Kapitel 18

Beag erzählt

Als ich ein Junge war, nicht viel kleiner als jetzt, wohnte ich in einem Ort am Fuß des Teufelsrückens, einem steilen, kahlen Berg. Es war eine geschützte Stelle, hinter uns der Berg und vor uns die See. Im Sommer konnte ich frühmorgens zusehen, wie die rosigen Finger der Morgendämmerung das Wasser in ein schimmerndes Rosarot verwandelten. Im Herbst hingen die dicken Wolken so tief, dass manchmal der halbe Berg darin verschwand. Im Winter war das Salzwasser immer steingrau und der Teufelsrücken weiß von Schnee. Mit Beginn des Frühlings ließ dann das Tauwetter die Flüsse anschwellen und man konnte ringsum hören, wie das Land zu neuem Leben erwachte. Ich schwöre, mir treibt es noch jetzt die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke.

Als ich älter wurde, aber nicht größer, kam das Gerücht auf, dass ich gar nicht der Sohn meiner Mutter sei, sondern ein Wechselbalg, ein Kind der Berggeister, das sie anstelle des gestohlenen echten Babys bei meinen Eltern gelassen hätten. Die Dorfbewohner waren beunruhigt und verlangten den Beweis, ob ich tatsächlich ein Kind der Geister sei oder nicht.

›Du musst auf den Cathaoir Feasa gehen‹, sagten sie.

Ganz oben auf dem schmalen Grat des Teufelsrückens war ein alter Baumstamm. Den Baum selbst, eine uralte Eiche, hatte schon vor vielen Jahren ein Blitz zerschmettert und übrig geblieben war nur der verkohlte Stumpf. Und das Merkwürdigste war, dass dieser Stumpf auf eine Weise ausgebrannt war, dass er wahrhaftig einem Thron glich, einem Thron mit allem Drum und Dran, zwei Armlehnen, vier stabilen Beinen und einer hohen Rückenlehne. Dieser hölzerne Thron wurde Cathaoir Feasa genannt – Stuhl der Erkenntnis. Die Leute glaubten, wer in der Lage sei, eine ganze Nacht von der Abend- bis zur Morgendämmerung auf dem Cathaoir Feasa zu verbringen und am nächsten Morgen aus eigener Kraft den Berg hinunterzukommen, der müsse zweifelsfrei ein Kind der Geister sein. So ein Kind werde mit der Gabe der Dichtkunst sowie mit einer ausgeprägten Reiselust gesegnet.

Meine Eltern warnten mich vor der Gefahr. Der Letzte, der auf dem Cathaoir Feasa gesessen hatte, war als nervliches Wrack zurückgekehrt. Er hatte keine Verse, sondern nur unzusammenhängendes Gestammel von sich gegeben, und gereist ist er in seinem Leben nicht weiter als bis zur Irrenanstalt. Ich will nicht leugnen, dass mir Bedenken kamen, aber ich war auch neugierig. Und so kam es, dass ich mich im fortgeschrittenen Alter von zehn Jahren von den Dorfbewohnern verabschiedete und an einem Herbsttag frühmorgens zum Teufelsrücken aufbrach. Es war frisch und ich machte mich gut gelaunt an den Aufstieg. Als ich die halbe Strecke hinter mir hatte, änderte sich das Landschaftsbild allmählich. Es war plötzlich, als hätte der Winter schon Einzug gehalten. Die wenigen Bäume, die hier wuchsen, reckten ihre kahlen Äste in den Himmel, und der Boden bestand zunehmend aus blankem Felsgestein. Der Himmel wurde grau, Regen drohte und der Wind frischte auf. Die See, herrlich blau bei meinem Aufbruch im Dorf, war nun fast schwarz und mit brandenden weißen Wellenkämmen gespickt. Mit der untergehenden Sonne sank auch meine Zuversicht.

Als der letzte Lichtstrahl hinter dem Horizont verschwand, dem Rand meiner bisher bekannten Welt, erreichte ich den Gipfel des Teufelsrückens. Was für ein trostloser Ort! Der schmale Kamm war nicht breiter als fünf Schritte, und da, mitten auf dem Weg, stand der Cathaoir Feasa. Ich erwartete, den Teufel selbst dort zu sehen, denn einen so schwarzen verkohlten Thron hat gewiss nur er verdient. Langsam ging ich darauf zu, setzte mich und hoffte das Beste.

Und das kann ich euch sagen, eine so schreckliche Nacht habe ich noch nie erlebt und ich wünsche mir keine zweite von der Sorte.

Die Natur ließ nichts unversucht, um mich von meinem Vorhaben abzubringen. Kälte sank herab und biss mit ihren rasiermesserscharfen Zähnen in meine Wangen und Zehen. Der Wind heulte mir um die Ohren und raunte abscheuliche Gedanken in mein Hirn, die jeden Mann verrückt machen würden. Ich zitterte wie Espenlaub und umklammerte in Todesangst die Armlehnen des Thronsessels, denn der Wind blies so kräftig, dass ich befürchten musste, hochgerissen und über die Bergkante geschleudert zu werden. Dann kroch zäher Nebel den Berg herauf, waberte um mich herum und wälzte sich über mich. Nach dem Nebel kam der Regen und durchnässte mich bis auf die Haut.

