Kapitel 24

Rudy Idolice

Mit einem empörten Seufzer legte Pin die letzte Nummer des Chronicle beiseite. Er griff unter die Matratze, zog ein Holzkästchen hervor und stellte es vor sich auf den Boden. Es war ein wunderschönes Stück Handwerkskunst – sein Vater hatte es eigens für ihn aus Buchenholz gemacht, ein Holz aus den dichten Wäldern außerhalb der Stadtmauern. Es war rechteckig, zwölf mal zwanzig Zentimeter, und etwa zehn Zentimeter hoch. Pin hatte es stets in Ehren gehalten und regelmäßig mit einem in Bienenwachs getauchten Lappen poliert. Das Kästchen erfüllte einerseits einen bestimmten Zweck und erinnerte ihn andererseits an seinen Vater. Anfangs hatte er es immer in seinem Beutel bei sich getragen. Aber da es ziemlich sperrig war, hatte er es, sobald er bei Mr Gaufridus angestellt war, in den Tiefen eines Schrankes im Keller sicher aufbewahrt. Jetzt, wo er in Mrs Hoadswoods Pension wohnte, war er froh, das Kästchen immer bei sich im Zimmer zu haben, wenn auch versteckt.

So meisterlich war die Tischlerkunst seines Vaters, dass die Verbindungsstellen unsichtbar ineinandergefügt waren und sich unmöglich erkennen ließ, wo das Kästchen aufhörte und wo der Deckel anfing. Pin tastete über die Kanten und brummte zufrieden, als er die richtige Stelle fand, um den Deckel zu öffnen. In dem Kästchen lag ein Bündel vergilbter Papiere und darauf sein Tagebuch. Er faltete Deodonatus’ letzten Artikel zusammen und legte ihn vorsichtig zu den anderen. Dann, als hätte er seine Meinung geändert, nahm er das ganze Bündel heraus und begann, die Zeitungsausschnitte von oben nach unten durchzublättern. Sie stammten alle aus dem Chronicle und waren bis auf einen oder zwei von Deodonatus Snoad verfasst. Der Reihe nach berichteten sie von dem Mord an Fabian. Alles kam vor, die Entdeckung der Leiche, das Verschwinden des Oscar Carpue und die Verdächtigungen, diese nie endende Unterstellung, dass Oscar der Bösewicht sei. Am letzten Artikel blieb Pin lange hängen. Dieses Machwerk ärgerte ihn ganz besonders.

Was treibt einen Mann zum Mord?

Von Deodonatus Snoad

Überlegungen zu dem berüchtigten Fall des OSCAR CARPUE und dem Mord an FABIAN MERDEGRAVE

Kopfschüttelnd und mit gerunzelter Stirn starrte Pin auf die Zeilen. Wie oft hatte er solche Artikel gelesen und wieder gelesen? War denn niemand sicher vor Deodonatus’ vergifteter Feder? Gestern war sogar Aluph erwähnt worden. Er hatte Wachtmeister Coggley geholfen, einen Toten aus dem Uferschlamm des Foedus zu ziehen. Ein weiteres Opfer des Silberapfel-Mörders. Deodonatus nannte Aluph in seinem Artikel einen »Beulen-Deuter«, was ganz und gar nicht der Bezeichnung entsprach, die Aluph immer als seinen Beruf angab. Trotzdem war Aluph nicht allzu ärgerlich, denn eine Erwähnung im Chronicle konnte seiner Meinung nach nur gut fürs Geschäft sein. Deodonatus hatte sogar angedeutet, er werde Aluphs Dienste vielleicht selbst einmal nutzen – »im Interesse seiner verehrten Leser«.

»Dieser Teufel!«, sagte Pin laut. »Der einzige Mensch, für den sich Deodonatus Snoad interessiert, heißt Deodonatus Snoad.« Niedergeschlagen verstaute er das Bündel Zeitungsartikel wieder in dem Kästchen, legte sein Tagebuch obendrauf und schloss den Deckel. Dann stieg er missmutig ins Bett. Was war das für ein Tag gewesen! Immer wieder kehrten seine aufgewühlten Gedanken zum Silberapfel-Mörder zurück. Es war eine absurde Vorstellung, dass sein Vater irgendetwas damit zu tun haben könnte!

Pin schloss die Augen und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht nur eine Leichenwache gehabt, sondern Mr Gaufridus war am Nachmittag auch noch weggerufen worden und Pin hatte alles allein machen müssen – hämmern, sägen, hobeln, bohren und zwischendurch hundertmal treppauf, treppab laufen. Anscheinend herrschte zurzeit eine Flut von Nachfragen und jeder Kunde betätigte ungeduldig die Glocke auf dem Ladentisch. Am Abend waren Pins Muskeln verkrampft und der Mund tat ihm vom vielen Reden weh.

Als es leise an seiner Tür klopfte, fuhr er auf.

