Kapitel 34
In Deckung
Pin und Juno liefen über die vereisten Gehwege zu Mr Gaufridus’ Laden, und während Pin ausführlich berichtete, was er in Aluphs Zimmer gesehen und gehört hatte, wurden Junos Augen immer größer.
»Und das alles will Aluph heute Abend Coggley erzählen«, schloss er mit einer ausladenden Handbewegung.
»Coggley würde ein kleiner Schubs mit so einem Funkenstock ganz guttun«, sagte Juno lachend. »Aber wie soll das alles helfen, den Silberapfel-Mörder zu finden?«
»Also, ich hab nachgedacht«, sagte Pin. »Wenn wir herausfinden, wer solche Stöcke gekauft hat, könnten wir dem Mörder doch auf die Spur kommen.«
Juno zog die Augenbrauen hoch. »Wie sollen wir denn das anfangen?«
»Wir könnten zum Chronicle gehen«, schlug Pin vor, »und fragen, wer die Anzeige aufgegeben hat.«
Juno wirkte nicht so überzeugt. »Aber der Mörder hat ihn ja vielleicht gar nicht von der Zeitung gekauft, sondern von irgendjemandem, der schon einen hatte. Oder …«, sie zögerte einen Augenblick, »vielleicht ist ja Aluph selbst der Mörder.«
Pin lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, der ist eindeutig zu groß.«
Als sie in die Melancholy Lane einbogen, wurde Juno immer langsamer und zupfte Pin schließlich am Ärmel.
»Bist du sicher, dass Mr Gaufridus nicht da ist?«
»Ganz sicher«, sagte Pin. »Der einzige Mensch, der sich heute Nacht hier aufhält, ist ein Toter!« Trotzdem spähte er zur Sicherheit durchs Fenster des Bestattungsunternehmers, bevor er mit seinem Schlüssel die Tür aufsperrte. Dann huschten sie beide hinein, vorbei an glänzend polierten Särgen und marmornen Grabsteinen, und stiegen schließlich die Treppe zum Kellerraum hinunter, wo Pin eine Lampe anzündete. Juno sah sich in der Werkstatt um, betrachtete die Geräte auf der Werkzeugbank und die halb fertigen, aufeinandergestapelten oder an die Wand gelehnten Särge. Sie ging auf die schwarze Tür der Cella Moribundi zu, öffnete sie aber nicht.
»Wer ist da drin?«
»Albert«, sagte Pin schlicht. »Ein ziemlich großer Kerl. Sieh mal, dort ist sein Sarg. Ich musste ihn extra passend für ihn machen.« Er zeigte auf einen Sarg, der auffallend tiefer und länger war als die übrigen und fast aufrecht an der Wand stand.
»Komm«, sagte Pin, der endlich die Arbeit tun wollte, für die er bezahlt wurde. »Wir gehen rein.«
Juno hielt die Kerze hoch und folgte ihm.
»Oh, wie kalt!«, sagte sie fröstelnd.
»Man gewöhnt sich dran.« Pin entzündete die Kerzen an den Wänden, und durch die zuckenden Schatten wirkte der kleine Raum plötzlich lebendig. Albert, ein großer, kräftiger Mann, lag auf dem Tisch aufgebahrt.
Juno kam heran und betrachtete ihn aus der Nähe. »Wie ist er gestorben?«
»Sein Pferd hat ihn gegen den Kopf getreten«, sagte Pin. »Aber man sieht es ihm nicht an. Mr Gaufridus hat gute Arbeit geleistet.«
Das hatte er allerdings. Wenn man die unerträglichen Schmerzen bedenkt, die Mr Albert H. Hambley unmittelbar vor seinem Tode gequält haben mussten, sah er überraschend friedlich aus. Juno wandte ihre Aufmerksamkeit den Schränken und Schubladen zu, öffnete und schloss sie, nahm Sachen heraus und stellte Pin dabei alle möglichen Fragen. Er antwortete bereitwillig, während er hinter ihr herging und dabei alles wieder an Ort und Stelle legte.
»Wie weit bist du übrigens mit der Lösung des Geheimnisses der Leichenmagie?«, fragte sie unvermittelt und schwang eine Eisenzange durch die Luft.
Pin sah sie von der Seite an, während er die Einstichnadeln in der Schublade wieder nach Länge und Stärke ordnete. »Ich hab noch nicht aufgegeben, weißt du? Glaub mir, ich geh mit dir.«
»Vielleicht liegt die Antwort ja direkt vor deiner Nase«, sagte Juno leichthin und irgendwie rätselhaft.
Pin sah auf. »Wie meinst du das?«
»Wirst schon sehen.«
Sie will, dass ich ihr Geheimnis herausfinde, dachte Pin aufgeregt, doch als er nachhakte, weigerte sie sich, mehr zu verraten. Sie stöberte weiter in den Schränken, und am Ende kamen Pin Bedenken. »Ich finde, du solltest das lassen«, sagte er. »Manche von diesen Schränken sind privat. An die geh nicht mal ich dran.«
»Na schön«, sagte Juno, »aber sieh dir mal das hier an. Es war nicht im Schrank; ich hab’s dahinter gefunden.«
Sie hielt einen aufwendig gearbeiteten Gegenstand hoch, und Pin wurde blass und wich einen Schritt zurück.
