Kapitel 19

Eine unruhige Nacht

Schwer atmend folgte Pin Juno über zahllose verwinkelte Treppenaufgänge, um viele Ecken und durch eine Reihe von Gängen. Mrs Hoadswoods Pension glich in ihrem Grundriss einem Labyrinth, und bald hatte Pin keine Ahnung mehr, ob er sich in nördliche, südliche, östliche oder westliche Richtung bewegte. Endlich öffnete seine schweigsame Führerin die Tür zu einem letzten Treppenaufgang, der zu einer winzigen Dachkammer mit so niedrigen Dachschrägen führte, dass man nicht einmal in der Mitte ganz aufrecht stehen konnte.

»Da sind wir«, sagte Juno mit einem Lächeln und reichte ihm eine Kerze.

Pin hielt sie hoch und betrachtete den Raum mit neugierigem Staunen, das augenblicklich in helle Begeisterung umschlug. Zugegeben, das Zimmerchen war extrem klein, doch gerade deshalb ließ es sich von dem hell brennenden Kaminfeuer umso leichter warm halten. An der Decke gab es ein Dachfenster, doch das war zurzeit von gefrorenem Schnee bedeckt. Den Boden bildeten breite Dielenbretter aus uraltem Eichenholz. Einen großen Teil des Raumes nahm ein niedriges Holzbett ein, auf dem Wolldecken und ein dickes Kopfpolster lagen. Am Fußende auf einer Kommode war eine Waschschüssel, in der ein weißer Henkelkrug voll Wasser stand.

»Ist’s dir also recht?«

»Es ist ganz wunderbar«, sagte Pin verzückt. »Besser als alles, was ich erwarten konnte. Aber … was kostet es?«, fragte er nervös.

»Einen Shilling die Woche«, sagte Juno.

Bei Barton hatte er vier bezahlt.

»Auf dem Bett liegt ein Nachthemd und in der Kommode findest du alte Kleidungsstücke, falls du etwas brauchst.«

»Danke«, sagte Pin. Von der Nacht in der Cella Moribundi hatten sie nicht gesprochen und trotzdem spürte er, dass so etwas wie Einverständnis zwischen ihnen herrschte.

»Gern geschehen«, sagte sie lächelnd und ging ohne weitere Worte.

Pin, der plötzlich von Erschöpfung übermannt wurde, schälte sich aus seinen Kleidern, zog das dicke Nachthemd an und stieg ins Bett. Die Balken unter der Zimmerdecke waren nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, aber das störte ihn nicht. Er hatte es warm und er war satt; was konnte sich ein Junge mehr wünschen? Er schlang die Arme um seinen Körper und gratulierte sich zu seinem Glück. All diese Wochen bei Barton in Gesellschaft von Mäusen und Ratten, mit Lärm und Dreck! Da fiel ihm etwas ein, das seine Mutter oft gesagt hatte: »Leiden versüßt die Belohnung.« Sie würde sich freuen, wenn sie sähe, wie gut sich alles für ihn entwickelt hatte.

Er zog die Decke hoch und der raue Stoff unter seinem Kinn bestätigte ihm, dass dies alles tatsächlich Wirklichkeit war. Von unten hörte er die Fußbodendielen knarren und nahm an, dass die anderen ebenfalls zu Bett gingen. Seine Gedanken schweiften ab und kreisten um Sybil und Mr Pantagus, um Madame de Bona und natürlich um Juno. Vielleicht könnten sie Freunde werden, dachte er und beschloss, morgen offener mit ihr zu reden. Dann fielen ihm die Augen zu, sein Atem wurde langsamer und er schlief ein.

Im Zimmer unter ihm lag Juno ebenfalls im Bett, doch sie war hellwach. Es machte sie neugierig und nervös, dass aus heiterem Himmel dieser Junge mit den seltsamen Augen hier aufgetaucht war. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich nach der Nacht bei Sybil und der zweiten im Flinken Finger noch einmal über den Weg laufen würden. Bestimmt hat er mich wiedererkannt, überlegte sie und wälzte sich auf die andere Seite. Beim Abendessen hat er mich immer wieder angestarrt.

Juno kannte die Geschichte über Oscar Carpue – wer kannte sie nicht? Aber sie wusste auch, dass Mrs Hoadswood nicht zu denen gehörte, die einen Menschen nach den Taten anderer verurteilten, egal ob verwandt oder nicht. Sie war die Erste, die sich hinstellen und erklären würde, dass bei vielen, die im Irongate-Gefängnis einsaßen, Armut das einzige Verbrechen war.

Was sind wir nur für eine sonderbare Truppe, dachte sie. Beag und Aluph, Benedict und ich, und nun der Gehilfe eines Leichenbestatters, in dessen Vergangenheit es einen Mord gegeben hatte, auch wenn darüber zugegebenermaßen nichts Genaues bekannt war … Ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe, die Zeit verging und sie konnte trotzdem nicht einschlafen. Sie wusste, was helfen würde. Bei dem Gedanken an Benedicts Worte kämpfte sie mit sich, blieb noch einen Moment liegen und zog schließlich doch ihren Koffer hervor. Sie würde ein andermal über Benedicts Warnung nachdenken.

Pin wusste nicht genau, was ihn aufgeweckt hatte. Vielleicht ist ein Vogel auf dem Dach gelandet, dachte er. Doch was es auch sein mochte, es hatte ihm einen solchen Schreck eingejagt, dass er sich mucksmäuschenstill verhielt. Nur sein Herz schlug laut wie der Hammer eines Steineklopfers. Um ihn herum war es nahezu stockdunkel, bis auf die schwache Glut aus dem Kamin. Wo war er?

