Kapitel 31
Eine seltsame Sammlung
Mach bitte die Tür zu«, sagte Aluph und zwinkerte mit seinen hellblauen Augen.
Ohne den Blick von der grausigen Ausstellung abzuwenden, schloss Pin die Tür hinter sich. Ein Totenschädel in der Wohnung, das mochte noch hingehen, aber zweiundzwanzig Stück davon (Pin hatte sie extra zweimal gezählt), das konnte doch nur …
»Fantastisch!«, japste er.
Aluph lächelte irgendwie verlegen und gleichzeitig erfreut. »Meine ganz spezielle Sammlung«, sagte er und nahm einen Schädel aus der Mitte der Reihe. Er hielt ihn in der linken Hand und fuhr mit den Fingerspitzen der rechten über den glatten gelblichen Knochen.
»Aber woher habt Ihr die?«, fragte Pin nervös.
»Oh, mein lieber Junge«, sagte Aluph hastig, »erschrick bloß nicht! Ich versichere dir, es ist kein Verbrechen begangen worden, um in ihren Besitz zu gelangen. Ich habe sie von der Anatomieschule am Fluss bekommen – nachdem sie damit fertig waren natürlich.«
»Sie?«
»Die Ärzte«, erklärte Aluph.
»Ihr meint, nachdem sie die Leichen aufgeschnitten hatten?«
»Ja, ja«, sagte Aluph beiläufig, als handelte es sich um eine Belanglosigkeit. »Selbstverständlich nehme ich nur die, bei denen sie den Kopf nicht geöffnet haben. Ich brauche den Schädel unversehrt. Wenn die Ärzte die Leichen für ihre Vorführungen und Forschungen, oder was immer sie zur Vertiefung ihres medizinischen Wissens treiben, benutzt haben, werden sie nämlich weggeworfen. Ein Mann, den ich dort kenne, hebt die Schädel immer für mich auf. Er kocht sie natürlich vorher aus.«
»Aber was für Leute waren das?«
»Verbrecher, einer wie der andere«, antwortete Aluph nüchtern. »Entweder am Galgen gehängt oder umgekommen im Irongate-Gefängnis.«
»Ach so, natürlich«, sagte Pin. Dass die Anatomieschule die Leichen von Kriminellen benutzen durfte, um Studenten und anderen Mitgliedern des medizinischen Berufsstandes ärztliche Fähigkeiten (beziehungsweise Unfähigkeiten) vorzuführen, war in der Stadt allgemein bekannt.
Pin, der inzwischen so neugierig geworden war, dass er vortrat und einen der Schädel anfasste, fragte: »Aber was macht Ihr mit ihnen?«
»Nun«, sagte Aluph, »du weißt ja, dass ich mich mit der Wissenschaft der Schädelvermessung beschäftige. Ich kenne jeden Zentimeter von jedem dieser Schädel. Du kannst mich testen, wenn du willst.«
Pin brachte ein Lachen zustande. »Also gut, dann schließt die Augen.« Aluph gehorchte und Pin nahm einen der Totenschädel vom Regal und legte ihn in seine ausgestreckten Hände. Aluph betastete den glatten Knochen und bestimmte ihn fast augenblicklich als den siebten von links, was Pin nur bestätigen konnte. Dieses Kunststück wiederholte er nicht weniger als vier Mal mit gleicher Sicherheit und Präzision.
»Erstaunlich«, sagte Pin, und Aluph verbeugte sich.
»Und was bedeutet das hier?« Pin nahm den letzten und größten Schädel herunter. Die Oberfläche war mit schwarzer Tinte in verschiedene Felder unterteilt und jedes einzelne mit einem Buchstaben gekennzeichnet.
»Ah ja«, sagte Aluph, »diese Buchstaben bezeichnen den Sitz der verschiedenen Charaktereigenschaften eines Menschen. Fühl mal!« Er gab ihm einen Schädel und Pin fuhr mit den Fingern über das mit D gekennzeichnete Feld.
»Und nun fühl den hier«, sagte Aluph und gab ihm einen anderen.
»Oh!«, rief Pin überrascht. »Hier ist eine der Erhöhungen viel ausgeprägter als die anderen! Und was bedeutet dieser Buchstabe hier?« Er zeigte auf ein X.
»Reizbarkeit«, sagte Aluph. »Vereinfacht ausgedrückt: Man kann annehmen, dass der Eigentümer dieses Schädels ziemlich schnell in Wut geriet.«
»Vielleicht war das der Grund, weshalb er in solche Schwierigkeiten geraten ist«, meinte Pin.
»Genau«, sagte Aluph. »Siehst du, und um jeden Unterschied in der Topografie des menschlichen Schädels aufzuzeigen, möchte ich eine Sammlung anlegen. Ich weiß, dass manche über mich lachen, und vielleicht nutze ich ja tatsächlich die Dummheit der Reichen aus …«
»Nicht mehr, als sie es verdienen«, unterbrach Pin ihn spontan.
Aluph dankte für dieses Verständnis mit einem Lächeln und fuhr fort: »Aber es ist nun mal mein Lebensunterhalt und dafür entschuldige ich mich auch nicht. Außerdem hat die Sache eine durchaus ernst zu nehmende Seite. Stell dir doch nur vor: Wenn ich bereits in der Kindheit der Menschen ihre verborgenen Neigungen voraussagen könnte, wäre es mir vielleicht möglich, den einen oder anderen vor sich selbst zu retten.« Ein verschleierter Blick trat in Aluphs Augen und in diesem Moment sah Pin ihn in einem anderen Licht.
»Ihr meint, wenn Ihr feststellen könntet, dass ein Mensch schlechte Eigenschaften entwickeln wird, dann könntet Ihr ihn vielleicht ändern?«
Aluph lächelte wehmütig. »Ja, das ist meine Absicht.«
Lange und konzentriert blickte Pin auf die Reihe der Schädel. »Kennt Ihr die Verbrechen, die diese Leute begangen haben?«
»Leider, leider nicht«, sagte Aluph. »Es wäre so interessant zu sehen, wie ein bestimmter Schädel dem jeweiligen Verbrechen entspricht! – Aber ich habe dich nicht gerufen, um mit dir über Schädel zu sprechen.« Behutsam stellte er sie alle auf ihren Platz zurück und drehte dabei jeden einzelnen so, dass sie genau in dieselbe Richtung schauten. »Ich wollte dir eigentlich das hier zeigen.«
Er legte ein Stück Papier auf den Tisch und strich es glatt. Der Zettel war mit verschiedenen Schrifttypen in unterschiedlicher Größe bedruckt; außerdem gab es eine kleine, doch detailliert gezeichnete Skizze.
Pin blieb fast die Luft weg. »Oh Gott, das ist der Stock, der einen springen lässt!«