»Ja?«, rief er, und Juno trat ein. Sie war in ihren Umhang gehüllt und zum Weggehen angezogen.

»Ich habe gedacht, du würdest vielleicht gern mitkommen, das Gefräßige Biest anschauen?«, sagte sie. »Sollten wir tatsächlich zusammen weggehen, musst du’s doch vorher mal gesehen haben.«

Pin lächelte. Er wusste, dass sie sich über ihn lustig machte, aber es war nicht unfreundlich gemeint.

»Keine Angst«, sagte er lachend. »Ich komm schon noch hinter euren Trick. Aber sag, müsstest du heute Abend nicht im Flinken Finger sein?«

Juno schüttelte den Kopf. »Benedict sitzt zurzeit die Kälte in den Knochen. Er sieht gar nicht gut aus.«

Du siehst selbst nicht so gut aus, dachte Pin mitfühlend. Junos ohnehin immer blasse Haut wirkte fast durchsichtig und ihre Schläfenadern schimmerten bläulich.

»Kommst du also mit?«

Pin nickte und zog seine Stiefel an. Sie hatte recht: Ob sie nun gemeinsam oder getrennt gingen, es wäre eine Schande, Urbs Umida zu verlassen, ohne sich vorher das Gefräßige Biest angeschaut zu haben. Und was das Für und Wider derartiger Attraktionen betraf – Pin hatte da durchaus seine Vorbehalte –, so würde er später darüber nachdenken.

»Schön«, sagte Juno, die bereits an der Tür stand.

Pin knöpfte seinen Mantel zu und eilte hinter ihr her.

Im Flinken Finger gönnte sich Rudy Idolice, stolzer Besitzer und Aussteller des Gefräßigen Biests, eine kurze Pause und hielt gerade ein Nickerchen auf seinem Stuhl. Eine seiner wenigen Begabungen war die Fähigkeit, in praktisch jeder Stellung und zu jeder Zeit zu schlafen.

Er passte gut auf das Tier auf, so gut wie auf alle seine Besitztümer, besonders auf die, mit denen er Geld verdiente. Gelegentlich, wenn nicht viel los war, stieg er in den Keller hinunter, stellte sich vor den Käfig und sah zu, wie die Bestie sich durch den Haufen verdorbener Abfälle fraß. Für Rudy war die Bestie immer ein Es. Er sah in ihr kein männliches oder weibliches Tier. Wäre das nämlich der Fall gewesen, wäre es ihm womöglich nicht so leicht gefallen, das Biest in der Weise zu behandeln, wie er es tat. Er sah ihm auch nicht gern direkt in die Augen, denn nicht einmal er konnte abstreiten, dass in diesem Blick etwas lag, das nicht zu der monströsen Gestalt des Wesens passte.

Rudy war schon sein Leben lang mit diesem Gewerbe vertraut, dem Gewerbe des Sonderbaren, Abstoßenden, Beängstigenden. Und je abscheulicher es war, desto glücklicher machte ihn das, denn er wusste, dass es alle Frauen und Männer ansprechen würde, egal für wie gebildet sie sich hielten. Früher hatte Rudy über einen ganzen Zirkus geherrscht. Rudy Idolices Panoptikum der kuriosen Wunder. In seinen klareren Momenten erinnerte er sich liebevoll daran. Damals war er natürlich jünger gewesen, von jugendlichem Schwung und nicht ganz so abhängig vom Alkohol.

Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs hatte er fünf Wagen und zwanzig Ausstellungsstücke besessen. Manchmal hatte er auch großspurig einundzwanzig angekündigt, je nachdem, ob er den Mann mit den zwei Köpfen als ein oder als zwei Wesen einstufte. Was für ein Anblick, wenn der mit sich selbst stritt! Und dann war da die Frau, die sich in ihren eigenen Ellbogen beißen konnte. Rudy kicherte. Die war vielleicht eine Nummer! Bevor sie auftrat, hatte er für gewöhnlich Wetten aus dem Publikum angenommen. Es gab immer jemanden, der meinte, das könne er auch. Oh, dieses Knacken von Knochen und das Ächzen und Stöhnen, wenn sie sich bei ihren Versuchen halb verrenkten. Aber die Frau – Matilda hatte sie geheißen –, die konnte das ohne Mühe. Es zerrte an den Nerven, wenn man zusah, wie sich ihre Zähne um ihren Ellbogen schlossen, aber es war gleichzeitig auf seltsame Art faszinierend. Und dann war da noch der Mann mit den drei Beinen. Rudy musste sogar jetzt noch schmunzeln, wenn er an dessen Nummer dachte. Was für ein Stepptänzer!