Mit einem Gefühl der Erleichterung fiel ihm Mrs Hoadswoods Pension ein. Er rollte sich zusammen, schloss die Augen und zog sich die Decke bis über die Ohren. Wenn er bloß in seine Träume zurücksinken könnte! Stattdessen begann seine Nase zu zucken und er roch etwas; einen eigenartigen, betörenden Duft, der durch die Ritzen zwischen den Dielen in sein Zimmer kroch.

Er stützte sich auf den Ellbogen und schnupperte. Leise stieg er aus dem Bett, entzündete die Kerze an der Glut und folgte seiner Nase hinaus auf den Gang und die Treppe hinunter. Im unteren Flur wurde sofort klar, woher der Geruch kam – gleich unter der gegenüberliegenden Tür quoll schwacher Rauch hervor. Pin drückte die Nase gegen das Holz der Tür. Es war ein unwiderstehlicher Duft, weshalb er, ohne groß zu überlegen, nach der Klinke griff. Ehe er sie aber niederdrücken konnte, öffnete sich die Tür, und er sah sich plötzlich einem Geist mit kalkweißem Gesicht gegenüber.

»Teufel auch!« Er wich zurück, doch dann erkannte er die Gestalt. »Fast hätte mich der Schlag getroffen! Ich habe dich für einen Schatten aus der Unterwelt gehalten.«

Juno lachte, zog ihn ins Zimmer und schloss die Tür hinter ihm. »Ich könnte mir denken, dass du bei deiner Arbeit schon mehr als genug Schatten getroffen hast.«

Pin wurde rot. Er sah sich im Zimmer um. Es war spärlich eingerichtet, dem seinen sehr ähnlich, nur größer. »Tut mir leid. Ich bin nur dem Geruch nachgegangen …«

»Ah, mein kleines Geheimnis!«

Juno trat ans Feuer, nahm den Tiegel weg und schloss ihn mit einem Deckel. Sie kniete sich auf den Boden und hielt ihre Hände über die Flammen.

»Komm her.«

Pin hockte sich neben sie. »Was verbrennst du da?«

»Kräuter«, erwiderte sie. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen glänzten, aber Pin war sich nicht sicher, ob das von der Hitze kam. Mit einem Griff unter das Bett zog sie den Koffer hervor. »Ich habe Kräuter für jeden Anlass«, sagte sie, während sie den Koffer aufklappte und Pin die Töpfchen und Päckchen darin zeigte. Sie deutete auf jedes einzelne.

»Heliotrop für Glück, Kümmelsamen für Gesundheit, Kreuzkümmel für Ruhe. Und hier Zimt und Anis …«

»Um jemanden herbeizurufen«, sagte Pin mit einem Lächeln, das Juno erwiderte.

»Und heute Abend«, fuhr sie fort, »verbrenne ich Jasmin und Lavendel mit einem Tropfen Bergamottöl. Das soll mir beim Einschlafen helfen.«

»Bestimmt hast du Gewissensbisse gehabt«, sagte Pin lachend, »wegen der Duftattacke auf mich.«

Schuldbewusst sah Juno ihn an. »Du meinst die Nacht mit Sybil und Mr Belding? Es tut mir leid, aber ich musste dir das Schlafmittel verpassen; wir durften ja nicht riskieren, dass du uns störst.«

»Es war das Ungewöhnlichste, was ich je erlebt habe«, sagte Pin. »Eine Leiche, die wieder lebendig gemacht wird.«

»Du warst also wach?«

»Nur gerade so eben. Ich bin nicht sicher, ob es vielleicht doch nur ein Traum war.«

»Glaubst du denn nicht, was du gesehen hast?«

»Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte Pin. »Aber ich weiß auch, dass es nicht wirklich so gewesen sein kann.«

»Und Madame de Bona?«

Er lachte. »Ein guter Trick.«

»Aber du hast ihr doch eine Frage gestellt. Warst du mit ihrer Antwort nicht zufrieden?«

»Wenn es nur wahr wäre! Aber ich denke, mein Vater hat die Stadt längst verlassen. Ich suche ihn schon seit Wochen.«

»Madame de Bona lügt nicht.«

Pin sah sie scharf an. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? Er kam nicht dahinter. »Ich hätte besser fragen sollen, wer meinen Onkel getötet hat. Das hätte viele Probleme gelöst. Ich möchte wissen, was Madame de Bona darauf geantwortet hätte.«

Juno grinste. »Was immer sie gesagt hätte, du wärst mit ihrer Antwort gewiss zufrieden gewesen.« Sie gähnte herzhaft und streckte sich. »Es wird dir hier gefallen«, sagte sie. »Du bist in guter Gesellschaft. Und wenn ich gehe, kannst du mein Zimmer haben. Es ist größer.«

»Du willst weggehen?«

»Erst in ein, zwei Wochen. Benedict bleibt hier, darauf besteht Mrs Hoadswood, aber ich will weg aus dieser Stadt.«

»Ich auch«, sagte Pin heftig. »Mich hält hier nichts mehr.«

»Dasselbe kann ich auch von mir sagen.« Wieder gähnte Juno.

Da stand Pin auf und ging zur Tür. Während er zusah, wie Juno die Kräuter wegräumte, schnupperte er noch einmal vorsichtig. Er wunderte sich über sich selbst, weil er enttäuscht war, dass sie nicht länger hier bleiben würde. Sie bemerkte, wie er sie beobachtete, und lächelte.

»Wir haben noch etwas gemeinsam, weißt du«, sagte sie.

»Hm?«

»Wir sind beide auf der Suche nach jemandem.«

»Also, ich suche meinen Vater«, sagte Pin. »Und du?«

»Den Mann, der meinen Vater umgebracht hat.«

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