»Was ist das?«, fragte Juno. »Was hast du denn?«
Pin spürte, wie sich das Herz in seinem Brustkorb verkrampfte.
»Teufel auch!«, flüsterte er. »Das ist ein Funkenstock!«
Sie verstummten für einen Augenblick, und gleichzeitig begriffen sie auch, was diese unbeabsichtigte Entdeckung womöglich bedeutete.
»Oh Gott«, sagte Juno leise. »Meinst du, dass …«
Doch bevor sie ausreden konnte, ließ sie das Geräusch von Schritten im Raum über ihnen aufblicken.
»Mr Gaufridus«, flüsterte Pin. »Das kann nur Mr Gaufridus sein. Schnell! Wir müssen uns verstecken.«
Hastig steckte Juno den Funkenstock wieder hinter den Schrank. Dann fasste Pin sie am Arm und zog sie in die Werkstatt. Dort drückte er sie in den nächstbesten Sarg – zufälligerweise den von Mr Albert H. Hambley – und konnte gerade noch den Deckel an seinen Platz schieben, bevor die Tür aufging.
Von sämtlichen Särgen im Raum hatte Pin mit Sicherheit den gewählt, der sich am besten als Versteck eignete. Seine Geräumigkeit ließ es zu, dass er und Juno bequem nebeneinander Platz fanden. Der Deckel schloss fest und Pin schickte ein stilles Dankgebet zum Himmel, dass er tagsüber Zeit gefunden hatte, die Löcher für das Namensschild und die Griffe zu bohren. Auf diese Weise konnte nicht nur frische, kalte Luft eindringen, sondern er und Juno konnten auch in die Werkstatt sehen.
Tatsächlich war es Mr Gaufridus, der nun den Raum betrat. Er widmete sich zuerst jener Art von Verrichtungen, die man lieber tut, wenn man sich allein glaubt. Er bohrte in der Nase, kratzte sich unter den Armen und zupfte an seiner Unterwäsche herum, die ihm in letzter Zeit oft verrutschte. Nachdem er sich und seine Kleidung in Ordnung gebracht hatte, ging er jedoch geradewegs zur Cella Moribundi.
»Pin«, rief er, »bist du drin?« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
»Ich glaube, ich muss niesen«, raunte Juno. »Es ist so staubig.«
Pin wühlte in seiner Tasche und suchte sein Taschentuch.
»Halt dir das vor die Nase«, sagte er und drückte es ihr in der Dunkelheit in die Hand.
»Können wir uns nicht noch schnell davonmachen?« Junos Stimme klang tief und gedämpft.
»Ich weiß nicht, ob wir Zeit dazu haben.«
Pin hatte recht, denn genau in diesem Moment erschien Mr Gaufridus mit einem Gegenstand in der Hand – unverkennbar der Funkenstock. Pin spürte, wie sich Junos Hand fest um seine schloss, und ahnte, dass sie ihn ebenfalls gesehen hatte. Direkt vor ihrem Sarg blieb Mr Gaufridus stehen, und obwohl sein Gesichtsausdruck nichts preisgab, vermutete Pin, dass er sich wahrscheinlich fragte, warum der Deckel geschlossen sei. Juno kniff die Augen zusammen und rechnete damit, dass jede Sekunde der Deckel entfernt würde. Doch Mr Gaufridus schüttelte nur den Kopf und ging zur Werkbank, wo er den Stock gründlich in Augenschein nahm. Dann hielt er ihn hoch und drehte routiniert den Griff. Entsetzt sahen Pin und Juno, wie nach einer Weile Funken durch den Raum flogen. Im Nu war jeder womöglich noch vorhandene Zweifel verschwunden. Beide waren nun endgültig überzeugt, dass sie sich im selben Zimmer mit dem Silberapfel-Mörder befänden.
Und da geschah das Undenkbare. Pin musste husten. Ein schwaches Husten nur, im Grunde genommen kaum wahrnehmbar. Mr Gaufridus hatte es nicht gehört. Auch das zweite hörte er nicht. Erst das dritte, das lauteste Husten, wurde zum Problem.
Wie hypnotisiert starrte Mr Gaufridus den Sarg an. Langsam ging er darauf zu, wobei er den Funkenstock schwang. Juno und Pin waren in ihrem makabren Versteck vollkommen wehrlos. Mr Gaufridus kam näher und näher. Pin wartete, bis nur noch ein Schritt fehlte, dann versetzte er dem Sargdeckel einen derben Tritt. Mr Gaufridus stürzte rückwärts gegen die Werkbank, und zum ersten Mal, seit Pin ihn kannte, wirkte sein Gesichtsausdruck leicht erstaunt.
