Kapitel 22
Aluph Buncombe
Mrs Cynthia Ecclestope saß in ihrem gepolsterten Sessel mit der hohen Rückenlehne und blickte immer wieder nervös zur Uhr auf dem Kaminsims. Die goldenen Zeiger standen auf halb elf. Ihre Freundinnen waren versorgt mit Tee (ihrer ganz persönlichen Mischung) und Kuchen (am Vormittag frisch hergestellt aus den besten Zutaten, samt – unbeabsichtigt – Schweißtropfen von der Stirn des Kochs und – beabsichtigt – Spucke des Butlers). Sie saßen auf verschiedenen Stühlen und Sesseln um die Gastgeberin herum, jede mit bestmöglicher Sicht auf Cynthia. Hinter vorgehaltenen Händen plauderten sie angeregt miteinander. Gesprächsthemen waren der Leichenmagier, das Gefräßige Biest und der Silberapfel-Mörder. Die Schwierigkeit dabei: Wie sollte man einen Besuch bei den Ersteren beiden bewerkstelligen, ohne dem Dritten in die Hände zu fallen?
Um Punkt elf Uhr wurde die Tür geöffnet und der Butler trat in Begleitung eines anderen Mannes ein. Er hüstelte leise und die Damen sahen auf.
»Mr Aluph Buncombe, Eure Ladyschaft«, kündigte der Butler an, bevor er sich mit dem gewissen unterschwellig höhnischen Grinsen zurückzog, das er für so feine Gesellschaften bereithielt. Aluph blieb einen Augenblick ruhig stehen und bot den Damen somit Gelegenheit, sein Äußeres würdigen zu können: sein dichtes, dunkel glänzendes Haar und sein gewinnendes Lächeln. Er hörte, wie sie kurz nach Luft schnappten, lächelte gleich noch eine Spur strahlender und zeigte dabei seine schönen Zähne, die er kurz zuvor noch mit der Spitze eines Zweiges poliert hatte. Zum Glück hatte er in der Eingangshalle in einen Spiegel geschaut und konnte vor seinem Eintritt in den Salon noch schnell das Petersilienblättchen entfernen, das zwischen seinen Zähnen hängen geblieben war – Petersilie kauen sorgte für frischen Atem. Als Aluph den Moment für gekommen hielt, schritt er mit beneidenswertem Selbstbewusstsein auf Mrs Ecclestope zu (für die Ausstrahlung eines solchen Selbstbewusstseins hatte er stundenlang in seinem Zimmer geübt) und war mit vier Schritten bei ihr, obwohl der Raum gut sechs Meter maß.
»Ah, Mrs Ecclestope«, sagte er, »welch unvergleichliches Vergnügen, in Euer liebreizendes Angesicht zu blicken.«
Er beugte sich vor, nahm ihre Hand und küsste sie – vielleicht eine Spur zu lange, wenn man ihren Stand als verheiratete Frau bedachte, aber dieses Auftreten gehörte zu seinem unnachahmlichen Charme. Mrs Ecclestope kicherte, wurde rot und wedelte heftig mit ihrem Fächer, die Hand entzog sie ihm aber erst nach mehreren Sekunden.
»Und wer sind all die bezaubernden Damen hier?«, fragte Aluph und lächelte auf eine Art, die jeder Einzelnen das Gefühl gab, er habe nur Augen für sie allein.
»Meine geschätzten Freundinnen«, sagte Cynthia und stellte sie ihm eine nach der anderen vor. Und einer nach der anderen küsste Aluph die weiche weiße Hand und sah ihre Wangen erröten.
»Meine Damen«, sagte er, als sich alle wieder auf ihren Plätzen niedergelassen hatten, »wie Ihr wisst, bin ich Aluph Buncombe, ein Kraniologe. Mit diesen Fingern« – er hielt seine schlanken Hände hoch und spreizte die Finger – »erspüre ich die kleinsten Unebenmäßigkeiten auf einem menschlichen Schädel. Diese Täler und Gräben sind komplizierte und ausführliche Anhaltspunkte für sämtliche Aspekte Eurer Persönlichkeit, sogar für solche, die Ihr lieber geheim halten würdet. Korrekt gedeutet, enthüllen sie einem Menschen Dinge, von denen er nicht einmal selbst weiß und die auf diese Weise sogar die Zukunft aufzeigen können.«
Bei dem bloßen Gedanken blieb den Damen vor Bewunderung und Ehrfurcht die Luft weg. Verstohlen machte sich jede daran, ihren Kopf abzutasten, doch so, dass es aussah, als wollte sie Locken oder Haarnadeln in Ordnung bringen. Zweifellos fragten sie sich, wie tief genau Aluph forschen würde, denn jede wurde sich plötzlich ihrer kleinen – und nicht so kleinen – Geheimnisse bewusst.