Ich hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte; vielleicht war eine Stunde vergangen, vielleicht waren es vier, als sich der Wind endlich legte und der Regen in leichtes Nieseln überging. Ich dachte, ich hätte das Schlimmste überstanden. Aber dann ging der Lärm los. Heulen und Rauschen, Bellen und Brüllen. Rechts und links von mir zerbarst das Holz wie unter den Schritten eines Riesen. Und ich spürte auch etwas – zweifellos strichen mir die bösen Geister übers Gesicht und drückten ihre kalten Lippen an meine Ohren. Langsam hatte ich das Gefühl, ich wäre tatsächlich drauf und dran, wahnsinnig zu werden. Ich schwöre beim dreibeinigen Hocker des großen Sängers Porick O’Lally, dass ich gespürt habe, wie Hände an meiner Kleidung rissen, wie sie an mir zupften und zerrten und versuchten, mich vom Thron zu ziehen. Meine letzte Erinnerung an diese Nacht ist der Anblick des pferdefüßigen Teufels persönlich, wie er in einem gezackten Blitzstrahl direkt vor mir stand.

Erwacht bin ich dann von der lieblichsten Melodie auf der Welt. Vogelgezwitscher. Und während ich diesem gesegneten Gesang lauschte, sah ich einen Lichtstreifen. Die Sonne brach durch die Dunkelheit, die über dem Meer hing. Ich habe gespürt, nicht gesehen, wie die Geister auf dem Bergkamm vor der aufziehenden Morgendämmerung flohen. Ein überwältigendes Glücksgefühl überkam mich und dann tiefe Erschöpfung.

Als ich endlich ins Dorf getaumelt kam, bot ich dem Empfangstrupp einen jämmerlichen Anblick. Von Kopf bis Fuß war ich durchnässt und verdreckt, meine Kleidung hing mir in Fetzen vom Leib, die Schuhe hatte mir der Sturm von den Füßen geweht und meine Haut war blutig von den Hieben, die ich die ganze Nacht über bezogen hatte.

Alle kamen herbeigelaufen, um mich zu sehen.

›Er hat’s geschafft‹, riefen sie. ›Er hat’s geschafft!‹

›Aber um welchen Preis?‹, weinte meine Mutter und führte mich nach Hause, halb tot, wie ich war. Sie steckte mich ins Bett und fütterte mich mit Eintopf und Mehlklößen. Ich fiel in ein Fieber und lag mit geschlossenen Augen da, unruhig und verwirrt. Drei Tage und drei Nächte murmelte ich vor mich hin, aber alles in einer Sprache, die niemand verstand. Am vierten Tag erwachte ich und sah meinen Vater und meine Mutter, meine Brüder und Schwestern und das halbe Dorf vor meinem Bett stehen und mich anstarren.

›Und?‹, fragte mein Vater mit vor Anspannung weißen Fingerknöcheln. ›Was hast du über dich erfahren?‹

Wörter, fremdartige Wörter drängten über meine ausgetrockneten Lippen.

›Neel ain tintawn mar duh hintawn fain.‹

›Er ist erleuchtet! Er hat die Erkenntnis gewonnen!‹, schrien alle durcheinander und klopften meinem Vater auf den Rücken.

Natürlich konnte ich als Sohn eines Berggeistes – was nun als zweifelsfrei erwiesen galt – nicht länger bleiben, wo ich war. Man erwartete von mir, dass ich in die Welt hinausziehe und mein Glück mache. So seht ihr mich also heute vor euch stehen. Und lasst es euch gesagt sein: Wenn ich auch mit Kartoffeln werfe, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, so weiß ich doch im Herzen, dass ich, Beag Hickory, eine Nacht auf dem Cathaoir Feasa überlebt habe und dafür mit der Gabe der Dichtkunst belohnt worden bin.«

Lächelnd verbeugte sich Beag, als sein Publikum in begeisterten Applaus ausbrach. Aluph Buncombe stand sogar auf und jubelte ihm zu.

»Bravo!«, rief er. »Bravo! Eine großartige Geschichte, Beag. Wenn überhaupt jemand eine Nacht auf diesem Berg übersteht, dann bist du das, davon bin ich fest überzeugt.«

»Wie wär’s mit einem der Lieder, von denen Ihr uns immer erzählt?«, schlug Mrs Hoadswood vor, und wieder leuchtete Beags Gesicht auf. Er ließ sich auch nicht lange bitten und fing an. Kaum war ein Lied beendet, stimmte er begeistert das nächste an (sein Repertoire war schier unerschöpflich), und Mr Pantagus, Aluph und gelegentlich auch Mrs Hoadswood sangen kräftig mit. Pin jedoch kämpfte ein ums andere Mal mit dem Gähnen. Juno klopfte ihm auf die Schulter.

»Komm«, sagte sie.

Pin zögerte erst, aber dann kletterte er von der Bank und folgte ihr die Treppe hinauf. Oben in der Diele, ein Stück vom Feuer entfernt, war die Luft scharf vor Kälte und er wurde sofort wieder hellwach.

»Wohin gehen wir?«, fragte er.

»Mrs Hoadswood hat gesagt, ich soll dir deine Kammer zeigen«, sagte Juno über die Schulter. Sie hatte den Flur schon zur Hälfte hinter sich gebracht.

»Dann wart auf mich!«, rief Pin hinter ihr her und rannte ihr nach.

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