bleiben. Wie Ihr wisst, ist für Euer Sixpencestück eine Frage erlaubt. Vielleicht möchtet Ihr etwas über das Schicksal eines geliebten Menschen erfahren, der ebenfalls schon aus dem Leben geschieden ist. Vielleicht habt Ihr aber auch eine Frage, die Euch selbst betrifft. Gleichgültig, worum es sich handeln mag, Madame de Bona wird sich bemühen, Antwort zu geben.«
Die Leute flüsterten miteinander, zu ängstlich, um sich direkt an diesen unheimlichen Knochenmagier und seine Skelettgefährtin zu wenden.
»Ihr werdet doch nicht schüchtern sein?«, fragte er fast scherzhaft. »Bitte denkt an Madame de Bonas Gefühle. Als sie noch lebte, war sie eine der weltbesten Wahrsagerinnen. Verwehrt ihr nicht die Freude, ihr Talent auch von jenseits des Grabes zu beweisen.«
Seine Worte schienen zu wirken, denn nun schlurfte ein junger Mann nach vorn. Seine Wangen waren gerötet. »Stimmt es, dass sie … dass diese Madame de Bona, dass sie die Zukunft vorhersagen kann?«
»Ein wiederbelebter Toter ist tatsächlich mit großem Weitblick gesegnet«, erwiderte Mr Pantagus. »Habt Ihr eine Frage an sie?«
»Sagt mir, Madame de Bona«, begann der junge Mann nervös, »werde ich mich je verlieben?«
Die Stille schien jetzt so dicht, dass man sie mit einem Messer hätte zerschneiden können. Madame de Bona neigte den Kopf zur Seite, und man konnte sich gut vorstellen, dass sie die Augen himmelwärts gerichtet und nachgedacht hätte, wenn ihre Augenhöhlen nicht leer gewesen wären. Sie drehte sich dem jungen Mann zu und antwortete mit einer Stimme, die nur aus der Unterwelt kommen konnte: »Ja.«
Dieses eine Wort erregte die Menge zutiefst. Ich kann nicht abstreiten, dass auch ich sehr bewegt war. Bevor der junge Mann Gelegenheit zu einer Reaktion fand (ich hätte gefragt: Wann?), wurde er von einem dicken, kräftigen Mann unsanft zurückgezogen. Der Dicke ging schnurstracks zum Podium und streckte die Hand aus.
»Madame …«, begann er atemlos.
Aber da runzelte Mr Pantagus die Stirn. »Madame de Bona möchte nicht angefasst werden«, unterbrach er ihn streng.
Der Mann wurde rot und wich unter vielen Entschuldigungen zurück.
»Sagt, Madame, warum wollen meine Hühner keine Eier legen?«
Madame de Bona richtete ihre leeren Augenhöhlen auf den Mann und erwiderte verächtlich: »Fragen in Bezug auf Hühner beantworte ich nicht.«
Der Mann warf Mr Pantagus einen Hilfe suchenden Blick zu, aber der zuckte nur bedauernd mit den Schultern.
Danach folgte eine Flut von Fragen zu den verschiedensten Problemen, meistens ging es dabei um die alltäglichen Sorgen, mit denen Menschen in einer Stadt wie Urbs Umida fertig werden mussten. Es gab Gelächter über Madame de Bonas Antworten, es gab erstaunte Ausrufe, Nicken und Kopfschütteln. Am Ende war die Stimmung im Saal so ausgelassen wie unten im Schankraum. Schließlich hob Mr Pantagus die Hand, der Lärm verstummte und wir lauschten gebannt jedem seiner Worte.
»Nur noch eine Frage jetzt«, sagte er. »Die Zeit geht zu Ende. Madame de Bona hat nicht mehr viel Kraft.«
Ich fand, dass eher Mr Pantagus erschöpft wirkte. Seine Stimme, anfangs tief und volltönend, klang nun angestrengt. Und da hörte ich mich auf einmal sagen: »Ich möchte etwas fragen.«
Alle Blicke hefteten sich auf mich und blieben eine Weile an mir hängen. Die Leute fanden wohl etwas Befremdliches in meinem Gesicht, wussten aber nicht genau, was.
»Madame de Bona«, sagte ich, »wo ist mein Vater? Und warum ist er verschwunden?«
»Das sind zwei Fragen«, brummte der Mann mit den legeunwilligen Hühnern.
Madame de Bona ließ sich Zeit für ihre Antwort. Schon fingen die Leute an, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten. »Der Bengel von Carpue«, hörte ich jemanden von hinten sagen und spürte, wie meine Wangen brennend rot wurden. Aber ich behielt Madame de Bona fest im Blick.
»Kind«, kam sanft die Antwort, »dein Vater ist am Leben und nicht einmal so weit entfernt, wie du glaubst. Suche weiter nach ihm und du wirst die Wahrheit finden.«
Ein Schauder überlief mich. Ich wollte, dass die Leute aufhörten zu tuscheln und mich anzustarren. Schließlich ergriff Mr Pantagus das Wort.
»Meine Damen und Herren«, sagte er schnell, »für heute Abend ist es genug. Ich bedanke mich herzlich für Euer Kommen und wir hoffen, Ihr erzählt allen Euren Freunden von uns.«
Wie auf ein Stichwort sank das Skelett langsam zurück, wobei seine Knochen ein letztes Mal klapperten, als der Schädel das Holz berührte. Die Zuschauer jubelten und klatschten. Dann wurde die Tür geöffnet und alle schoben sich aus dem Wohlgeruch des Raumes in die weniger wohlriechende Schankstube.
Ich sah, wie Mr Pantagus und Juno den Sarg eilig wieder zusammenbauten. Dann wurde mir die Sicht versperrt von Leuten, die auf das Podium traten und den Sarg kritisch musterten. Aus Neugier ging ich auch nach vorn, aber von dem Knochenmagier und dem Mädchen war keine Spur mehr zu sehen. Ich linste hinter den Wandschirm und sah dort eine Tür. Probehalber drückte ich auf die Klinke, die Tür ließ sich öffnen. Dahinter war eine Treppe. Ich ging hinunter und kam durch eine andere Tür auf eine kleine Gasse, die seitlich am »Flinken Finger« vorbeiführte. Nun hatte ich den Foedus zu meiner Linken und die Straße über die Brücke zu meiner Rechten.
Die Gasse war leer. In der frischen, kalten Luft dachte ich nach über das, was ich gesehen hatte, und auch über die Antwort, die ich bekommen hatte. Ich spürte wieder einen Funken Hoffnung in mir. Vielleicht war mein Vater ja doch noch in der Stadt. Aber mit der Hoffnung kam die Angst. Falls ich ihn tatsächlich wiedersähe, würde ich die Wahrheit erfahren. Aber wollte ich das wirklich?