»Nun denn, Mrs Ecclestope«, sagte Aluph, und in seiner Miene drückte sich Ernst und aufrichtige Anteilnahme aus. »Seid Ihr also, da ich Euch vor den möglichen Konsequenzen gewarnt habe, immer noch bereit, Euch auf meine Untersuchung einzulassen?«
Mrs Ecclestope lachte nervös und sah ihre Freundinnen an. Die lächelten und nickten lebhaft mit den Köpfen. Von solch offener Ermutigung bestärkt, beugte sich die Dame des Hauses ein wenig vor.
»Mr Buncombe«, sagte sie, wobei sie leicht seinen Arm berührte, »da wir nun gegen Ende des Vormittags schon so gut miteinander bekannt geworden sind, darf ich Euch wohl bitten, mich Cynthia zu nennen. Und ich bin bereit, ja.«
»Ausgezeichnet, Mrs … äh, Cynthia«, sagte Aluph. »Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren. Bitte entspannt Euch und macht es Euch bequem.«
Aluph trat an den Tisch, auf den er seine Arzttasche gestellt hatte, und öffnete sie. Er griff hinein und zog einen großen Tastzirkel aus Messing heraus. Er war spiegelblank poliert, funkelte im Licht und sah ziemlich bedrohlich aus. Ein ängstliches »Oh!« klang durch das Zimmer.
»Bitte, meine Damen«, beruhigte er sie mit erhobener Hand. »Keine Angst! Wie bei so vielen Dingen im Leben gilt auch für dieses Instrument: Hunde, die bellen, beißen nicht.«
Auf den Gesichtern der Damen zeichnete sich Ratlosigkeit über diesen Vergleich ab, und Aluph erklärte ihn eilig.
»Obwohl es einigermaßen brutal aussieht, ist es weiter nichts als ein einfaches Messgerät, das mir als Hilfsmittel bei meiner Schädelanalyse dient.«
Er stellte sich hinter Cynthia, die kerzengerade und mit fest geschlossenen Augen im Sessel saß. Mit den Händen umklammerte sie so fest die Seitenlehnen, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Aluph platzierte nun den Zirkel vorsichtig auf ihrem Kopf, stellte immer wieder neue Abstände ein und brachte die nächsten Minuten damit zu, den Kopf aus vielen unterschiedlichen Winkeln zu vermessen: von hinten nach vorn, vom Kinn bis zum Scheitel, um die Seiten herum, von Ohr zu Ohr, vom Nacken bis zum Scheitel – und, um Eindruck zu machen, noch einiges mehr. Aluph gehörte zu den entschiedenen Befürwortern der Theorie, dass man den Leuten geben sollte, wonach sie verlangten. Er schrieb jede seiner Messungen sorgfältig in sein Notizbuch und begleitete die eine oder andere Eintragung mit gemurmelten Bemerkungen wie »Aha!« oder »Ohoo!«, auch »Hmm« oder »Aaah, ja«, bis die ängstlich angespannte Verfassung seiner Zuhörerinnen den Höhepunkt erreicht hatte.
Nachdem alle Messungen abgeschlossen waren, verstaute Aluph den Tastzirkel wieder in seiner Tasche und die Damen dankten ihm mit freundlichem Applaus.
»War das alles?«, fragte Cynthia aufgeregt.
»Oh nein«, sagte Aluph lächelnd. »Wir haben ja erst begonnen.« Und er streckte die Hände aus, ließ die Knöchel knacken und legte die gespreizten Finger um Cynthias Schädel. Staunend beobachteten die Damen, wie er seine gepflegten Finger langsam über ihren Kopf bewegte. Dabei stand er sehr aufrecht mit leicht nach hinten geneigtem Kopf und geschlossenen Augen. Seine Lippen bewegten sich wortlos. Er arbeitete sehr gründlich, betastete jeden Zentimeter ihres parfümierten Kopfs und brachte es dennoch fertig, ihre beängstigend hoch aufgetürmte Frisur nicht durcheinanderzubringen. Schließlich nahm Aluph die Hände weg, trat zurück und lockerte seine Schultern. Dann kam er um den Sessel herum und wandte sich an sein Publikum.