In dieser merkwürdigen Welt kam Rudy zu Ruhm und Geld, wie er es nie für möglich gehalten hatte. Doch wenn einer erst solche Höhen erlangt hat, ist die Chance des Falls oft genauso groß wie die des weiteren Aufstiegs. Rudy fiel. Und was war das für ein Sturz gewesen! Innerhalb von Monaten die Arbeit von zwanzig Jahren zunichte! Die Schuld gab er der Frau mit dem Bart. Bei Gott, die konnte bechern! Sie war es gewesen, die ihn an den Schnaps gewöhnt hatte, die ihm seine Geheimnisse, einschließlich der Höhe seines Vermögens, entlockt und dann die anderen Ausstellungsmonster gegen ihn aufgehetzt hatte. Was für ein Verrat! Sie verlangten mehr Geld, bessere Lebensbedingungen, Teepausen. Rudy ging auf nichts ein, er machte sich vor, die Leute würden ja wohl bei ihm bleiben und seine Fürsorge ihnen gegenüber mit ihrer Treue belohnen. Wo wären sie schließlich ohne ihn? Aber er hatte nicht mit dem zweiköpfigen Mann gerechnet. Der hörte ausnahmsweise mal auf, mit sich selbst zu streiten, steckte seine zwei Köpfe zusammen und überredete die andern, bei dem Aufstand mitzumachen. Sie packten ihre Siebensachen, schickten Rudy in die Wüste und gingen zur Konkurrenz.

Am Ende war das Biest seine Rettung gewesen. Sobald er es nur anschaute, verblüffte ihn allein der scheußliche Anblick immer wieder aufs Neue. In Wahrheit war das Biest nicht ganz so abstoßend gewesen, als Rudy ihm im Wald an einem steilen Berghang in der Nähe eines Dorfes begegnet war. Damals führte es noch ein aktiveres Leben. Die Dorfbewohner versuchten verzweifelt, es loszuwerden, weil es jede Nacht ein Schaf aus der kleinen Jocastar-Herde riss und die Wolle dieser Tiere ihre Haupteinnahmequelle bildete. Als Rudy von dem seltsamen Wesen hörte, machte er sich sofort auf den Weg zu diesem Dorf. Für Geld – weniger, als er verlangt hatte, aber doch genug, wenn er seine damaligen Verdienstmöglichkeiten bedachte – fing er das Biest, sperrte es in einen Käfig und nahm es mit.

Wohin er auch kam, überall war die Kreatur ein großer Erfolg. Rudy war nicht intelligent, er konnte kaum lesen und seinen Namen schreiben, doch er besaß ein angeborenes Gespür für die menschliche Natur. Jeder Mensch war fasziniert vom Sonderbaren, egal welcher Schicht er sich zurechnete. Jedes Mal, bevor Rudy weiterzog, schickte er einen Läufer voraus in die nächste Stadt, um ihre bevorstehende Ankunft bekannt zu machen. Oft war das nicht einmal nötig: Die Nachricht von der Abscheulichkeit des Wesens war ihm vorausgeeilt.

Nun stand Rudy Idolice im Halbdunkel vor dem Käfig und rieb sich die Hände. Es war seine Idee gewesen, die Lampen nur schwach brennen zu lassen: Das schärfte die Ohren. Im trüben Licht verbreitete das Biest noch größeren Schrecken. Man hörte sein Kauen und Schlürfen und Schnüffeln und Schnauben – und das Schaben seiner Krallen, wenn es versuchte, die Knorpelreste zwischen den Zähnen herauszupulen.

Rudy gluckste ein bisschen und beglückwünschte sich wieder einmal, während er so durch die Gitterstäbe schaute und die Münzen in seiner Tasche klimpern ließ. »Wir sind ein starkes Team, du und ich«, sagte er. »Wir machen unsere Sache gut.«

Das Schmatzen hörte auf. Das Biest schnüffelte lautstark, wälzte einen tiefen Rülpser hervor und kam dann zum vorderen Teil des Käfigs geschlurft. Rudy wich zurück.

»Meine Güte«, murmelte er, »du bist aber wirklich abgrundtief scheußlich!«

Das Biest sah ihn aus riesengroßen dunklen Augen an und blinzelte. Dann spitzte es die gummiartigen Lippen und ließ einen langen Spuckestrahl auf Rudys Stirn platschen. Rudy schrie auf, denn der Speichel brannte wie Feuer, und instinktiv wischte er sich mit der Hand über die Stirn. Ein Fehler. Seine Hand würde noch drei Tage nach fauligem Fleisch stinken.

»Du bist genauso widerlich wie diese Stadt, du Monster«, murmelte er und stieg wieder hinauf zur Bequemlichkeit seines Stuhles und zu seiner Ginflasche.

Er rieb immer noch mit einem feuchten Lappen an seiner Hand herum, als er Schritte hörte.

»Ihr schon wieder?«, sagte er zu dem Kunden und streckte die Hand nach einer Sixpencemünze aus, ehe er den Vorhang zurückzog.

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