»Lauf!«, schrie Pin und zerrte Juno an ihrem Umhang aus dem Sarg. »Lauf um dein Leben!«
Ein paar Straßen weiter hatte es Aluph Buncombe mindestens genauso eilig. Dabei sprach er ärgerlich mit sich selbst und fuchtelte bekräftigend mit dem Finger. »Nie wieder!«, rief er ein ums andere Mal. »Nie wieder!«
Als er in die Squid’s Gate Alley einbog und mehr oder weniger auf die Pension zurannte, hatte er sein Vorhaben, Coggley zu besuchen, längst vergessen. Er schloss auf und fand, dass er noch nie mit solcher Erleichterung durch diese Tür gegangen sei wie heute Abend. Mit vier langen Schritten war er die Treppe zur Küche hinunter. Beag, Benedict und Mrs Hoadswood hoben gleichzeitig die Köpfe.
»Donnerwetter!«, stöhnte Aluph wie befreit. »Was bin ich froh, euch zu sehen!«
»Mr Buncombe«, rief Mrs Hoadswood, »ist alles in Ordnung mit Euch?«
»Vielleicht hat er ja einer seiner schönen Damen mal ausnahmsweise die Wahrheit gesagt«, begann Beag zu sticheln, während er sich von den Resten einer Schweinebratenplatte nahm. Doch als er die aufgelöste Verfassung seines Freundes und dessen Gesichtsausdruck sah, verstummte er.
Aluph ließ sich mit einer theatralischen Geste halb über die Tischplatte fallen. »Wenn es doch eine schöne Dame gewesen wäre, Beag!«, sagte er. »Wenn nur! Ihr werdet nicht glauben, was ich durchgemacht habe.«
»Erzählt«, sagte Benedict, der neben dem Feuer saß, und beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Eine gute Geschichte hört man in diesem Haus immer gern.«
Aluph schüttelte seinen langen Mantel von den Schultern und breitete ihn sorgfältig über eine Stuhllehne. (Wie immer die Umstände auch sein mochten, er ließ ihn nie einfach fallen, sondern legte ihn stets ordentlich gefaltet hin.) »Also«, begann er, »ich hatte einen Auftrag, und zwar ausgerechnet von Deodonatus Snoad. Ich sollte seinen Schädel abtasten und ihm die Zukunft vorhersagen. Natürlich habe ich angenommen. Ich stellte es mir interessant vor. Doch inzwischen denke ich, ich kann von Glück sagen, dass ich lebendig wieder aus seiner Wohnung gekommen bin. Dieser Mann ist ein Wahnsinniger!«
»Hmm«, meinte Beag nachdenklich. »Irgendwie überspannt habe ich ihn schon immer gefunden, aber wahnsinnig? Vielleicht verbirgt er ja sein wahres Ich hinter dem geschriebenen Wort.«
»Man muss nur dankbar sein, dass er sich selbst verbirgt«, sagte Aluph aus tiefster Seele und dabei sichtlich schaudernd.
»Was meint Ihr denn damit?«, fragte Mrs Hoadswood und hörte auf zu rühren.
Aluph zupfte sein Halstuch zurecht. »Nun, einen seltsameren Kerl habe ich noch nie gesehen. Er sorgt dafür, dass sein Zimmer stets dunkel ist, und auch von sich selbst lässt er so gut wie nichts sehen. Aber ich bin ziemlich schnell dahintergekommen, warum. Der Mann ist ein Monster. Der gehört in denselben Käfig wie das Gefräßige Biest.« Mit einer dramatischen Geste fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und hinterließ dabei einen glänzenden Schmierer.
»Was habt Ihr da am Kopf?«, fragte Benedict.
Mrs Hoadswood kam näher, um besser sehen zu können. »Es ist dasselbe Zeug wie an Eurem Hosenbein!«
»Tinte wahrscheinlich«, winkte Aluph ab, der viel mehr darauf brannte, seine Leidensgeschichte weiterzuerzählen. »Nein, so ein unangenehmer Mensch!«
Doch bevor er den Faden wieder aufnehmen konnte, krachte und polterte es auf der Treppe und einen Augenblick später kam Juno in die Küche gestürmt.
»Hilfe! Ich brauche Hilfe! Pin wird gerade vom Silberapfel-Mörder überfallen!«
Im Nu leerte sich die Küche. Alles rannte hinaus auf die Straße, wo tatsächlich Pin am Boden lag und mit Mr Gaufridus rang. Beag stürzte sich ins Getümmel und packte den Mann bei den Armen, während Aluph ein Bein zu fassen bekam. Pin sprang auf die Füße und stand nun über seinem Arbeitgeber, der ein wenig verblüfft (oder wütend?) aussah. Pin hielt ihm den Funkenstock unter die Nase.
»Schaut her!«, verkündete Pin mit einer jener schwungvollen Gesten, die Aluph gern auf der anderen Flussseite einsetzte. »Der Silberapfel-Mörder!«
Mr Gaufridus rappelte sich mühsam auf.
»Wenn ich nur einen Moment reden dürfte«, sprudelte er hervor. »Vielleicht kann ich alles erklären.«
Beag sah ihn mit einer seiner gefährlichen Kartoffeln in der Hand scharf an. »Redet also!«
»Ich bin nicht der Mörder«, behauptete Mr Gaufridus. »Ich stelle diese Funkenstöcke nur her.«