»Die Untersuchung ist abgeschlossen«, verkündete er, und alle Damen klatschten begeistert und warteten gespannt auf seine Ergebnisse. Aluph rollte einen großen Bogen Papier auseinander und befestigte ihn an der Wand hinter sich. Auf der Schautafel waren vier Ansichten eines haarlosen menschlichen Kopfes abgebildet, die linke und rechte Seite, der Hinterkopf und die Schädeldecke. Die einzelnen Ansichten waren in mehrere unregelmäßige Felder unterteilt und diese wiederum mit je einem Großbuchstaben gekennzeichnet. Aluph nahm einen kurzen, mit einem doppelten Scharnier versehenen Zeigestab aus seiner Tasche. Mit einer eleganten Bewegung des Handgelenks schnippte er ihn auseinander und die Halterung rastete ein. Er klopfte dreimal mit dem Stab auf das Schaubild.
»Das hier«, sagte er feierlich, »ist eine Karte der wichtigen Regionen des menschlichen Schädels. Jede Region ist mit einem Buchstaben versehen und jeder Buchstabe steht für ein bestimmtes Merkmal des menschlichen Charakters. Anhand der Messungen, die ich durchgeführt habe, sowie des Betastens jedes einzelnen Areals bin ich zu einer Reihe ganz interessanter Schlussfolgerungen gelangt.«
Bis zu diesem Moment hatte er alle Damen gleichermaßen angesprochen. Nun wandte er sich an Cynthia und sah ihr in die Augen.
»Cynthia«, sagte er, »es war mir eine Ehre, Eure Schädeltopografie zu ertasten. Wäre ich Euer Ehegatte, wäre ich ein sehr stolzer Mann, denn er hat eine Frau von unbegrenzten Fähigkeiten geheiratet.«
»Ooh, Mr Buncombe«, hauchte Cynthia, die kaum Worte fand.
»Diese Erhöhung hier«, fuhr Aluph fort und zeigte auf den oberen Teil des Hinterkopfs auf der Schautafel, der mit einem T gekennzeichnet war, »ist bei Euch besonders ausgeprägt, genau wie die Stellen hier und hier, P und R.« Der Stab tippte energisch auf das Schaubild, sprang von einer Kopfansicht zur nächsten und von einem Buchstaben zum anderen. Cynthia versuchte, dem Stab zu folgen; sie legte die Hand auf ihren Kopf und tastete langsam ihren Schädel ab. Dabei gelang es ihr irgendwann schließlich doch noch, ihre Frisur teilweise zum Einsturz zu bringen. Überrascht sah sie Aluph an.
»Ihr habt ganz recht, Mr Buncombe, in der Region mit dem T ist bei mir eindeutig etwas vorhanden. Wie merkwürdig, dass ich das noch nicht gespürt habe.«
»Ihr habt nie danach getastet«, sagte Aluph schlicht.
»Aber was bedeutet das nun?«, kam eine Stimme aus der Menge, deren Besitzerin sich nicht länger beherrschen konnte.
»Ja, was bedeutet das alles?« Der Ruf wurde von den anderen Damen aufgenommen.
Aluph gestattete sich ein kleines Lächeln angesichts der Begeisterung seines Publikums. Er ließ sie ganz gern ein wenig im Ungewissen.
»Nun, die Region I gibt Aufschluss über den Verstand, und Ihr dürft versichert sein, Cynthia, dass Ihr Euch als eine geistreiche, humorvolle Dame mit dem Talent zu schlagfertigen Antworten betrachten könnt.«
»Es ist genau, wie Ihr sagt!«, staunte Mrs Cynthia. »Wie oft sagt mein Mann, der gute Arthur, dass ich ihm ein Quell großer Erheiterung bin. Und was ist mit den Regionen P und R?«
»Ah ja«, fuhr Aluph fort, der inzwischen ganz in seinem Element war. »P weist darauf hin, dass Ihr eine aufrichtige Frau seid, achtbar und mit einem Sinn für Gerechtigkeit. Ich vermute, dass Ihr äußerst verständnisvoll seid, wenn es um die Rechte anderer geht.«
Ungläubig schüttelte Cynthia den Kopf. »Mr Buncombe, Ihr verblüfft mich! Habe ich nicht erst gestern diesen Bettler weggeschickt? Er war der reinste Schandfleck in unserer Straße. Die Nachbarn waren mir so dankbar!«
»Und R verweist auf Wohlwollen, was auch Geld und Großzügigkeit einschließt. Ihr seid zweifellos eine ausgesprochen großzügige Frau, fast bis zur Schwäche, wenn Ihr mir meine Ausdrucksweise nicht übel nehmt. Schließlich ist es die Pflicht der Hausfrau, sparsam zu sein. Doch hier kommt nun T ins Spiel und die besondere Ausprägung dieser Stelle bei Euch legt nahe, dass Ihr klug und umsichtig seid, jedoch auch entschlossen handeln könnt, wenn dabei Geldangelegenheiten im Vordergrund stehen.«
Die Zuhörerinnen nahmen diese Erklärungen mit unterschiedlichen Reaktionen auf. Offenbar stimmten die meisten der guten Beurteilung zu, die Aluph ihrer Freundin aussprach. Aber hier und da wurde doch auch eine Augenbraue hochgezogen oder ein leises ungläubiges Lachen laut.
»Es gibt da noch ein anderes Feld, das mich sehr freut: das Feld E«, sagte Aluph, und Cynthia beugte sich eifrig vor. »Es ist etwas, das wir in diesen Tagen so dringend nötig haben in unserer Stadt, in der uns nachts auf den Gehwegen die Verzweiflung packt, solange dieser Mörder noch auf freiem Fuß ist. Es ist das Feld, in dem die Hoffnung angesiedelt ist. Ich muss sagen, Cynthia«, er senkte respektvoll die Stimme, »Ihr zeigt selbst im Angesicht des Unglücks eine grenzenlose Hoffnung, dass sich die Dinge bessern werden. Optimismus ist gewiss das größte Geschenk. Glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass ich Köpfe untersucht habe, in denen so viel Schwermut sitzt, wie man es sich kaum vorstellen kann. Wie erfrischend für mich, jemandem mit einem Charakter wie dem Euren zu begegnen. Das macht mich hoffnungsvoll für die Zukunft.«
Cynthia fasste diese Erklärung als Kompliment auf und wurde dementsprechend rot. Ihre Freundinnen nickten verständig, manche sogar ein wenig neidisch, und die verblüffend übereinstimmende Meinung war die, dass fast jede der Damen Mrs Ecclestopes Kopf schon vorher für ganz und gar ungewöhnlich gehalten und es nur nie ausgesprochen habe.
»Abschließend, liebe Cynthia, möchte ich Euch zu Eurem Glück und Eurem Charakter gratulieren. Ihr seid einzigartig unter den Urbs Umidanern.«
Die Wangen der guten Dame glühten regelrecht, als Aluph seine Ausführungen beendet hatte, und sie war ganz atemlos. »Oh, Mr Buncombe«, japste sie, »Ihr habt meinen Tag gerettet. Wartet nur, bis ich das Arthur erzähle. Wie wird er sich freuen zu erfahren, dass er eine so kluge Frau hat. Manchmal denke ich nämlich, dass er daran zweifelt.«
»Ich bin überzeugt, es wird eine höchst willkommene Eröffnung für ihn sein«, sagte Aluph, während er eine elegante Verbeugung machte und sich dann zurückzog.
Der Butler, der an der Tür gelauscht hatte, übergab Aluph einen Lederbeutel mit Münzen.
»Mrs Ecclestope war offenbar zufrieden«, sagte er in fragendem Ton.
»Das denke ich doch«, sagte Aluph. »Ich habe ihr vorgeschlagen, dass sich auch ihr Gatte den Kopf untersuchen lassen sollte.«
»In der Tat, Sir«, sagte der Butler unbeirrbar, »eine wirklich raffinierte Idee, wenn Ihr mich fragt. Und sich vorzustellen, dass manche Leute das alles als Q-U-A-T-S-C-H abtun!«
»Was für eine Vorstellung!«, sagte Aluph lächelnd. »Was für eine Vorstellung!«